| # taz.de -- Politisches Klima im Sudan: Komitees der Hoffnung | |
| > Jahrzehntelang litten die Menschen im Sudan unter einer Diktatur. Jetzt | |
| > kämpfen sie für eine demokratische Regierung und eine neue Gesellschaft. | |
| Bild: Viele sudanesische Familien sind im Laufe der Jahre in verschiedene Teile… | |
| Die ganze Welt sah im April 2019 das Bild von Alaa Salah – jener jungen | |
| Frau, die auf einem Auto stand und revolutionäre Gedichte rezitierte, als | |
| das Volk den Kriegsverbrecher und Diktator Umar al-Bashir stürzte. Das Bild | |
| weckte Neugier auf eine junge Generation, die sich gegen eines der | |
| blutigsten Regime in der Region auflehnte. | |
| Aber die Geschichte ist fast immer größer als die Bilder, die um die Welt | |
| gehen, oder als die Zitate, die berühmt werden. 2019 erlebte der Sudan die | |
| dritten Massenproteste seit seiner Gründung. Nachdem das Land 1956 die | |
| Unabhängigkeit von Großbritannien und Ägypten erlangte, kamen Bürgerkriege | |
| und Putsche. Auf jeden Putsch folgten Proteste. Jeder dieser Aufstände | |
| wurde durch Korruption und daraus folgende wirtschaftliche Probleme | |
| ausgelöst – und von Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Freiheit | |
| begleitet. So auch diesmal. | |
| 1994, der letzte Putsch lag fünf Jahre zurück, wurde in einer Familie | |
| sudanesischer Einwanderer in Saudi-Arabien ein Junge namens Mohammed | |
| Abdalrahim geboren. Damals wanderten Sudanes:innen dorthin aus, um der | |
| harten wirtschaftlichen Situation in ihrem Heimatland zu entkommen. Der in | |
| Dschidda zur Welt gekommene Mohammed kannte vom Sudan nur die Erzählungen | |
| der Eltern. Wie viele sudanesische Familien, die im Laufe der Jahre in | |
| verschiedene Teile der Welt ausgewandert sind, trug auch diese Familie eine | |
| tiefe Liebe zu allem, was sudanesisch ist, in sich – und auch die Hoffnung, | |
| zurückkehren zu können. | |
| Aber das konnte sie lange nicht, denn der Sudan steckte in der sogenannten | |
| Nationalen Rettung fest. So nannte sich das Regime unter der Führung von | |
| Umar al-Bashir, der 1989 die erste demokratische Regierung stürzte und das | |
| Land fortan fast 30 Jahre diktatorisch regierte. Dennoch kam Mohammed in | |
| den Sudan zurück, um die High School abzuschließen. Er machte einen | |
| Abschluss als IT-Spezialist, und um über die Runden zu kommen, arbeitete | |
| er nachts in einem Callcenter. Groß, schlank und immer lächelnd, sah | |
| Mohammed aus wie die meisten sudanesischen Männer in jungem Alter. Als | |
| Jugendlicher war er dafür bekannt, dass er sich aus politischen Konflikten | |
| heraushielt und Fragen nach seiner politischen Einstellung und seiner | |
| Stammeszugehörigkeit mit „Ich weiß es nicht, ich bin einfach Sudanese“ | |
| beantwortete. | |
| Trotzdem schloss sich Mohammed wie die meisten Sudanes:innen der | |
| „Dezemberrevolution“ von 2018 an, die das Regime von Bashir schließlich | |
| stürzte. Er erlebte 2019 die politische Einigung zwischen den politischen | |
| Parteien, die die Koalition „Kräfte der Freiheit und des Wandels“ | |
| gründeten, und der Militärjunta. Und trotz der komplizierten Lage für den | |
| Übergang, die das Abkommen schuf, und trotz der Trauer über den Tod | |
| Hunderter Protestierender hatten Mohammed und viele andere Hoffnung auf | |
| einen neuen Sudan. | |
| ## Erneuter Militärputsch nur zwei Jahre später | |
| Doch am 25. Oktober 2021 putschte das Militär erneut – und zwar ebenjene | |
| Militärjunta, die 2019 das Abkommen mit den zivilen Parteien unterzeichnet | |
| hatte. General Fattah al-Burhan setzte sich an die Spitze der neuen | |
| Übergangsregierung – und verhaftete alle Mitglieder seiner eigenen | |
| Regierung. Unter dem Vorwand der „nationalen Sicherheit“ legte er das | |
| Internet für 25 Tage lahm. | |
| „Als Mohammed von dem Putsch erfuhr, ging er sofort mit seinen Freunden und | |
| Kollegen los, um zu protestieren“, erzählt mir Amel Abbas, die Mutter von | |
| Mohammed Abdalrahim. Er kannte nur eine Möglichkeit des Widerstands: | |
| friedlichen Protest. Dennoch wurde Mohammed am 25. Oktober um 9 Uhr morgens | |
| bei einer der ersten Demonstrationen nach dem jüngsten Staatsstreich in den | |
