# taz.de -- Eine ganz spezielle Tageszeitung: Und täglich dieselben Nachrichten | |
> Viele haben das Gefühl, gerade in eine Zeitschleife geraten zu sein. Vor | |
> über zehn Jahren hat Tilo Pätzolt die dazu passende Zeitung | |
> herausgebracht. | |
Bild: Jeden Tag in alter Frische: Tilo Pätzolt liest seine Zeitung | |
BERLIN taz | Zeitschleifen sind faszinierend, vor allem, wenn man nicht | |
selbst drinhängt. So wie Phil Connors in dem Film „Und täglich grüßt das | |
Murmeltier“. Immer wieder beginnt für den von Bill Murray gespielten | |
TV-Wetteransager der 2. Februar, der in der amerikanischen Kleinstadt | |
Punxsutawney traditionell als Tag des Murmeltiers begangen wird, am | |
nächsten Tag neu. Mit der immer gleichen Szene: Der Radiowecker piept und | |
Sonny and Cher singen „I Got You Babe“. | |
Momentan fühlen sich viele Menschen daran erinnert. Das Murmeltier könnte | |
diesmal zum Beispiel Lauterbach heißen. Seit fast zwei Jahren ist es doch | |
so: Man wacht auf und aus den Frühnachrichten grüßt täglich eine | |
Inzidenzwarnmeldung. Leider ist das nicht wirklich lustig, und ob es die | |
Coronakomödie wird, an der vielleicht schon irgendwo gedreht wird, weiß man | |
auch nicht. | |
Was in einem Unterhaltungsfilm gut funktionieren kann, ist ja schon im | |
nichtfiktionalen Fernsehen nur unfreiwillig komisch. Als die ARD am 31. | |
Dezember 1986 versehentlich die Silvesteransprache des damaligen | |
Bundeskanzlers Helmut Kohl aus dem Vorjahr gesendet hatte, fiel das erst | |
nach genauer Beobachtung auf – um dann für einen Skandal zu sorgen. Und | |
wenn eine Zeitung auf totale Wiederholung setzt und mit einhundert Prozent | |
gleichen Artikeln für jeden Tag wirbt, kann das schon gar nicht klappen. | |
Eigentlich. Und doch besitzen rund zweitausend Menschen in Deutschland eine | |
Zeitung (falls sie die nicht längst entsorgt haben), die das | |
Murmeltier-Prinzip ins Zeitungswesen übertrug: Die Zeitung heißt Die | |
Zeitung und ist laut Dachzeile „Einmalig: Die erste Zeitung für jeden Tag – | |
immer gültig“. Herausgegeben wurde sie eines ungenannten Tages vor 14 | |
Jahren („Datum: Heute“) von Tilo Pätzolt. | |
Damals war der geborene Friedrichshainer, der in Marzahn aufwuchs, noch | |
Student der Mathematik und Philosophie an der Humboldt-Universität. Mit | |
seiner schlichten Brille, seinem unexakt geschnittenen Bart und seiner | |
Mode-interessiert-mich-nicht-Kleidung wirkt der schlanke 41-Jährige immer | |
noch ein wenig wie ein Student. Tatsächlich ist er heute Geschäftsführer | |
einer Firma für Schülernachhilfe in Wilmersdorf. | |
## Der unausweichliche Tod? | |
Dass seine „Zeitung“ zwar keinen speziellen Erscheinungstag, aber ihr | |
Erscheinungszeitraum doch ein besonderer war, weiß Tilo Pätzolt noch gut. | |
Als er die Gründung seiner Tageszeitung beschlossen hatte, war gerade die | |
Zeit, in der sich das iPhone anschickte, zum Treiber des digitalen | |
Nachrichtenkonsums über Mobilgeräte zu werden. Damals bescheinigten viele | |
der gedruckten Zeitung, diesem ältesten Massenmedium der Welt ( in Leipzig | |
erschien 1650 die erste Tageszeitung), den unausweichlichen Tod durch | |
Online. | |
Das war jedoch nicht der Hauptgedanke hinter der Gründung der immer | |
gültigen Tageszeitung, den Pätzolt 2008 hegte. Was ihn am meisten zu seiner | |
