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# taz.de -- Album und Roman von Jenny Hval: Wohnung ohne Wände
> Die Norwegerin Jenny Hval hat mit „Classic Objects“ ein sphärisches
> Pop-Album veröffentlicht. Nun erscheint auch ihr Debütroman auf Deutsch.
Bild: Gender, Religion und Kapitalismus spielen in den Songs der Norwegerin Jen…
Es gibt einen Song auf dem neuen Album „Classic Objects“ von Jenny Hval,
der momentan besonders aufhorchen lässt. „I wanna live in a democracy,
somewhere where art is free/ Not that it ever was“, singt die 41-jährige
norwegische Künstlerin in „Freedom“ und kreiert damit ihre eigene Version
eines avantgardistischen Protestpopsongs.
Bis vor Kurzem arbeitete Hval noch am Videoclip für die Single, dabei wurde
sie von den Geschehnissen in Osteuropa eingeholt, dem Überfall Russlands
auf das Nachbarland Ukraine. Der Videoclip zur Single wurde mittlerweile
veröffentlicht, der Krieg in der Ukraine hält an.
Die Künstlerin sitzt während des Zoom-Interviews in einem kleinen
Studiozimmer im Osloer Stadtteil Grünerløkka. Den Raum hat sie für
Interviewtermine angemietet, die sie anlässlich der Veröffentlichung von
„Classic Objects“ auf Zoom abhält. Während des Gesprächs mit der taz lac…
Hval viel, man merkt aber, dass sie der brutale Angriffskrieg genauso sehr
beschäftigt wie viele andere Europäer:innen zurzeit.
Die Botschaft des erwähnten Songs sieht sie deshalb selbst mit tiefer
Skepsis. „Ich denke selbst jetzt anders über den Song. Die Zeilen sind nur
eine Ansammlung von Statements. Gibt es überhaupt jemanden, der nicht in
einer Demokratie leben will?“
## Musik mit meditativem Charakter
Hval singt in „Freedom“ nicht autobiografisch. Stattdessen soll ihre Stimme
symbolisch für einen Folkchor stehen. Der Song besteht aus einer simplen
Melodie, die dezent an chinesische Volksmusik erinnert. Gepaart mit Hvals
sanftem Gesang erhält die Musik fast einen meditativen Charakter.
Dabei ist sich die Norwegerin auch bewusst, dass der Songtext in diesen
Zeiten zu Missverständnissen führen könnte. „Ich fühle mich ein bisschen
seltsam bei diesem Song und frage mich, ob Leute meine Zeilen auf eine
problematische Weise lesen könnten. Vielleicht verdiene ich das aber auch“,
überlegt sie und lacht.
„Freedom“ und seine ursprüngliche Bedeutung laden aber nicht nur zur
politischen Interpretation ein, sondern stehen symbolisch auch für das, was
Jenny Hvals konzeptionelles Oeuvre auszeichnet. Die gebürtige Osloerin
studierte Creative Writing und Performance im australische Melbourne.
Während ihres Studiums spielte sie in mehreren Bands, bis sie sich
entschied, ihre Karriere als Solistin fortzusetzen.
Als Rockettothesky veröffentlichte sie zwei Alben, bis sie unter ihrem
Geburtsnamen weitermachte. Mit Alben wie „Innocence Is Kinky“, „Apocalyps…
Girl“ und „Blood Bitch“ kreierte Hval ihre eigene Version des
Avantgarde-Pop, die auf das Wohlgefallen der Kritik stieß. Themen, die Hval
in ihren Stücken thematisiert, sind Gender, Sexualität, Religion und
Kapitalismus.
## Liebe und Spoken Word
Für ihr sechstes Album „Blood Bitch“ verwandelte sie sich gar in eine
menstruierende Vampirin. Auf dem zuletzt erschienenen Werk „The Practice of
Love“ (2019) verhandelte sie die Welt der Liebe mithilfe von Spoken Word
und elektronischem Pop abseits bekannter Muster. [1][Gemeinsam mit dem
Gitarristen Håvard Volden veröffentlichte sie im vergangenen Jahr ein
meditativ-experimentelles Album unter dem Bandnamen Lost Girls.]
Die Songs ihres neuen, mittlerweile achten Studioalbums „Classic Objects“
klingen reduzierter, und insgesamt wirken sie weniger konzeptuell als die
Musik auf den Vorgängeralben. Die Melodien sind eingängiger, verfügen
jeweils über Strophen und Refrains. Chartsfähig ist das Album trotz seiner
Popavancen nicht, dafür sind Instrumentation und Songtexte zu
surrealistisch und sphärisch.
Jenny Hval ist in ihrer norwegischen Heimat nicht nur als Musikerin
hervorgetreten, sondern auch Essayistin, Journalistin und Autorin. Vor
Kurzem erschien nun ihr Debütroman „Perlenbrauerei“ auf Deutsch, dreizehn
Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Norwegen.
