# taz.de -- Kollektive Trauer in Zeiten der Pandemie: Trauern heißt lernen | |
> Krieg ist heute, Pandemie war gestern. Da ist nur wenig Zeit zum | |
> Innehalten. Doch Trauer ist unabdingbar, weil sie zum Nachdenken anregt. | |
Bild: Gelungenes Trauer-Ritual: 660.000 weiße Fahnen als Symbol für die Covid… | |
Ab dem 20. März sollen fast [1][alle Coronamaßnahmen in Deutschland] | |
wegfallen. Vor Kurzem träumten viele noch von einem unbeschwerten Sommer, | |
dann kam der Krieg in der Ukraine. Ich selbst schwanke zwischen Hoffnung | |
auf einfachere Zeiten und Sorge vor einem Weltkrieg, zwischen | |
Krisenmüdigkeit und [2][Solidarität mit den Geflüchteten], dem Gefühl, dass | |
es jetzt Wichtigeres gibt als eine fast überstandene Pandemie. | |
So oder so geht der Blick lieber nach vorne als zurück. Wir haben zwei | |
lange Jahre durchgehalten. Jetzt noch mal auf Corona schauen, während wir | |
schon mittendrin sind in der nächsten Krise? | |
Das eine schließt das andere nicht aus – es kann uns sogar helfen. Wir | |
haben in den letzten beiden Jahren eine gesellschaftliche Ausnahmesituation | |
erlebt, die uns völlig unvorbereitet getroffen hat. Das Dümmste, was wir | |
jetzt tun könnten, wäre: nicht zurückzublicken. Nicht zurückzublicken | |
darauf, wie die Pandemie unsere Gesellschaft verändert hat, und auf mehr | |
als sechs Millionen Coronatote weltweit, davon bis dato mehr als 120.000 in | |
Deutschland. | |
Durchhalten, nach vorne schauen, weitermachen: Das kann eine kurzfristige | |
Strategie sein, die stabilisierend wirkt. Langfristig werden wir Traumata | |
so nicht los. Wenn wir die Pandemie als Gesellschaft unbeschadet überstehen | |
wollen, müssen wir der Trauer über die Folgen dieser Krise Platz einräumen. | |
Oder, [3][wie US-Präsident Joe Biden] es anlässlich einer Gedenkfeier für | |
die an Covid-19 Gestorbenen formulierte: „To heal, we must remember.“ | |
## Berührende Covid-Tote-Gedenkfeier | |
Ich weiß selbst, wie schwer das ist. Als ich mir während der Recherche für | |
diesen Text die Gedenkfeier für die Verstorbenen der Coronakrise auf | |
Youtube angesehen habe, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 18. | |
April vergangenen Jahres im Konzerthaus Berlin ausrichtete, kamen mir die | |
Tränen. Eigentlich hatte ich nur kurz in die Reden der Hinterbliebenen | |
reinschauen wollen. Eine Dreiviertelstunde später klappte ich meinen Laptop | |
zu, neben dem sich ein kleiner Berg Taschentücher angesammelt hatte, ans | |
Weiterschreiben war nicht zu denken. | |
Die Geschichten dieser Menschen, die vom Sterben ihrer Zugehörigen während | |
der Pandemie berichteten, berührten mich. Da war die Frau eines Arztes, der | |
2020 kurz nach Ausbruch des Virus erkrankte und wenig später starb. Seine | |
letzten Worte am Telefon: „Ich werde jetzt ins künstliche Koma versetzt und | |
beatmet. Mach dir keine Sorgen, du kannst mich bald wieder abholen. Ich | |
freu mich auf dich.“ | |
Oder die 28-Jährige, deren Vater wegen seiner Blutkrebserkrankung in der | |
Klinik war. Sie und ihre Familie durften ihn zwei Monate lang nicht | |
besuchen, auch Videoanrufe waren nur selten möglich. Als er ins künstliche | |
Koma versetzt wurde, hörten sie eine quälende Woche lang nichts. Dann | |
wurden die lebensverlängernden Maßnahmen eingestellt und die Familie durfte | |
ein letztes Mal zu ihm. Die Tochter sagt: „Es fühlt sich an, als hätten wir | |
ihn im Stich gelassen.“ | |
Beim Sterben nicht allein zu sein. Das Gefühl zu haben, für die liebsten | |
Menschen am Lebensende das Einzige zu tun, das man noch für sie tun kann: | |
da sein. Behutsame, achtsame Abschiede zu ermöglichen. All das, wofür die | |
Hospiz- und Trauerbewegung seit Jahrzehnten kämpft, wurde aus der Not | |
heraus unmöglich gemacht. | |
## Wir müssen trauern | |
Die Narben, die diese Erfahrungen bei den Zugehörigen hinterlassen, das | |
Wissen um das Leid, das wir hunderttausend Sterbenden angetan haben, wird | |
bleiben. Schon jetzt zeigen erste wissenschaftliche Befragungen, wie massiv | |
Trauerprozesse erschwert wurden. | |
Die Zahl der Menschen, die das betrifft, ist groß. Es betrifft nicht nur | |
die Zugehörigen derer, die an Corona gestorben sind, sondern auch die | |
Familien und Freundeskreise aller, die in dieser Zeit ihren letzten Atemzug | |
in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung getan haben. Eine Zahl, | |
die in die Millionen geht – und eine, die klarmacht, dass es hier nicht um | |
Einzelschicksale geht. Wir haben eine kollektive Krise erlebt, die auch | |
kollektiv verarbeitet werden muss. | |
Wir müssen trauern, doch leider sind wir darin nicht gut. Unsere | |
