# taz.de -- Kiew bleibt Putins Ziel: Die Wut wächst | |
> In den vergangenen Tagen ist es in Kiew ruhiger geworden, doch die | |
> Bedrohung ist nicht vorbei. Die Menschen bereiten sich auf die große | |
> Schlacht vor. | |
Bild: Fassungslosigkeit am Dienstag in Kiew | |
Die Einnahme von Kiew ist schon lange das erklärte Ziel des Kreml. Doch die | |
[1][„Spezialoperation“] gestaltet sich schwierig. Dabei geht es nicht nur | |
um den militärischen Aspekt, sondern vor allem um den moralischen. Die | |
lebendige Metropole, die Kiew immer war, ist leise geworden, obwohl noch | |
immer über zwei Millionen Kiewer*innen geblieben sind. Zum größten Teil | |
sind dies Menschen, die die Hauptstadt der Ukraine bewusst nicht verlassen | |
und nicht vor der Gefahr davonlaufen wollen. „Das ist unser Zuhause und wir | |
werden es verteidigen. Wer, wenn nicht wir“, sagen alle, wie aus einem | |
Munde. | |
Die Eroberung Kiews scheint daher eher einem Suizid zu ähneln. Männer, | |
Frauen, Jugendliche und Rentner*innen – sie alle versuchen, die Truppen | |
der Territorialverteidigung in Kiew so gut es geht zu unterstützen. | |
Der 16-jährige Aleksei steht vor einem Sandhaufen. In der Hand hält er eine | |
Schaufel, zu seinen Füßen liegen Säcke, wie man sie von Baustellen kennt. | |
Er kommt jeden Tag zu dieser Barrikade und tut alles, worum man ihn bittet. | |
Heute lautet der Auftrag: Säcke mit Sand befüllen, um den Checkpoint zu | |
verstärken. | |
„Zur Zeit finden im College keine Kurse statt und der Armee kann ich mich | |
nicht anschließen. Deshalb tue ich alles, was ich kann. Jetzt helfe ich | |
dabei, die Verteidigung meiner Region zu verstärken. Wir sind doch hier zu | |
Hause und die Russen haben hier nichts zu suchen. Deshalb werden wir sie | |
von unserem Boden vertreiben“, sagt der Teenager. Er klingt dabei wie ein | |
Erwachsener. | |
In der Verteidigungseinheit dient auch der 38-jährige Andrei Dudikow. Noch | |
vor drei Wochen arbeitete er als Anwalt und unterrichtete in einer der | |
juristischen Akademien von Kiew. Heute steht er hier am Checkpoint – mit | |
Skianzug, kugelsicherer Weste, Helm und einem Maschinengewehr in der Hand. | |
Frau und Kind habe er an einen sicheren Ort zu Verwandten geschickt, er | |
selbst sei jedoch geblieben, um sein Haus zu verteidigen. „Viele meiner | |
Kollegen machen das genauso wie ich. Russland hatte keinen berechtigten | |
Grund, um uns anzugreifen. Jetzt hat es nicht die geringste Chance, diesen | |
Krieg zu gewinnen“, gibt sich Andrei Dudikow überzeugt. | |
## Angriffe auf Zivilist*innen | |
In seiner Division hat praktisch fast niemand Kriegserfahrung. Nur der | |
47-jährige Wjatscheslaw hat bereits im Donbass gekämpft. Jetzt ist er | |
erneut gezwungen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. „Was hätte ich denn | |
sonst tun sollen?“, fragt der Mann, dem seine Entschlossenheit anzusehen | |
ist. „Die Jungs hier wissen doch gar nicht, wie man Verteidigungslinien | |
aufbaut. Die haben wahrscheinlich das letzte Mal während ihres Wehrdienstes | |
eine Waffe angefasst. Meine Kenntnisse und Erfahrungen kommen allen zugute. | |
Nach einer Woche Vorbereitung fühlen sie sich jetzt viel sicherer. Schade | |
ist nur, dass ich das tun muss, weil meine Heimat bedroht ist“, sagt er. | |
Die Männer in der Division berichten, dass sie mit allem Notwendigen von | |
Freiwilligen versorgt werden. Die würden Sand herbeischaffen oder aus | |
Metall Panzerabwehranlagen bauen, andere transportierten Blöcke aus Beton. | |
Jäger stellten ihre Uniformen zur Verfügung, Kletterer ihre Walkie-Talkies. | |
Bewohner*innen der Nachbarhäuser sammelten Glasflaschen und | |
Stofffetzen, um daraus Molotowcocktails zu bauen. „Schauen Sie genau hin, | |
alle geben ihr Bestes“, sagt Wjatscheslaw und lächelt. Dann wird er ernst: | |
„Dieser Krieg geht alle etwas an.“ | |
In der Tat: [2][In der vergangenen Woche richteten sich die Angriffe der | |
russischen Armee in Kiew meist gegen zivile Objekte]. Vor allem | |
mehrgeschossige Wohnhäuser von Zivilist*innen waren betroffen. Dabei | |
bot sich ein chaotisches Bild. Mehrfamilienhäuser in verschiedenen Regionen | |
der Stadt wurden gleichzeitig angegriffen und getroffen. Das bedeutet, dass | |
jetzt jeder Stadtteil Kiews potenziell in Gefahr ist. Eine Explosion traf | |
auch eine U-Bahn-Station, die Hunderten Kiewer*innen als | |
Luftschutzbunker gedient hatte. | |
In der Regel finden diese Raketenangriffe im Morgengrauen statt – zwischen | |
