| # taz.de -- Flucht aus der Ukraine nach Polen: Das Leben im Transit | |
| > Am Warschauer Zentralbahnhof treffen Geflüchtete aus der Ukraine auf | |
| > überwältigende Hilfsbereitschaft – und auf erschöpfte freiwillige Helfer. | |
| Bild: Ankunft in Warschau: Eine geflüchtete Ukrainerin trägt ihr Kind | |
| Warschau taz | Marina Garbuz trägt Gelb auf ihrer Computertasche und Gelb | |
| auf ihren Schnürstiefeln. Auf der Höhe ihres Herzens prangt ein Sticker mit | |
| der ukrainischen Fahne an ihrem Anorak. Seit Ende Februar hält sie in den | |
| Fingern ihrer linken Hand oft eine Zigarette. In ihren Träumen ist der | |
| Krieg zu Ende. Ihr Land hat gesiegt. Und sie ist zurück in Kiew. Noch aber | |
| ist sie im Bahnhof von Warschau: „Wir stoppen Putin“, glaubt sie: „Wir si… | |
| sehr stark.“ Sie verweist auf eine Statistik auf ihrem Handy, die von der | |
| ukrainischen Regierung stammt und deren Richtigkeit sowohl weiter westlich | |
| als auch weiter östlich angezweifelt wird. Nach der Statistik sind seit dem | |
| 24. Februar 12.000 russische Soldaten in der Ukraine gefallen. | |
| Die 32-Jährige ist Organisationsprofi. Im zivilen Leben managt sie | |
| Konzerte. Darunter das jährliche „Moto Open Fest“, bei dem Rockmusiker und | |
| Motorradfahrer zusammenkommen. Jetzt ist sie „im Transit“, wie sie es | |
| nennt. Sie sammelt Geld, Medizin und Sachspenden für die Ukraine. Nach | |
| einer Nacht im U-Bahn-Schacht hat sie Kiew verlassen. Hat ihre Mutter und | |
| ihren Sohn nach Brno in Tschechien in Sicherheit gebracht und ist selbst | |
| weiter nach Warschau gereist. „Ich weiß, was Krieg bedeutet“, begründet s… | |
| ihre schnelle Reaktion. Sie ist in Donezk aufgewachsen. Zu ihrer | |
| kriegszerrissenen Familie gehören die Großmutter, Onkel und Brüder, die in | |
| Donezk leben, ihr Ex-Mann in Kiew und ihr gegenwärtiger Mann in Odessa. | |
| „Die Polen helfen uns“, sagt Marina Garbuz. Als Flüchtling aus der Ukraine | |
| bekommt sie kostenlose medizinische Versorgung und kann gratis mit den | |
| öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Vor öffentlichen Gebäuden und an | |
| Bussen wehen jetzt auch ukrainische Fahnen. Und überall im Land sind | |
| Suppenküchen entstanden. Aber Marina Garbuz erwartet anderes von Polen und | |
| von Europa. „Wir haben Panzer und Gewehre“, sagt sie, „aber keine | |
| Munition.“ | |
| Sie ist eine von mehr als 1,4 Millionen Ukrainern, die innerhalb von nur | |
| zwei Wochen nach Polen geflohen sind. Pro Tag kommen mehr als 140.000 | |
| hinzu, sie überqueren die Grenze im Sekundentakt. Es ist die größte | |
| europäische Fluchtbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die | |
| meisten Flüchtenden wollen erst einmal bleiben. Viele haben Angehörige in | |
| Polen. Das Polnische ist der eigenen Sprache nah genug, um sich | |
| verständlich zu machen. Und der Rückweg in die Ukraine ist kurz. Dass aber | |
| ausgerechnet Polen seine Arme für Flüchtlinge öffnen würde, war vor wenigen | |
| Wochen unvorstellbar. 2015 sagte die Regierung in Warschau kategorisch | |
| [1][Nein], als Deutschland an die EU-Partner appellierte, Flüchtlinge aus | |
| dem Nahen Osten und aus afrikanischen Ländern aufzunehmen. Im vergangenen | |
| Jahr begann sie damit, eine militärisch gesicherte Grenzanlage im Osten zu | |
| errichten, um Flüchtlinge fernzuhalten, die über Weißrussland kommen. Nun | |
| aber zahlt Polen den Flüchtenden aus der Ukraine ein Begrüßungsgeld in Höhe | |
| von 50 Euro und gewährt ihnen eine Duldung für 18 Monate, Arbeitserlaubnis | |
| inklusive. | |
| Die nachhaltigste Hilfe aber kommt von Privatleuten. Sie bieten | |
| Unterkünfte, Fahrdienste, Essen und Kinderbetreuung. Im Zentralbahnhof von | |
