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# taz.de -- Prekäre Mitarbeiter im Callcenter: Lügen auf Allah für Max Muste…
> Unser Autor hat wegen eines annullierten Fluges zwei Jahre mit
> Callcenter-Mitarbeitern zu tun gehabt. Er wollte trotz der Lügen
> menschlich bleiben.
Bild: Lügen, Lügen
Angefangen hat alles mit einem [1][annullierten Flug], den ich kurz vor
Beginn der pandemischen Krise im Jahr 2020 über das Reiseportal Opodo
gebucht hatte. Schnell stellte sich heraus: Opodos Rückerstattungspolitik
funktioniert nach darwinistischen Regeln. Man kann eigentlich nicht viel
gegen die Gier solcher Unternehmen tun.
Ich machte also das Beste daraus und rief in den vergangenen zwei Jahren
unregelmäßig im Servicecenter an, um nachzufragen, ob es Neuigkeiten rund
um die mir zustehende Erstattung gibt. Weil sich bei mir schnell die
Gewissheit durchsetzte, dass [2][Opodo das Geld nie herausrücken wird],
deutete ich den Griff zum Telefon in meinem Kopf als Möglichkeit um, neue
Kurzzeitbekanntschaften zu schließen.
Ich hatte zwischendurch zum Beispiel einen super cuten Ägypter an der
Strippe, der irgendwo unweit vom Nil zum Hörer gegriffen hatte. Zuerst
sprach er mit mir auf Deutsch, und als ich geschickt ein wallah
zwischendurch platzierte, sagte er sanft auf Arabisch: „Bruder! Ich schwöre
auf Allah, dass ich mich innerhalb von 14 Tagen kümmern werde.“ Ich wusste,
dass es nicht stimmt, dass er sich nicht kümmern würde. Drei andere
Angestellte hatten mir in den Monaten zuvor versprochen, dass sie sich
innerhalb von 14 Tagen kümmern würden. Sie kümmerten sich nie.
Als ich dem ägyptischen Mitarbeiter schilderte, dass ich im Namen von Opodo
stets angelogen werde, änderte sich seine Stimme. Sie wurde sanft, seine
Worte waren verständnisvoll. Er sehe, dass die Airline wenige Monate nach
der Annullierung Opodo das Geld überwiesen habe, er werden noch am selben
Tag mit seinem Vorgesetzten sprechen. Er hat auf Allah geschworen. Ich
spürte die menschliche Connection zu ihm. Das ist nun auch mehr als acht
Monate her.
## Kundschaft anlügen zum Mindestlohn
Ich kenne überall auf der Welt [3][Menschen, die in Callcentern arbeiten]
und die Kundschaft in Europa oder Nordamerika für Mobilfunkanbieter oder
Airlines hinhalten sollen. In Indien, in Albanien, in Ägypten oder Marokko
gilt dieser harte Job als Chance. Junge Menschen nehmen Schulden auf und
geben das Geld beim lokalen Goethe-Institut aus, um Deutsch zu pauken, Max
und Erika Mustermann geduldig zuzuhören und sie anzulügen, dass man sich
kümmere.
Wenn die Callcenter-Angestellten Glück haben, bekommen sie dafür den
lokalen Mindestlohn, mit dem sie die Sprachkursschulden nur schwer
zurückzahlen können. Neulich habe ich es über die Chatfunktion in der
Opodo-App probiert. Ich bin ja für Neues offen. Eine Mitarbeiterin stellte
sich mit einem indischen Namen vor. Sie kopierte Floskeln in den Chat, dass
sie sich kümmern werde, innerhalb von 14 Tagen und so weiter. Ich merkte,
wie schwer es mir fiel, ohne eine sanfte Stimme am Hörer menschlich zu
bleiben. Ich musste mich selbst daran erinnern, wie wichtig es ist,
Mitarbeitenden in den Callcentern des westlichen Kapitalismus mit Respekt
zu begegnen und sie nicht mit dem gierigen Arbeitgeber zu verwechseln.
31 Mar 2022
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## AUTOREN
Mohamed Amjahid
## TAGS
Kolumne Die Nafrichten
Call Center
Schwerpunkt Coronavirus
Flug
IG
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Lieferdienste
Lesestück Recherche und Reportage
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