Innovation trieb, weiß er noch ziemlich gut. „Viele Leute sagen ja, in der | |
Zeitung stehe eh immer das Gleiche. Das wollte ich einfach mal auf die | |
Probe stellen, auf literarisch-lustige Weise. Es war der Versuch, etwas | |
Unterhaltsames zu schreiben, was auch in 12, 13 Jahren noch gültig sein | |
könnte.“ | |
Ein Ausprobierer war Pätzolt seit seiner Kindheit. Als Schüler am Gymnasium | |
hatte ihn das Buch „Sophies Welt“ im Unterricht so fasziniert, dass er es | |
in einer Projektwoche teilweise verfilmte. „Ich habe ein Drehbuch | |
geschrieben und den Schnitt gemacht. Das lief dann eine Stunde lang nachts | |
um zwei im Offenen Kanal.“ | |
Sein Drang nach künstlerischem Ausdruck führte anschließend zum Schreiben | |
von Kurzgeschichten, die er auf der Lesebühne Chaussee der Enthusiasten | |
vortrug. Worum es in den Geschichten ging? „Kleine intellektuelle | |
Gedankenspielchen. Der Stürmer vorm Tor, wie er zu lange nachdenkt vorm | |
Torschuss. Oder was passiert, wenn unsere Zeit rückwärts laufen würde.“ | |
## Literarische Kleinigkeiten | |
Mit seinen Kurzgeschichten und Gedichten füllte er kleine, selbst | |
gestaltete Heftchen, die er in den Kneipen von Friedrichshain verkaufte. | |
„Literarische Kleinigkeiten“ nannte er die Werke, mit denen er seiner | |
Experimentierlust frönte. Er offerierte Gedichte zum Selberbasteln oder | |
eine neuartige Dreispaltenliteratur, in der ein Text, die Gedanken des | |
Autors dazu sowie die Kritik parallel lesbar und sofort vergleichbar waren. | |
Ergänzt wurden die „Kunststückchen“-Hefte durch Gastbeiträge und | |
Comicstrips von Freunden. „Schreiben war mein Hobby“, sagt er. „Ich habe | |
jedes Jahr ein neues Heft gemacht und dadurch mein Studium finanziert. Die | |
Zeitung sollte mein letztes Projekt werden.“ | |
Tatsächlich wurde die Zeitung ein Kneipen-Verkaufserfolg und half ihm neben | |
seinem Job als Nachhilfelehrer, bis zum Ende des Studiums über die Runden | |
zu kommen. Die erste Zeitungsauflage von 1.500 Exemplaren wurde komplett | |
verkauft, von der zweiten 1.000. Die Käufer konnten den Preis frei | |
bestimmen. Meist orientierten sie sich an den damals üblichen | |
Zeitungspreisen und gaben durchschnittlich eineinhalb Euro. Abzüglich der | |
Druckkosten von 50 Cent pro Stück blieb einiges übrig. „Wenn ich an einem | |
Abend 50 Stück verkauft hatte, war das für Studentenverhältnisse gutes | |
Geld“, sagt Tilo Pätzolt. | |
Bei der Erstellung der Zeitung hatten ihm eine Handvoll Freunde geholfen, | |
eine WG-Mitbewohnerin ebenso wie eine alte Schulfreundin und sein Vater. | |
Die Artikelthemen und Rubriken hatte sich jedoch der Chefredakteur und | |
Jungverleger ausgedacht. Sie orientierten sich teilweise an denen | |
herkömmlicher Tageszeitungen, an der Streiflicht-Kolumne der Süddeutschen | |
Zeitung, an der verboten-Rubrik der taz und an den Klassikern Rätsel, | |
Horoskope, Vermischtes. | |
Dass durchgängig auf allen Fotos zu den Artikeln Tilo Pätzolt zu sehen ist, | |
könnte man als hintergründiges Zitat des DDR-Journalismus werten, der es | |
1987 mal schaffte, in einer Ausgabe des Neuen Deutschland 44 Fotos von | |
Staatschef Erich Honecker zu platzieren. Ist aber kein Zitat. Pätzolt fand | |
es einfach nur einen großen Spaß. | |
