| # taz.de -- Altenpflege: Der Preis des langen Lebens | |
| > Pflegebedürftigkeit im Alter kostet und darf nicht zu einem persönlichen | |
| > Schicksal werden. Ein Soli-Zuschlag könnte ein Ausweg sein. | |
| Bild: Ein höherer Pflegebeitrag ist zwingend notwendig | |
| Aus einem Sondervermögen soll [1][die Bundeswehr künftig 100 Milliarden | |
| Euro zusätzlich] bekommen. Nur mal als Beispiel: Mit „nur“ 10 Milliarden | |
| Euro im Jahr ließen sich mehr als 200.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in der | |
| Altenpflege, darunter die Hälfte examiniert, einstellen. Ein solcher | |
| Aufwuchs würde die Altenpflege wie von Zauberhand verwandeln. Die Angst vor | |
| dem hohen Alter wäre für alle Bürger:innen abgemildert. Es ist ein | |
| Traum. | |
| Stattdessen muss man sich darauf einstellen, dass der große Aufwuchs an | |
| Steuermitteln für die Finanzierung der Pflege womöglich gar nicht kommen | |
| wird. Im Kampf um den Bundeshaushalt, verschärft durch die geplante | |
| Steigerung der Militärausgaben, durch Coronafolgen, Inflationssorgen und | |
| die Energiewende, könnte der soziale Bereich womöglich sogar Federn lassen. | |
| Dabei hat die Pflege jetzt schon [2][ein massives Finanzierungsproblem], | |
| das Verteilungsfragen in den Mittelschichtmilieus und bei | |
| Hochverdiener:innen berührt. Die Frage lautet: Welche Altersrisiken | |
| müssen von den Betroffenen getragen werden und welche werden von der | |
| Solidargemeinschaft geschultert? Was ist Schicksal, was ist | |
| Staatsverantwortung? | |
| Leider reicht es nicht aus, als Ausweg der Misere die Schuld bei | |
| Sündenböcken zu suchen, denen man nur das Handwerk legen müsste. Es ist | |
| zwar richtig, für eine bessere Aufsicht der privaten Investoren in der | |
| Pflege zu plädieren. Fragwürdige Immobiliendeals und Schuldenübertragungen | |
| der Private-Equity-Firmen sollten unterbleiben. Aber es bei der Empörung | |
| über dubios finanzierte private Heimketten zu belassen, greift zu kurz. | |
| [3][60 Prozent der Pflegebedürftigen] werden in freigemeinnützigen – wie | |
| den kirchlichen – und kommunalen Einrichtungen versorgt. Caritas und Co | |
| haben oftmals einen besseren Ruf und längere Wartelisten als die Privaten. | |
| Der Anteil der Personalkosten ist hier größer, die Gewinnmarge kleiner als | |
| bei den Privaten, sagt der [4][aktuelle Pflegeheim-Rating-Report] des | |
| RWI-Instituts in Essen. Die Eigenanteile für die Pflegebedürftigen liegen | |
| bei den gemeinnützigen Häusern im Schnitt höher als bei den privaten. | |
| Die Pflegelöhne in der Altenpflege steigen. Die Pflegekommission von | |
| Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat [5][für ungelernte Pflegekräfte] ab | |
| September einen Mindestlohn von fast 14 Euro festgelegt. Das ist zu | |
| begrüßen. Aber höhere Löhne haben auch in der Vergangenheit zu einer | |
| Erhöhung der Eigenanteile geführt, die Pflegebedürftige leisten müssen. So | |
| ist der [6][durchschnittliche Eigenanteil] bei einem Heimaufenthalt nach | |
| den jüngsten Daten des Verbandes der Ersatzkassen (VDEK) auf über 2.000 | |
| Euro im Monat gestiegen. So viel Geld im Monat für einen Heimaufenthalt | |
| bezahlen zu müssen macht vielen Ruheständler:innen Angst: Angst, dass | |
| der Pflegefall das Einkommen, dann das Vermögen und die hart ersparte | |
| Immobilie auffressen könnte und am Ende der Gang zum Sozialamt droht. | |
| Die skandalumwitterte und wegen schwerer Pflegemängel geschlossene | |
| Seniorenresidenz Schliersee in Bayern von [7][Sereni Orizonte] kostete um | |
| einige Hundert Euro weniger im Monat als andere Einrichtungen. | |
