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# taz.de -- Unsichere Zeiten: Der Kühlschrank als sicherer Hafen
> In diesen Tagen scheint vieles unkontrollierbar. Unserem Autoren gibt
> jedoch der Blick in seinen vollen Kühlschrank ein Gefühl von Sicherheit.
Bild: Sicherheit in unruhigen Zeiten: Blick in den Kühlschrank
Es sind unsichere Zeiten. Also schaue ich in meinen Kühlschrank. Wenn ihnen
langweilig ist und sie nicht wissen, was sie sonst machen sollen, schleppen
sich manche Menschen zum Kühlschrank, öffnen ihn, schauen rein und
schließen ihn wieder, ohne etwas herauszunehmen. Für mich ist der Blick in
den Kühlschrank keine beiläufige Verlegenheitsgeste. Der Blick in den
Kühlschrank zeigt mir, was ich zu erwarten habe. Je voller der Kühlschrank,
desto wohler fühle ich mich. Ganz egal, ob mir der Inhalt gefällt.
Wenn mich mal ein Freund besucht, wir in der Küche sitzen und ich ihn darum
bitte, zwei frische Pils aus dem Kühlschrank zu heben, dann wundert er
sich: Junge, was willst du mit so viel Zeug? Und wenn ich in seiner Küche
sitze, er mich bittet, zwei frische Pils aus dem Kühlschrank zu heben, dann
wundere ich mich. Sechs Bierflaschen, eine Butterdose und ein paar Scheiben
Schmelzkäse: Wie lost muss der Junge sich fühlen?
Als ich vor ein paar Jahren in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, habe
ich mir fast alles gebraucht gekauft – außer meinen Kühlschrank. Wenn ich
unzufrieden bin, mit mir, mit dem Leben, mit der Welt, dann ziehe ich los
und fülle die Lücken in den Türfächern mit Eiern und Milchschnitte. Warum?
Ich kann nur spekulieren.
## Dogma des Individualismus
Vielleicht hab ich mir das [1][irgendwann abgeguckt von den Eltern], Tanten
und Onkeln. Als die so alt waren wie ich, waren erst wenige Jahre
vergangen, seit sie in ein fremdes Land gekommen waren, um dort eine neue
Existenz aufzubauen. Vieles in ihren Leben war unberechenbar und
unkontrollierbar. Was sie kontrollieren konnten: dass sie arbeiten gehen
und mit dem Geld, das sie verdienen, den Kühlschrank füllen. Vielleicht ist
das aber auch nur billige Küchenpsychologie und ich bin einfach grundlos
voll das Konsumopfer. Das Gefühl der Sicherheit ist in jedem Fall echt.
Und ich freue mich über die beständige Beziehung zu diesem Küchengerät.
Andere haben eine große Plattensammlung, ein Auto oder schöne Kunst. Ich
habe meinen Kühlschrank. Manchmal ist die Freude über ihn besonders groß.
So auch vergangene Woche, als die Schnelltests dann doch positiv ausfielen.
[2][Und der anschließende PCR-Test auch]. Der Kühlschrank war aber zum
Glück: voll.
Weil man aber auch in der Quarantäne isst, leerte er sich nach und nach.
Als auch die Milch irgendwann alle war, erledigte sich eine Illusion auf
schmerzhafte Weise, die ich lange über das Füllen des Kühlschranks
kultiviert hatte. Ich sah mich mit der Wahrheit konfrontiert: Ich habe
natürlich nicht alleine alles unter Kontrolle, ich bin von anderen Menschen
abhängig, auch wenn der Zeitgeist mit seinem Dogma des Individualismus
anderes behauptet. Der zufriedene Blick in den Kühlschrank wich so dem
zufriedenen Blick auf die Einkaufstüten, die Freund:innen vor meiner
Wohnungstür abstellten. Schön, auch in dieser Situation zu erleben, dass
ich immer auf sie zählen kann.
25 Feb 2022
## LINKS
[1] /Bedeutung-von-1-Mai/!5765641
[2] /Deutschland-im-zweiten-Corona-Winter/!5825325
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
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Sicherheit
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Schwerpunkt Coronavirus
Podcast „Couchreport“
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