## Ein Experiment | |
Neben dem Spaß war es auch die Experimentierfreude, die ihn reizte. „Die | |
Zeitung sollte eine Art Experiment sein“, sagt er. Tatsächlich ist sie ein | |
doppeltes Experiment. Zum einen als physisches Produkt: Ist sie | |
möglicherweise irgendwann die letzte gedruckte Tageszeitung, weil sie ja | |
immerfort existiert? Zum anderen als inhaltliches Produkt: Würden die Texte | |
wirklich eine dauerhafte Aktualität haben, geschrieben 2008 und wahrhaftig | |
auch 2021, 2022 und so weiter? | |
Ein paar der Exemplare hat Pätzolt aufgehoben, für Freunde und Bekannte. | |
Und wenn man sich Die Zeitung heute durchliest, erlebt man schon in | |
etlichen Überschriften Zeitschleifeneffekte: „Streit im EU-Parlament“, | |
„Metallbranche droht Streik“, „Rundfunkgebühren werden erhöht“. „Es… | |
immer wiederkehrende Dinge, Debatten und Argumentationsmuster“, sagt | |
Pätzolt, „das wollte ich auch ein bisschen ins Lächerliche ziehen.“ | |
Wenn der Artikelschreiber von damals die Nachrichten von heute hört, denkt | |
er schon mal: Das steht doch alles schon in meiner Zeitung. Zum Beispiel: | |
„Russland ärgert Ukraine“. Diese Meldung ist seit ihrem Druck ja nie | |
überholt worden, im Gegenteil, aus Ärger wurde sogar Krieg. Auch in Bezug | |
auf Berlin sind manche Meldungen ziemlich aktuell: Dass es am Alex | |
Straßensanierungen gebe. Stimmt! Dass an Schulsanierungen gespart werde. | |
Stimmt zwar nicht, dass das Thema Schulsanierungen aber ein dringendes | |
Problem ist, daran hat sich überhaupt nichts geändert. Und die Meldung, | |
Hertha baue ein neues Stadion (mit 130.000 Plätzen)? Okay, nichts lässt | |
sich ausschließen, aber momentan sieht es nicht danach aus. | |
„Vermutlich wird sich Hertha wünschen, dass meine Nachricht stimmt. Wobei | |
sie wohl auch mit einem neuen Stadion mit weniger Zuschauern zufrieden | |
wären“, sagt Tilo Pätzolt, der sich trotz seiner beachtlichen | |
Vorhersage-Trefferquote nicht als Prophet fühlt. | |
In seine selbst produzierte Zeitung hatte er ohnehin lange nicht mehr | |
geguckt. Er hat sie eigentlich nur vorgeholt, wenn er mal ein Exemplar | |
verschenken wollte, um zu zeigen, „was man so gemacht hat im Leben“. Und | |
ja, ein Exemplar habe es sogar bis nach Japan geschafft. Jedenfalls erhielt | |
er mal ein Foto, auf dem der freudige Besitzer mit Die Zeitung vorm | |
Fujiyama posiert. | |
Dass Tilo Pätzolt weder beim Zeitungmachen noch beim dichterischen | |
Schreiben geblieben ist, treibt ihn nicht um. „Ich wollte immer selbständig | |
werden. Einen gewissen Business-Kribbel hatte ich bereits früh, der war | |
wohl letztlich stärker als der Drang zur Literatur. Aber mein Leben ist ja | |
noch nicht vorbei!“ | |
Seit zehn Jahren arbeitet der einstige Hobbyliterat nun schon als Chef | |
seines eigenen Unternehmens, das 700 Kinder bei der Schülernachhilfe | |
betreut. Wenn es in dem Bereich einen Link zu seiner immer gültigen Zeitung | |
gibt, dann um den Schülern Medienkompetenz zu vermitteln. Damit sie bei der | |
Vorbereitung von Referaten nicht nur Wikipedia zitieren. Sie sollen mit | |
wachem Blick durch die Welt gehen und Zeitung lesen, egal ob gedruckt oder | |
digital. | |
2 Feb 2022 | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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