| # taz.de -- Neues Album von Jenny Hval: Fragmente von Liebe als Praxis | |
| > Produktion oder Reproduktion? „The Practice of Love“, Jenny Hvals neues | |
| > Album, erzählt vom Nocherwachsenerwerden als Frau. | |
| Bild: „The Practice of Love“ von Jenny Hval ist kein Selbsthilferatgeber, e… | |
| Zur (Pop-)Prinzessin taugt [1][Jenny Hval] nicht, glücklicherweise. Gut | |
| vier Jahre ist es her, dass die norwegische Sängerin mit „Apocalypse, Girl“ | |
| auf dem Radar eines größeren Publikums aufgetaucht ist. In der Musik war | |
| sie damals schon länger zu Hause, zunächst als Sängerin einer Gothic-Band, | |
| später auch solo. „But I’m 33 now, that’s Jesus-age, and girl spaces come | |
| back to me“ lautete die zweifellos beste Zeile Hvals auf „Apocalypse, | |
| Girl“. | |
| Ihr Selbstverständnis brachte sie damit so pointiert auf den Punkt, dass | |
| man der heute 39-Jährigen einfach zuhören musste, wie sie mit flötender | |
| Stimme weibliche Libido und männliche Verletzlichkeit besang, und wie sie | |
| für die Einführung eines neuen Genre plädierte, den „Soft Dick Rock“. | |
| Anderthalb Jahre später ging sie als menstruierende Vampirin, als | |
| [2][„Blood Bitch“] um, dechiffrierte Liebe und Begehren sowie die | |
| Sexualisierung von vor allem weiblichen Körpern in Zeiten des Kapitalismus. | |
| Seit „Blood Bitch“ sind ein paar Jahre vergangen. Hval ist älter geworden, | |
| ruhiger, sie hat ihr drittes Buch, „Girls against God“, veröffentlicht, | |
| einen im Norwegen der Neunziger spielenden Coming-of-Age-Roman aus | |
| weiblicher Perspektive, der von Magie, Musik und Subkulturen handelt. | |
| Autobiografisch? Nicht wirklich, aber aus ihrer Haut kann Hval ohnehin nie, | |
| in ihrer Musik so wenig wie in ihren Texten. | |
| In jenem, der „The Practice of Love“ begleitet, beschreibt sie ihre Stimme | |
| als die einer einst wütenden Teenagerin. Viele Jahre später sei sie, „no | |
| longer angry, but still feeling apart from the mainstream … longing for | |
| community.“ Für ihr Album hat sie eine solche, offenbar weibliche gesucht | |
| und unter anderem in Vivian Wang von der Artrock-Band „the Observatory“ aus | |
| Singapur, der australischen Singer-Songwriterin Laura Jean Englert und der | |
| französischen Avantgardemusikerin Félicia Atkinson gefunden. | |
| Weil oder trotz dieser Unterstützung hört sich Hval auf „The Practice of | |
| Love“ so eingängig, so sphärisch, so poppig wie nie an. An die neunziger | |
| Jahre erinnernder Trance, softes Synthiegeplänkel schmeicheln sich ins Ohr | |
| hinein, lullen einen ein, doch das ist nur ein Trick, mit dem Hval | |
| ausprobieren zu wollen scheint, wie Avantgarde auch Mainstream sein kann. | |
| Jemand habe ihr einmal gesagt, nichts sei ein größeres Klischee als Songs | |
| über die Liebe, über den Tod, über das Meer zu schreiben. Hval tut also | |
| genau das und kehrt dabei die Vorzeichen um. | |
| Romantischer Liebe stellt sie ein holistisches Konzept von Liebe und | |
| Intimität entgegen. „I am, making room for tenderness“, säuselt sie auf d… | |
| Eröffnungssong „Lions“, „making room for lovers“ und sich dabei durcha… | |
| kosmischen Rat. „Where is god“, fragt sie, Bäume, Gras, Wolken betrachtend, | |
| das Vinyl-Album kommt in einer Spezialedition mit acht dafür angefertigten | |
| Tarotkarten daher. Die neue, zugängliche Jenny Hval plädiert auf | |
| spirituelle Achtsamkeit und menschliche Innigkeit. | |
| ## Ein Thriller über Geschlechterrollen | |
| Anknüpfungspunkte für den feministischen, in diesem Fall völlig | |
| esoterikfreien Überbau liefert der Titel des Albums. „The Practice of Love“ | |
| ist nämlich keinesfalls von einem jener gerade so virulenten | |
| Instagram-Selbsthilferatgeber für ganzheitlich-selbstbewusste Lebensführung | |
| ausgeborgt. Hval zitiert vielmehr den Titel des gleichnamigen Films von | |
| Valie Export aus dem Jahr 1985, einem damals für den Goldenen Bären auf der | |
| Berlinale nominiertes Hybrid aus Thriller, Videokunst und | |
| Auseinandersetzung mit Gewalt in der Gesellschaft und Geschlechterrollen. | |
| „The Practice of Love“ ist ein Album über das Nocherwachsenerwerden, über | |
| das Älterwerden als Frau und damit verbunden dem ewigen Thema des | |
| Mutterseins bzw. Nichtseins. In „Accident“ erzählt Hval von einer | |
| kinderlosen Frau, die im Badezimmer einer Airbnb-Wohnung eine Creme gegen | |
| Dehnungssstreifen findet, diese aufträgt und nichts spüre. Von einer, die | |
| sich fragt, wie sich tropfende Brustwarzen anfühlen mögen und wie sie es | |
| schaffte, nie versehentlich schwanger zu werden. „So many years. So little | |
| fruit.“ | |
| Im enigmatischen Musikvideo zu „Accident“, das als ein Trailer zu einem | |
| noch zu veröffentlichten Dialog zwischen Hval und der Filmemacherin und | |
| langjährigen Freundin und Kollaborateurin Hvals Zia Anger über die | |
| komplexen Bezüge zwischen künstlerischer Produktion und weiblicher | |
| Reproduktion zu verstehen ist, spielt Angers Mutter die Hauptrolle. | |
| Noch konkreter wird Hval im darauf folgenden titelgebenden Stück, das ein | |
| Gespräch Hvals und Englerts mit Sound und weiterem Text zur gar nicht mal | |
| so sperrigen Collage verschachtelt. „I have to accept that I’m part of this | |
| human ecosystem but I’m not the princess and I’m not the main character“, | |
| folgert Englert darin aus ihrem Dasein ohne Kind. Die Künstlerin, die sich | |
| der Mutterrolle verwehrt, ist nicht die Prinzessin, eher die Hexe. | |
| Vielleicht sogar der interessantere Part im Popmärchen, die Liebe, daran | |
| lässt Hval keinen Zweifel, schließt er dennoch mit ein. | |
| 22 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://jennyhval.com/ | |
| [2] /!5345310/ | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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