| Kopf geschossen und starb kurz darauf. Der 27-Jährige war einer der ersten | |
| friedlich Protestierenden, die nach dem Putsch getötet wurden. „Mohammed | |
| war ein verantwortungsbewusstes Kind. Er hat uns nie Sorgen bereitet, er | |
| war sehr leidenschaftlich bei seiner Vision für den Sudan“, sagt seine | |
| Mutter Amel. Wie Millionen junger Sudanesen hatte er Hoffnung. „Er lebte | |
| und starb im Streben nach einer zivilen Regierung.“ | |
| Nach Mohammeds Tod folgten bis Anfang Januar rund 60 weitere Morde durch | |
| die Putschisten. Trotzdem demonstrieren die Menschen weiter in den Straßen. | |
| Sie tun es, obwohl im November ein neues politisches Abkommen unterzeichnet | |
| wurde, ähnlich dem von 2019. An der Spitze stand derselbe Premierminister, | |
| Abdallah Hamdok. Aber das Volk traut den Militärführern nicht mehr. „Nur | |
| ein Idiot würde dies tun“, sagt mir ein Demonstrant auf der Straße, nachdem | |
| Hamdok das zweite Abkommen unterzeichnet hatte. Anfang Januar ist Hamdok | |
| schließlich zurückgetreten. Das ändert aber wenig, weil die Militärs an der | |
| Übergangsregierung beteiligt bleiben. Auf der Straße heißt es weiter: | |
| „Madaniya“, Zivilregierung. Die Menschen wollen keine zivil-militärische | |
| Zwischenlösung, sondern eine reine Zivilregierung ohne Einmischung des | |
| Militärs. | |
| Das politische Klima im Sudan ist heute schwer zu verstehen. Oder wie ist | |
| es zu erklären, dass die Menschen hier seit mehr als drei Jahren alle ihre | |
| Fähigkeiten, Energie, Zeit und Geld einsetzen, um die politische und | |
| soziale Situation im Land zu verbessern? Auch wenn die Jungen die Proteste | |
| bestimmen, beteiligen sich Menschen aller Altersklassen und sozialen | |
| Schichten, Männer und Frauen an ihnen. Organisiert wird der zivile | |
| Ungehorsam von sogenannten Widerstandskomitees in den Nachbarschaften – | |
| horizontal organisierte Graswurzelorganisationen ohne Führungspersonen. Wie | |
| jede überlebensgroße Bewegung tappen wir Sudanesen wahrscheinlich in die | |
| Falle, die Proteste zu sehr zu romantisieren. Es kann einen manchmal blind | |
| machen, wenn man so viele Opfer gebracht hat wie wir. | |
| ## Demonstrationen als vielfältiger Protest | |
| Die Proteste waren auch ein ständiger Widerstand gegen frauenfeindliche | |
| Äußerungen und Verhaltensweisen. Frauen standen von Anfang an an der | |
| Spitze der Demonstrationen und scheuten nicht davor zurück, Belästiger | |
| anzuprangern und Schritte gegen sie einzuleiten. Entwicklung beinhaltet | |
| auch das Ablegen toxischer Konzepte. Denn Sudanes:in zu sein bedeutet, | |
| dass sich viele Identitäten überschneiden. Obwohl wir alle schwarz sind, | |
| tappen wir oft in die Fallen von Tribalismus, Frauenfeindlichkeit und | |
| Rassismus. Ein Weg, dies zu überwinden und uns zu vereinen, ist Kunst zu | |
| schaffen, die alle einschließt. Und eine Straßenkultur zu schaffen, die für | |
| alle sicher ist. | |
| Bis Dezember 2018 gab es Graffiti beispielsweise nur in bestimmten | |
| städtischen Gebieten. Doch mit den Demonstrationen entwickelte sich der | |
| Drang, den öffentlichen Raum zu nutzen, um die Geschichten der | |
| Demonstrant:innen zu erzählen und ihre Träume auszudrücken. Jetzt sind | |
| die Häuser der Märtyrer:innen mit ihren Porträts bemalt, und überall in | |
| der Stadt sind Slogans des Protests wie „Freiheit, Frieden und | |
| Gerechtigkeit“ und „Wehrt euch, Mädchen, dies ist eine Frauenrevolution“ | |
| zu finden. | |
| Das ständige Wechseln der Bewegung zwischen alten und neuen Taktiken ist | |
| erfrischend – von Barrikaden wie in der Französischen Revolution des 18. | |
| Jahrhunderts bis zur Nutzung von Twitter, um zivilen Ungehorsam | |
| anzukündigen. Die Darstellung dieser Bewegung in den Medien hat es oft | |
| versäumt, ihre soziale und politische Vielschichtigkeit zu spiegeln. Um | |
| wirklich zu verstehen, was derzeit im Sudan geschieht, muss man den | |
| Sudanes:innen erlauben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. | |
| 12 Jan 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Lujain Alsedeg | |
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