# taz.de -- Kenntnisse des Klinkenputzers: Verkaufen ist Kunst! | |
> Eine vergnügliche Zeitreise durch die Welt der Hausierer und Vertreter – | |
> unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der teuren Kundschaft. | |
Bild: Reichen Zahlen und Fakten? Oder muss der Vertreter noch tiefer in seine V… | |
Jedes Jahr erschien im Vogelsberg ein Hausierer – so nannte dieser | |
Firmenvertreter sich noch –, der bei den Buch- und Schreibwarenläden | |
Bestellungen für Papierwaren aller Art aufnahm. Auf dem Erlebnisberg | |
Hoherodskopf angekommen, parkte er, rauchte eine und sah die Karteikarten | |
seiner Kunden in der Region durch: Was für Bestellungen hatten sie beim | |
letzten Mal getätigt, worüber hatte er mit ihnen gesprochen – über die | |
Schwägerin, die in den Laden mit einsteigen wollte, über ihren Sohn, ihre | |
Großmutter, den Garten, ihre Geranien … | |
Er hieß Lambertz, kam aus Frankfurt und löste erst einmal sein aktuelles | |
„Travelling Salesman Problem“, das heißt er suchte die günstigste Strecke, | |
um alle Läden nacheinander aufzusuchen (mathematisch gelöst wurde dieses | |
Problem erst später von einem indischen Mathematiker, der damit reich | |
wurde, denn für Spediteure und Öltanker-Flotten war seine Formel Gold | |
wert). | |
Wenn Herr Lambertz in die Läden kam mit seinen neuesten Angeboten, wurde er | |
regelmäßig mit den Worten empfangen: „Schön, dass sie wieder da sind. Grad | |
haben wir von Ihnen geredet.“ Das überzeugte ihn davon, dass er sich vom | |
höchsten Berg aus mit Empathie als eine Art sechster Sinn auf die Kunden in | |
den Tälern eingetunt hatte, was – so Lambertz – wesentlich zu seinen | |
Verkaufserfolgen beitrage, denn wenn man etwa zu einer Ladenbesitzerin | |
komme und sie frage, ob ihr Wellensittich wieder gesund sei, dann bekomme | |
das Geschäft gleich ein viel menschlicheres Gesicht. | |
Lambertz hatte auch eine Theorie, die ihm seine Empathieerfolge | |
wissenschaftlich erklärte. Sie stammte von dem englischen Botaniker Rupert | |
Sheldrake und war eine „morphologische Feldtheorie“, die, kurz gesagt, | |
davon ausging, dass es eine immaterielle „morphische Resonanz“ gibt, die | |
als formbildende Kraft quasi über uns schwebt, nicht etwa als Gedächtnis in | |
unserem Kopf, und sie wirke auch auf andere. Eine „spukhafte Fernwirkung“, | |
wie der Physiker Niels Bohr diese eigentlich Einstein’sche Eingebung | |
abwertend nannte. Daneben gibt es auch noch eine „spukhafte Nahwirkung“, | |
wie sie mir einmal bei einem Vertreter für Wasserfilter begegnete – und | |
mich überrumpelte. | |
Ich ahnte, was Lambertz mit „morphischer Resonanz“ meinte. In den sechziger | |
Jahren war ich in Delmenhorst selbst einmal Hausierer gewesen, genauer | |
gesagt: für vier Wochen Assistent eines Vertreters von Bertelsmann. Jede | |
Woche zahlte mir der „Kommunikationskonzern“ 100 Mark, dafür musste ich den | |
„alten Fuchs“ nur begleiten und von ihm verkaufen lernen. Er hatte durch | |
ein Bertelsmann-Preisausschreiben Adressen dabei, dummerweise in einem | |
Arbeiterviertel, in dem alle arbeitslos waren. Denen sollte er ein | |
zwölfbändiges Lexikon verkaufen. Kein Witz! Das konnte nur in einem | |
beidseitigen Akt der Verzweiflung geschehen, das heißt, der Meister musste | |
immer tiefer in seine Verkaufstrickkiste greifen. Beispielsweise lauschte | |
er an der Wohnungstür, bevor er klingelte. Wenn er drinnen | |
Kanarienvogel-Gesang hörte, sagte er: „Ach wie schön, Sie haben einen | |
Kanarienvogel. Ich auch, was ist es denn – ein Männchen oder ein hübsches | |
Weibchen?“ Ähnlich war es bei einem Kind oder Hund. Nach vier Wochen hatte | |
ich genug von ihm gelernt und verschwand (auf eine Stelle im Bremer Zoo). | |
Meine Mutter hatte mir sowieso geraten, die Finger vom Vertreterjob zu | |
lassen, nachdem sie den traurigen Film „Tod eines Handlungsreisenden“ | |
gesehen hatte. | |
Hinterher erfuhr ich, dass man seine Verkaufsakte als Versuche bezeichnen | |
könnte, aus einer „kalten“ oder „warmen Akquise“ eine „heiße“ zu … | |
1993 erzählte mir ein NVA-Marineoffizier, der nicht in die Bundesmarine | |
übergetreten war, dass der Allianz-Konzern sehr viele seiner Kollegen als | |
Versicherungsvertreter eingestellt hatte. Sie wurden für die „warme | |
