# taz.de -- Norbert Röttgen zum Ukraine-Krieg: „Die Uhr tickt“ | |
> Der CDU-Außenpolitiker fordert ein Energie-Embargo gegen Russland und | |
> kritisiert Wirtschaftsminister Robert Habeck scharf. Dieser handele | |
> unentschlossen. | |
Bild: Der CDU-Außenpolitiker fordert ein sofortiges Energie-Embargo | |
taz: Herr Röttgen, „Wir waren eine Nachkriegswelt, jetzt sind wir eine | |
Vorkriegswelt“, so hat der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev | |
den Einschnitt durch den Angriffskrieg in der Ukraine beschrieben. Was | |
sagen Sie? | |
Norbert Röttgen: Wir leben in einer Welt, in die der Krieg als Mittel der | |
Politik zurückgekehrt ist. Der Starke missbraucht seine Macht und ignoriert | |
das Recht des vermeintlich Schwächeren selbst zu entscheiden, wie er leben | |
und mit wem er sich verbünden will. Es liegt jetzt in unserer | |
Verantwortung, dass wir auch nicht den geringsten [1][Erfolg dieser Methode | |
zulassen], sondern dass sie geächtet und abgewehrt wird. | |
Sie haben kürzlich gesagt, Sie wünschten der deutschen Politik einen | |
Bruchteil des Mutes der Ukrainer. Agiert die Bundesregierung aus Ihrer | |
Sicht feige? | |
Wenn man den nötigen Mut nicht aufbringt, ist man noch nicht feige. Es | |
erfordert Mut, sich einzugestehen, was der Krieg auch für uns bedeutet und | |
dass wir eigene Nachteile und Risiken eingehen müssen, um unseren Frieden | |
und unsere Freiheit zu schützen. | |
Und was die Bundesregierung eingeht, reicht nicht? | |
Die Frage ist doch, was wir tun sollten, um diesen Krieg zu einem Ende zu | |
führen. Ich meine, wir sollten alles tun, was wir können, außer selbst | |
Krieg zu führen. Dazu zählt dann auch ein Energie-Embargo. | |
Das heißt, Sie wollen sofort und vollständig den Bezug von Gas, Öl und | |
Kohle aus Russland stoppen. | |
Ich glaube, dass es anstrengend, aber machbar ist, und darum sollten wir es | |
tun. Doch stattdessen breitet der Wirtschaftsminister | |
Katastrophenszenarien aus. Ich erwarte von ihm, dass er erklärt, was | |
wirtschaftlich geht, [2][wie seine Substitutionsstrategie ist] und was er | |
tut, um einen deutschen Beitrag zur Beendigung dieses Krieges zu leisten. | |
Robert Habeck sagt, die Folgen eines solchen Sofortembargos wären | |
Lieferengpässe, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Armut. Sehen Sie | |
diese Gefahr nicht? | |
In der Ukraine werden die Menschen zerbombt und unser Vizekanzler | |
beschreibt das Elend in Deutschland. Die überwiegende Mehrheit der Ökonomen | |
spricht zwar von einer immensen Herausforderung, doch keiner von ihnen | |
erwartet solche Szenarien. Sicher wird es Einschränkungen in der | |
Wirtschaftsleistung geben, doch sie liegen nach den Projektionen deutlich | |
unterhalb derer der Pandemie. | |
Habeck spricht von bis zu fünf Prozent. | |
Die Prognosen liegen zwischen 0,5 und 3 Prozent. Fest steht: Wir kommen bis | |
zum nächsten Winter. Das heißt, es gibt Zeit und Möglichkeiten zu | |
substituieren. Es wird Engpässe geben, mit denen muss man umgehen. Ich | |
wünsche mir, dass der Minister das so rational und faktenbasiert dargelegt, | |
wie Ökonomen es tun. Diese Katastrophenszenarien sind deplatziert und | |
geradezu eine Einladung an Putin, sie von sich aus gegen uns einzusetzen. | |
Habeck sagt auch, dass wir die Sanktionen möglicherweise mehrere Jahre | |
durchhalten müssen. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass wir das bei | |