Es ist die ebenso gruselige wie erotische Coming-of-Age-Story einer jungen
Norwegerin die, ähnlich wie die Autorin Hval, für ein Auslandsstudium nach
Australien zieht. In dichten Beschreibungen kreiert Hval ein prosaisches
Kammerspiel, dessen Ausgangspunkt eine mysteriöse Wohnung ohne Wände ist,
in der sich die Protagonistin Jo ihrer Mitbewohnerin Carral körperlich
annähert.
## Undurchsichtiger Schreibprozess
Als „Perlenbrauerei“ im Original veröffentlicht wurde, stand Jenny Hval
noch am Beginn ihrer interdisziplinären Karriere. Der taz erzählt die
Künstlerin von der Naivität, die mit dem Schreibprozess einherging. „Ich
hatte hohe Erwartungen beim Verfassen des Romans. Ich dachte, dass ich am
Ende dieses Schreibprozesses wissen würde, wie man Romane schreibt. Ich
habe nicht verstanden, wie am Ende ein Roman aus dem Text wurde. Das war
enttäuschend, ich war danach sehr uninspiriert.“
Übersetzungen ins Englische und nun ins Deutsche haben ihr geholfen, ihre
Autorinnenschaft als work in progress zu akzeptieren. Obwohl Hval
inzwischen zwei weitere Romane veröffentlicht hat, fühlt sie sich nach wie
vor wohler beim Komponieren von Songs. „Songwriting macht mir mehr Spaß, es
gelingt mir leichter.“
Die Wechselwirkung der Disziplinen verläuft in Hvals Arbeit fließend: In
„Perlenbrauerei“ finden sich zahlreiche Querverweise auf Musik,
beispielsweise, wenn die Autorin Songtexte von Ani DiFranco, Björk oder der
britischen Shoegazeband Slowdive zitiert.
Umgekehrt sind in ihre Songs zahlreiche Verweise auf Kunst, Filme und
Essays eingestreut. In einem Song auf „The Practice of Love“ referenziert
sie Georgia O’Keefe und [2][Joni Mitchell]. Für ihr neues Album „Classic
Objects“ ließ sich Hval aber weniger von den schönen Künsten inspirieren.
Dieser Umstand ist vor allem auch der Coronapandemie geschuldet. „Am Anfang
der Pandemie wollte ich 2020 überhaupt keine Musik hören. Ich habe auch
kaum mehr Filme geschaut und habe mir stattdessen ein Haustier zugelegt.“
Ihre Hündin Cleo, benannt nach der Protagonistin des
[3][Nouvelle-Vague]-Films „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ [4][der
französischen Regisseurin Agnès Varda], half Hval dabei, die
Abgeschiedenheit im Lockdown zu bewältigen.
## Fiktive Reisen
Eine weitere Beschäftigungsstrategie der Pandemie-Zeit findet sich in den
Songs von „Classic Objects“. Sie sind realen und fiktiven Orten gewidmet,
die Hval während der Pandemie bereist hat. Darunter finden sich die Prada
Marfa, eine Kunstinstallation in der texanischnen Wüste, aber auch ein
australischer Pub, in dem sie zu ihren Zeiten in Melbourne öfters
aufgetreten war.
In einem Statement zum Album beschreibt Hval, dass sie sich an diesen
fiktiven Orten so bewegte wie die Charaktere im Videospiel „The Sims“. Die
Frage danach, ob sie selbst Gamerin sei, verneint sie im Interview jedoch.
„Ich habe mir lediglich Videos von Gamer:Innen angeschaut, die Sims
spielen. Ich selber hatte nicht die Kapazität, um mir selbst das Spiel zu
kaufen und zu spielen.“
Ursprünglich hatte sie auch überlegt, das Bühnenbild ihrer Tour an das
Computerspiel anzupassen, wegen komplizierten Urheberrechtsfragen entschied
sie sich aber dagegen.
Schon in wenigen Wochen will Jenny Hval mit „Classic Objects“ durch Europa
touren, soweit es die Pandemie erlaubt. Nur ein Konzert der Tour findet in
Deutschland statt. Während die durch Covid verkürzte „The Practice of
Love“-Tour als transmediale Performance konzipiert war und in Häusern wie
dem Hebbeltheater in Berlin aufgeführt wurde, soll die „Classic
Objects“-Tour etwas reduzierter ausfallen.
Die Planungen dafür sind jedoch noch nicht abgeschlossen, verrät Hval: „Es
wird nur Musik sein, mit einem Fokus auf dem Spiel von Instrumenten.
Derzeit arbeiten wir aber auch an Videomaterial.“ Momentan sieht es danach
aus, als ob die Tour stattfinden kann. Die Aussicht, sich bei einem Konzert
von Jenny Hval zu ihren Traumwelten beamen zu können, wirkt in diesen Tagen
wie ein kleiner Lichtblick.
14 Mar 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Louisa Zimmer
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