Gesellschaft ist vor allem aufs Funktionieren ausgelegt – Trauer, ob | |
gesellschaftlich oder individuell, steht dem im Weg. Sie stört die Abläufe. | |
Meist wird sie als Problem angesehen, das möglichst schnell aus der Welt | |
geschafft werden muss. Dabei verkennen wir, dass nicht Trauer das Problem | |
ist, sondern das, was sie hervorgerufen hat. Trauer ist die Lösung, nämlich | |
ein Bewältigungsprozess. Und einer, der das Potenzial hat, uns etwas für | |
die Zukunft mitzugeben: Krisenkompetenz. | |
Wenn wir es schaffen, traumatische Erfahrungen in unser Leben zu | |
integrieren, anstatt sie zu verdrängen, stärken wir unsere Resilienz. | |
Das gilt auch für uns als Gesellschaft. | |
## USA ein Vorbild? | |
Trauer braucht Ausdruck, Zeit und Ort. Dafür gibt es Rituale. Rituale | |
„symbolisieren die Einheit der jeweiligen Gemeinschaft, ihre Grenzen, ihre | |
inneren Ordnungsprinzipien und leitenden Werte“, schreibt die Historikerin | |
Barbara Stolberg-Rilinger in ihrem Buch „Rituale“. Ein kollektives Ritual | |
wie die bundesweite Gedenkfeier im April 2021 ist wichtig: um zu zeigen, | |
dass die Toten und ihre Hinterbliebenen uns nicht gleichgültig sind. | |
Das Problem an Ritualen ist, dass sie Menschen auch erreichen müssen. Damit | |
tun wir uns schwer, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der | |
standardisierte Rituale immer weniger eine Rolle spielen. Mit den oftmals | |
von kirchlicher Seite initiierten Initiativen und Gedenkfeiern der letzten | |
zwei Jahre bin ich wenig in Berührung gekommen. Auch den feierlichen Akt im | |
Konzerthaus Berlin habe ich erst beim Schreiben dieses Artikels so richtig | |
zur Kenntnis genommen. | |
Was mir allerdings eindrücklich im Gedächtnis geblieben ist, ist die | |
Installation „In America: Remember“ der US-amerikanischen Künstlerin | |
Suzanne Brennan Firstenberg. Im September und Oktober 2021 wurden auf der | |
National Mall in Washington, einer Parkanlage zwischen Kapitol und Lincoln | |
Memorial, mehr als 660.000 kleine weiße Fahnen als Symbol für die | |
Covid-Toten auf einer Fläche von über 8 Hektar aufgestellt – an derselben | |
Stelle, wo 1987 erstmals der Aids Memorial Quilt ausgelegt wurde. | |
Die Fahnen konnten von den Besucher:innen mit den Namen ihrer Toten und | |
mit Widmungen versehen werden. Wer nicht vor Ort war, konnte sich im | |
Internet eine Fahne aussuchen, die dann beschriftet wurde. Wenn ich mir die | |
Bilder und Videos des weißen Fahnenmeeres anschaue, das sich über eine | |
schier unendliche Fläche erstreckt, stockt mir noch heute der Atem. „An all | |
meine Patienten“, schreibt dort eine Krankenschwester auf einer der Fahnen, | |
„Wir haben lange und hart gekämpft. Ich habe für euch gebetet und für euch | |
geweint. Ich wünschte, ich hätte mehr für euch tun können.“ | |
## Geschichten hinter Zahlen | |
Die Installation ist mir deshalb so sehr im Gedächtnis geblieben, weil sie | |
nichts versteckte. Dort gedachten Zugehörige ihrer Toten, saßen Menschen | |
weinend auf Bänken, während andere mit ihrem Hund spazieren gingen und | |
Kinder auf Skateboards durch die weißen Fähnchen cruisten. Für mich war sie | |
nahe dran am perfekten Trauerritual. | |
Sie machte die ungeheuerliche Dimension des Sterbens während der Pandemie | |
erfahrbar, gleichzeitig blitzten die Geschichten hinter den Zahlen und | |
Statistiken hervor und verdeutlichten den Stellenwert jedes einzelnen | |
dieser Schicksale – unter freiem Himmel, mitten im Leben, in direkter Nähe | |
zum Weißen Haus. | |
Wir sollten uns stören lassen. Wir sollten als Gesellschaft trauern. Und | |
manchmal kann kollektive Trauer auch den Anstoß geben für individuelle | |
Trauer. Nachdem ich meinen Laptop zugeklappt hatte, rief ich meinen | |
Redakteur an und sagte ihm, dass ich meinen Artikel nicht rechtzeitig | |
abgeben würde. Ich ging spazieren. | |
Ich fing an, über die letzten zwei Jahre nachzudenken, darüber, wie meine | |
Freundschaften sich verändert hatten, dass mein zwei Jahre alter Sohn seine | |
94-jährige Großmutter in seinem Leben bisher zweimal gesehen hatte und wie | |
vernichtend mich die Erkenntnis getroffen hatte, dass sich von einem Tag | |
auf den anderen alles ändern konnte, wie fragil und angreifbar unsere | |
Gesellschaft, unsere Grundrechte waren. | |
Über all das, was ich lange Zeit gut weggepackt hatte. Das tat weh, und es | |
war gut. Es waren nur ein paar kleine Schritte, aber in die richtige | |
Richtung. | |
17 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Caroline Kraft | |
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