überstürztem Handeln nicht schaffen? | |
Es ist selbstverständlich, dass wir eine nachhaltige Strategie brauchen. | |
Habeck spricht selbst von einer möglichen Abkopplung von russischer Kohle | |
und russischem Öl bis Ende des Jahres. Offensichtlich gibt es hier also | |
kurzfristigen Handlungsspielraum. | |
Sie sind dafür, auch das Gas sofort zu kappen, wovon wir besonders abhängig | |
sind. | |
So wird es kommen. Putin geht jetzt zu einem Zerstörungs- und | |
Vernichtungskrieg über. Die Leiden der Ukrainer werden noch verheerender | |
werden. Sehr bald wird ein Punkt erreicht sein, an dem in Europa niemand | |
mehr bereit ist, diese Kriegsverbrechen mit 600 Millionen Euro täglich zu | |
finanzieren. Der Druck auf die Bundesregierung wird wachsen, wie das schon | |
bei Swift und der Frage nach Waffenlieferungen war. | |
Ihre Fraktion fordert, Nord Stream 1 abzuschalten. Macht das Sinn? | |
Ich unterstütze das, es ist ja Teil meiner Forderung. Damit wäre das ganze | |
Nord-Stream-Kapitel beendet. | |
Warum sind Sie so sicher, dass die Unterstützung der Bevölkerung hält? | |
Jetzt schon regen sich alle über die hohen Spritpreise auf. Habeck warnt | |
auch vor massiven gesellschaftlichen Verwerfungen und einer Gefahr für die | |
Demokratie – was im Sinne Putins wäre. | |
Ich bin über diese Argumentation entsetzt. Jeder muss angesichts dieses | |
brutalen Angriffskriegs seine Verantwortung definieren. Ist es denn die | |
[3][Verantwortung des Wirtschaftsministers], den Leuten jeden Tag zu sagen, | |
dass sie in Aufruhr geraten werden und ihnen die Empathie fehlt? Dass die | |
Gelbwesten bestimmt morgen kommen, wenn die Preise weiter steigen? Oder | |
liegt die Verantwortung nicht viel mehr darin, den Menschen zu erklären, | |
dass uns eine schwierige Zeit bevorsteht, die dann noch viel schwieriger | |
wird, wenn Putin gewinnt. Herr Habeck sollte auch diese Kosten einmal | |
darlegen. | |
Sanktionen wirken besser, wenn man ihr Ziel benennt, also auch den | |
Zeitpunkt, wann sie zurückgenommen werden. Was ist aus Ihrer Sicht das Ziel | |
der Sanktionen? | |
Das Ziel ist, die russische Wirtschaft möglichst umfassend und hart zu | |
treffen. Um einen Beitrag dazu zu leisten, dass der Krieg Russland | |
wirtschaftlich erschöpft und die russische Bevölkerung nicht mehr bereit | |
ist, diesen Krieg zu unterstützen. | |
Wäre es nicht sinnvoll, die Oligarchen stärker unter Druck zu setzen, in | |
der Hoffnung, dass sie sich gegen Putin wenden? | |
Harte, persönliche Sanktionen gegen die russische Herrschaftselite gehören | |
dazu. Jede beschlagnahmte Jacht ist ein Zeichen gegen den Krieg. Doch ein | |
Aufstand der Oligarchen gegen Putin ist zu bezweifeln. | |
Gäbe es überhaupt die Möglichkeit, dies zu tun? Es zeigt sich ja jetzt, wie | |
schwierig ein Vorgehen gegen die Oligarchen ist. Hätte die Bundesregierung | |
daran nicht spätestens seit der Annexion der Krim etwas ändern müssen? | |
Ja, die Gesetzgebung gegen Geldwäsche und Kleptokratie hätte in ganz Europa | |
verschärft und die Umsetzung verbessert werden müssen, spätestens seit | |
2014. | |
Was halten Sie von einer „Friedensmission“ der Nato, die Polen jetzt | |
gefordert hat? | |
Das bedeutet, dass die Nato in den Krieg mit der Atommacht Russland ziehen | |
würde. Unvorstellbar und verantwortungslos. | |
Wir haben jetzt Putins Krieg und seine Drohung, Atomwaffen einzusetzen. | |
Zudem besteht die Gefahr, dass der nächste US-Präsident wieder Trump heißt. | |