vier und fünf Uhr. Immer dann, wenn die Menschen am wenigsten darauf | |
vorbereitet sind. Die größte Bedrohung geht von Granaten und | |
Marschflugkörpern aus. Selbst wenn die Luftabwehrsysteme in der Lage sind, | |
Raketen abzuschießen – vor Artilleriegeschossen gibt es keine Entkommen. | |
Obwohl Kiew bereits in den ersten Minuten der russischen Invasion Ziel von | |
Angriffen wurde, blieben Wohnhäuser in den ersten zwei Wochen relativ | |
verschont. Am 14. März jedoch änderte sich die Situation dramatisch. Ein | |
tödliches Geschoss traf ein neunstöckiges Haus im Nordwesten von Kiew. Zwei | |
Aufgänge wurden vollständig zerstört, die Fenster flogen sogar bis in die | |
Nachbarhäuser. | |
In der Nähe gibt es keine wichtigen militärischen oder strategischen | |
Objekte, lediglich eine Schule, ein Stadion und Dutzende mehrstöckige | |
Wohnhäuser. | |
Nur wenige Stunden später wiederholte sich dieses Szenario, nur in einem | |
anderen Stadtteil. Am nächsten Morgen wurde ein weiteres Wohnhaus | |
getroffen. Das Ergebnis dieser Angriffe: Rund zehn Zivilist*innen | |
starben und über 100 wurden verletzt. Und die, die ihre Wohnung sowie ihr | |
ganzes Hab und Gut verloren, sind gar nicht zu zählen. | |
Bei vielen Menschen in Kiew ist der Eindruck entstanden, dass sich die | |
russische Armee rächen will: für die Bodenoffensive in Form eines | |
Blitzkrieges sowie die Einnahme von Kiew, die beide gescheitert sind. | |
Ein weiteres Ziel könnte auch noch der Versuch sein, die Bevölkerung zu | |
demoralisieren, sowie Angst und Verzweiflung zu schüren. Aber dieses | |
Vorgehen hat genau den gegenteiligen Effekt – bei Männern genauso wie bei | |
Frauen: Es ist Wut entstanden, die unaufhörlich wächst. | |
„Jetzt bin ich endgültig bereit, mich den Truppen der Territorialverwaltung | |
anzuschließen. Ich hoffe, dass sie mich nehmen“, sagt ein alter Mann, der | |
neben einem zerstörten Wohnhaus steht. Seine Wohnung ist komplett | |
ausgebrannt. „Ich werde bis zum letzten Atemzug kämpfen – solange, bis wir | |
sie von unserer Erde vertrieben haben. Warum sind sie nur hierher gekommen, | |
diese Narren“, schimpft er. | |
## Die Stadt hielt den Atem an | |
Auch Swetlana Petrowna hat gemischte Gefühle. Von ihrem Haus sind nur noch | |
Trümmer übrig geblieben. Sie wischt sich die Tränen ab und erzählt, was sie | |
alles verloren habe. Dann wird sie emotional: „Wir werden alles wieder | |
aufbauen. Und zwar noch besser. Diejenigen, die in unser Land gekommen sind | |
und uns so viel Kummer und Leid gebracht haben, sie sollen auf ewig | |
verflucht sein! Gib unseren Verteidigern Kraft, um diese Horde zu | |
besiegen!“ | |
Nach zwei Wochen brutaler Angriffe auf Wohnhäuser und schwerer Kämpfe am | |
Stadtrand von Kiew hat die Stadtverwaltung beschlossen, für anderthalb Tage | |
eine Ausgangssperre zu verhängen. Niemand durfte sein Haus oder seinen | |
Unterschlupf verlassen. Der öffentliche Nahverkehr ruhte, Geschäfte, | |
Apotheken und andere Objekte der Infrastruktur waren geschlossen. Die Stadt | |
hielt den Atem an. | |
Später wurde bekannt, dass in dieser Zeit Streitkräfte, Geheimdienste, | |
Polizei und Territorialverteidigung eine spezielle Operation zur | |
Identifizierung von Sabotagegruppen (russische Militärs, die undercover | |
unterwegs sind; Anm. d. Red.) durchgeführt hatten. Informationen des | |
ukrainischen Verteidigungsministeriums zufolge sollten vor allem Saboteure | |
eine entscheidende Rolle bei der Einnahme Kiews spielen. | |
Nach dieser Version warten Hunderte Personen in konspirativen Wohnungen auf | |
den richtigen Moment. Ihre Hauptaufgabe: Als Freiwillige in die Einheiten | |
der Territorialverteidigung in Kiew einzusickern mit dem Ziel, die | |
Hauptverteidigungsanlagen zu untergraben, um so den vorrückenden russische | |
Truppen den Weg zu ebnen. | |
Nach dem Ende der Sperrstunde vermeldeten die Geheimdienste, dass ein | |
ganzes Netz von Saboteuren liquidiert worden sei. Weitere Details wurden | |
nicht bekannt. | |
In den vergangenen Tagen ist es in Kiew ruhiger geworden. Auf den Straßen | |
sind mehr Menschen und Autos unterwegs. Auch in den Geschäften sind wieder | |
Waren des täglichen Bedarfs erhältlich. Doch viele spüren, dass die | |
Bedrohung nicht verschwunden ist. | |
Die Hauptschlacht um Kiew steht wohl erst noch bevor. | |
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter | |
Stiftung. | |
Aus dem Russischen von Barbara Oertel | |
18 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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