| Bemerkenswerterweise – und traurigerweise – protestierten sogar Angehörige | |
| gegen die Schließung des schlecht geführten Billigheims. | |
| Man übersieht leicht, dass gute Rund-um-die-Uhr-Pflege eine der teuersten | |
| Dienstleistungen ist. Laut des Rating-Reports werden für eine | |
| Heimbewohner:in im mittleren Pflegegrad 3 mit einer „schweren | |
| Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“ im Durchschnitt nur rund 67 Euro an | |
| Kosten für die tägliche unmittelbare Pflegeleistung veranschlagt. 67 Euro! | |
| Dafür kriegt man im Urlaubshotel nicht mal eine einstündige | |
| Lomi-Lomi-Massage. Und im Heim sollen damit unter anderem Waschen, | |
| Anziehen, Toilettenbegleitung und Hilfe beim Essen abgegolten werden, für | |
| 24 Stunden. Die Fließbandarbeit an Hochgebrechlichen nagt an der Würde und | |
| den Nerven auch der Pflegekräfte und führt zum tausendfachen Ausstieg aus | |
| dem Beruf. | |
| Woher also soll das Geld kommen für die besseren Löhne und für eine bessere | |
| Personalausstattung, für eine Deckelung der Eigenanteile, die sich die | |
| Sozialverbände wünschen? Die alternde Gesellschaft hat Angst davor, in den | |
| Spiegel zu schauen, wo sie Hunderttausende von Inkontinenten und Dementen | |
| erblickt. Auch man selbst könnte das irgendwann mal sein; Bildung oder Geld | |
| schützen davor nicht. | |
| ## Höherer Pflegebeitrag ist zwingend | |
| Eine Anhebung des Beitrags für die Pflegeversicherung, im Koalitionsvertrag | |
| der Ampel angekündigt, wird unumgänglich sein. Auch der Vorschlag im | |
| Koalitionsvertrag, eine freiwillige zusätzliche Pflegeversicherung | |
| einzurichten, paritätisch von den Arbeitgebern mitfinanziert, die dann die | |
| Eigenanteile mit abdeckte, könnte sinnvoll sein. Höhere Zuschüsse aus | |
| Steuergeldern müssen kommen. | |
| Warum nicht über eine Art Solidarzuschlag für die Pflege nachdenken, der | |
| besonders Hochverdiener:innen belastet? Das mag unrealistisch klingen | |
| angesichts der aktuellen Energiekrisen, Inflationssorgen und | |
| Aufrüstungspläne. Lässt man aber alles beim Alten, wird die | |
| Pflegebedürftigkeit allein zum persönlichen Schicksalsschlag, von dem man | |
| hofft, dass es einen nicht trifft. Die Chancen dafür stehen schlecht in | |
| einer Gesellschaft der Langlebigen. | |
| Von den über 85-Jährigen ist die Mehrzahl ambulant hilfsbedürftig, fast | |
| jedeR Fünfte muss ins Heim. Viele denken: Vielleicht kommt man später ja | |
| doch irgendwie zu Hause zurecht, mit einem Pflegedienst, der zweimal am Tag | |
| vorbeischaut, und eigenem heldenhaftem Durchhaltevermögen. Vielleicht lebt | |
| man ja auch gar nicht so lang. Vielleicht aber belügt man sich auch ein | |
| bisschen selbst. | |
| Es geht jetzt darum, den öffentlichen Raum zu erhalten für die auch | |
| ethische Diskussion, welche kollektiven Opfer für die Altenpflege die | |
| Gesellschaft der Langlebigen erbringen sollte. Schon das wird nicht einfach | |
| werden. | |
| 3 Mar 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bundestags-Sondersitzung-zur-Ukraine/!5835039 | |
| [2] /Entlastung-fuer-Kinder-Pflegebeduerftiger/!5618325 | |
| [3] /Kommentar-Erhoehung-des-Pflegebeitrags/!5540184 | |
| [4] https://www.rwi-essen.de/presse/mitteilung/462/ | |
| [5] /Unternehmer-kritisieren-Abschiebepraxis/!5527884 | |
| [6] https://www.vdek.com/presse/daten/f_pflegeversicherung.html | |
| [7] https://www.rnd.de/panorama/augsburg-team-wallraff-in-pflegeheim-von-sereni… | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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