Akquise“ eingestellt – bei ihren Verwandten und Freunden, denen sie Policen | |
andrehen sollten. Was auch vielfach geschah. Als sie alle durchhatten, | |
wurden sie entlassen. | |
Die Klinkenputzer sind heute meist Call-Center. Sie haben sich in den USA | |
nicht selten in Gefängnissen etabliert, wo sie die Knackis für sich | |
arbeiten lassen. Diese bekommen natürlich kein Erfolgshonorar wie die | |
Call-Center-Mitarbeiter draußen im Freien. Nur noch wenige Firmen trauen | |
sich hierzulande „Face-to-Face-Geschäfte“ zum Beispiel in Fußgängerzonen… | |
– meist sind es Studierende, die dafür bezahlt werden, für Tier- und | |
Kinderschützer oder Amnesty International Spendenabos zu akquirieren. | |
Darunter befanden sich lange Zeit auch die Drückerkolonnen eines | |
Westerwälder Firmengeflechts, in denen flotte Mädels den Jungs und nette | |
Jungs den Mädels auf der Straße Video-Abos aufschwatzten, die man nicht so | |
schnell kündigen konnte. | |
## Umgedrehter Beischlaf-Diebstahl | |
Ich erinnere mich außerdem, dass sich nach der Wende in der Oranienstraße | |
eine Truppe einmietete, die von einer bedeutenden Blondine angeführt wurde. | |
Sie schwärmten jeden Morgen als Vertreter mir unbekannter Firmen ins Umland | |
aus und nannten sich „Dialog Direct“. Heute wirbt auf den Kneipentoiletten | |
eine Werbefirma namens „Ambient Media“ um neue Mitarbeiter – mit dem | |
Spruch: „Kohle fürs Quatschen (M/W)“. | |
Als ich eine Zeitlang in Mitte wohnte, gab es unter mir in der Wohnung noch | |
so eine Hausierer-Gruppe, die mit zwei VW-Bussen morgens auf Tour ging, | |
ebenfalls von einer strengen Frau angeführt. Die Firma gehörte einem | |
Bordellbesitzer, dessen Büro sich im Erdgeschoss befand, unter anderem | |
besaß er einen Swingerclub in Karlshorst, der mit dem Spruch warb „Wir | |
haben Verständnis für Toleranz“. Das erfuhr ich aber erst später. Erst | |
einmal setzte man mich um in eine andere Wohnung eine Straße weiter – wegen | |
Heizungsbauarbeiten. Der Postbote legte meine Briefe auf die verbliebenen | |
Kästen, weil mein Name auf keinem mehr stand. Dort fand ein Mitarbeiter der | |
Bordellverwaltung einen Brief, in dem ein Verrechnungsscheck der VG Wort | |
über 860 D-Mark steckte. Den ließ sein Chef durch ihn einlösen. | |
Die VG Wort schickte mir zum Glück einen neuen Scheck und bekam | |
gleichzeitig von der Deutschen Bank mitgeteilt, wer den ersten eingelöst | |
hatte, woraufhin sie den Mitarbeiter verklagte. Ich bekam dann heraus, dass | |
dessen Haus in Lichtenberg inzwischen seinem Chef gehörte, der es als | |
Herberge für tschechische Bauarbeiter nutzte, ferner dass seine Frau mit | |
Krebs im Sterben lag und dass seine alte Mutter in Hellersdorf für ihn die | |
Post erledigte, denn er befand sich in Spanien, wo er am Umbau der Villa | |
seines Chefs beteiligt war. Er erschien dann ohne seinen Chef vor Gericht, | |
dafür mit einer äußerst mondänen russischen Prostituierten und ihrem | |
kleinen Sohn. Ich trug dem Richter meine Version vor. Der Angeklagte | |
versicherte danach dem Gericht, dass ich mit dem Scheck eine Frau im | |
Bordell „Apollo“ bezahlt hätte (dabei drehte er sich zur Besucherbank um), | |
und er, als er die Tageseinnahmen zur Bank brachte, sich nichts dabei | |
gedacht habe, denn das Bezahlen mit Verrechnungsschecks käme oft vor. Was | |
eine Lüge war. Diese Version überzeugte aber den jungen Richter und den | |
noch jüngeren Staatsanwalt derart, dass sie ihn sogleich freisprachen. | |
Mich bedachten sie dafür mit Blicken, die extreme Missbilligung | |
ausdrückten: War ich nicht nur zu feige gewesen, meinen teuren | |
Bordellbesuch zuzugeben, und hatte auch noch schändlicherweise alles | |
Mögliche getan (was ich ja selbst lang und breit ausgeführt hatte), um den | |
Scheck wiederzubekommen, wobei ich auch noch eine Frau und Mutter um ihren | |
redlich verdienten Arbeitslohn gebracht hatte. Ein umgedrehter | |
Beischlaf-Diebstahl quasi. Eigentlich gehörte ich angeklagt, und nicht der | |
Hiwi des Bordellbesitzers, der nicht einmal was von dem Scheck hatte. | |
Aber so war eben die Welt: ungerecht, trotz unseres schönen Rechtsstaats. | |
10 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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