Was heißt das für Deutschland und Europa? | |
Dass die Uhr tickt. Es kann sein, dass es bei einer russischen Aggression | |
bleibt, sich der Systemwettbewerb mit und die Abhängigkeit von China | |
intensiviert, und dass die USA in einer weiteren Amtszeit von Donald Trump | |
nicht mehr bereit sind, als europäische Schutzmacht zu fungieren. Wir | |
müssen diese verbleibenden zweieinhalb Jahre, das ist wahnsinnig wenig | |
Zeit, nutzen, um Europa selbst verteidigungsfähig – im politischen, | |
ökonomischen und militärischen Sinn – zu machen. | |
Wie ernst nehmen Sie Putins Drohung, Atomwaffen einzusetzen? | |
Ich sehe sie als Teil einer Einschüchterungstaktik. Es dient Putins Zielen | |
nicht, sich militärisch mit 30 Staaten, darunter den USA, anzulegen. | |
Wie kann Putin einen Weg aus diesem Krieg finden? | |
Für Putin gibt es keinen Weg zurück, er muss gewinnen. | |
Und was heißt das, wenn er gewinnt? | |
Ich glaube, wirklich gewinnen kann er nicht mehr. Er kann zerstören. | |
Soziokulturell hat er schon das glatte Gegenteil seines Unternehmens | |
erreicht, er hat die Ukraine als Nation zementiert, wie sie es in ihrer | |
Geschichte wahrscheinlich noch nie war. Er hat jetzt über 40 Millionen | |
Ukrainer gegen sich. Ein Land, das bereit ist, mit jedem Mann und jeder | |
Frau zu kämpfen, ist nicht zu erobern oder zu kontrollieren. | |
Eine Verhandlungslösung können Sie sich nicht vorstellen. | |
Wie sollte die denn aussehen? Dass die Ukraine sich diesem Angriffskrieg | |
fügt und einen Teil des Landes abgibt? Welche glaubwürdigen | |
Sicherheitsgarantien kann Russland der Ukraine überhaupt geben? Ich kann | |
mir nicht vorstellen, dass Putin genug bekommt, um diesen Krieg | |
propagandistisch zu rechtfertigen. | |
Wir haben jetzt 30 Jahre lang in einer Friedensordnung gelebt, deren | |
Grundlage Kooperation, Gespräche und Kompromisse waren. Wie könnte die neue | |
Ordnung aussehen, die nach diesem Krieg kommt? | |
Also ich würde eher von 25 Jahren sprechen. 2014 war klar, Russland | |
akzeptiert diese Ordnung nicht mehr, ist aggressiv und destruktiv. Nach | |
diesem Krieg müssen die Europäer über Europa anders denken und handeln als | |
bislang. Wir müssen eine neue, weitergehende Idee von Europa entwickeln, zu | |
der die Länder zwischen der EU und Russland gehören. Und es muss klar sein, | |
dass auch Russland Teil dieser europäischen Friedensordnung ist. Doch so | |
lange, wie es [4][bei seiner aggressiven Außenpolitik] bleibt, wird die | |
Idee von Europa darin bestehen, Sicherheit gegen Russland zu suchen. In dem | |
Augenblick, in dem sich das in Russland wandelt, sollte die Tür geöffnet | |
sein. | |
Und bis dahin gibt es eine Aufrüstungsspirale. | |
Das ist zu befürchten. | |
Angela Merkel sagt man nach, sie habe die Dinge immer vom Ende her gedacht | |
– bei Russland hat das nicht funktioniert. Hat sie zu sehr auf | |
Verständigung gesetzt? Von der Abhängigkeit von russischen Gas ganz zu | |
schweigen. Ist ihre Russlandpolitik gescheitert? | |
Das, was wir jetzt über die Energieabhängigkeit von Russland oder den | |
Charakter von Nord Stream 2 als politische Waffe gegen die Ukraine | |
feststellen, war lange zu sehen. Aber wenn man diese Realität annimmt, hat | |
das eben Konsequenzen. Anstrengende Konsequenzen. Nord Stream 2 war keine | |
Erfindung von Angela Merkel. Aber die Koalition hat das Projekt laufen | |
lassen. | |
17 Mar 2022 | |
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