| Warschau sind an diesem Donnerstag Hunderte Freiwillige unterwegs. In dem | |
| Getümmel müder Frauen, ratternde Rollkoffer an der einen Hand und Kinder an | |
| der anderen, sind sie an ihren ärmellosen knallgrünen Westen zu erkennen. | |
| Auf ihren Rücken haben sie Zettel befestigt, darauf steht, welche Sprachen | |
| sie sprechen. Polnisch, Ukrainisch und Russisch sind am häufigsten. Fast | |
| alle leisten zum ersten Mal solche Dienste. | |
| „Die Leute rennen weg vor einem Krieg, da muss man keine Fragen stellen“, | |
| erklärt Mary die überbordende Hilfsbereitschaft. Die 22-jährige Weißrussin | |
| ist seit zwei Tagen eine Freiwillige. Sie ist selbst Flüchtling: Nach den | |
| Wahlen im Sommer 2020 hatte sie an den Protesten gegen den Machthaber | |
| Alexander [2][Lukaschenko] teilgenommen – nachdem ihr Foto in einer Zeitung | |
| erschienen war, schloss die Universität sie aus, und sie floh, um einer | |
| Verhaftung zu entgehen. Ihr Studium als russisch-englische Übersetzerin | |
| setzt sie seitdem in Warschau fort. Seit zwei Tagen steht Mary im ersten | |
| Stock des Zentralbahnhofs von Warschau vor einem schwarzen Stoffvorhang. | |
| Der Vorhang markiert den Zugang zu einem einzelnen abgetrennten Raum, in | |
| dem es ein wenig Privatheit gibt. Das Innere ist ein Matratzenlager. Nur | |
| Frauen und Kinder dürfen hinein. Der Rest der Örtlichkeit ist rundum | |
| verglast. | |
| Die Physikerin Justyne hat keine Zeit, um selbst als Freiwillige im Bahnhof | |
| zu arbeiten. Stattdessen bringt sie Dutzende von Slips, an denen noch | |
| Preisschilder hängen, und überreicht sie Mary vor dem schwarzen Vorhang. | |
| „Ich schäme mich für das Benehmen der polnischen Regierung im Jahr 2015“, | |
| sagt die 45-Jährige. Dass ihre Regierung dieses Mal anders reagiert als vor | |
| sieben Jahren, erklärt sie so: „Es passiert direkt an unserer Grenze.“ | |
| Enttäuscht ist Justyne von der katholischen Kirche Polens: „Sie ist reich. | |
| Sie hätte viel Platz.“ | |
| Erst seit zwei Tagen ist die polnische Feuerwehr stärker am Bahnhof von | |
| Warschau vertreten. In der Vornacht haben die Behörden auch ein weißes Zelt | |
| vor dem Bahnhof aufgeschlagen, es ist der einzige beheizte Raum. „Wir sind | |
| eine Hauptstadt in Mitteleuropa“, seufzt eine Freiwillige, die in dem | |
| weißen Zelt Kaffee ausschenkt. „Warum müssen Leute hier auf dem kalten | |
| Fußboden eines Bahnhofs schlafen?“ | |
| Karolina Ziębińska-Lewandowska ist im zivilen Leben Direktorin des | |
| historischen Museums in der Altstadt von Warschau. Schon während der Krise | |
| an der weißrussischen Grenze im letzten Jahr hat sie Menschen mit dunkler | |
| Hautfarbe unterstützt, die nach Polen fliehen wollten. Jetzt betreut sie | |
| zusammen mit der Gruppe „Granica“ BIPOC-Menschen, die aus der Ukraine | |
| fliehen. Manche sind Studenten, die aus afrikanischen Ländern stammen und | |
| von polnischen Helfern zurückgewiesen worden sind. Seit Kriegsbeginn hat | |
| „Granica“ mehrere Busse mit nicht-ukrainischen Flüchtlingen nach | |
| Deutschland und Frankreich gebracht. | |
| Nunmehr zwei Wochen nach Beginn des Rund-um-die-Uhr-Einsatzes stellt | |
| Karolina Ziębińska-Lewandowska erschöpft fest: „Die Freiwilligen sind am | |
| Ende ihrer Kräfte. Wir brauchen staatliche Unterstützung.“ Ihren Appell | |
| richtet sie dabei nicht nur an die polnische Regierung. Er geht auch an | |
| westliche Länder. | |
| „Eröffnet Auffanglager“, sagt sie, „jeden Tag werden mehr Menschen komme… | |
| 11 Mar 2022 | |
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| Dorothea Hahn | |
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