# taz.de -- Schweizer Medienkollektiv gewinnt Preis: Journalismus ohne Profit | |
> Das anarchistische Kollektiv „megafon“ erhält die Auszeichnung „Schwei… | |
> Chefredaktion des Jahres“. Es sagt viel über die Medienwelt aus. | |
Bild: Die Berner Reitschule wurde während der Jugendunruhen in den 1980er-Jahr… | |
Bern taz | Nur wenige Gehminuten vom [1][Berner Hauptbahnhof] entfernt, | |
direkt an den Gleisen, liegt die Reitschule. Ein Walmdach legt sich über | |
das verwinkelte Gebäude, Türme ragen in die Luft. Früher waren hier die | |
städtischen Stallungen untergebracht. | |
Heute steht auf der Fassade: „Nazis benennen, Farbe bekennen.“ Auf dem | |
Vorplatz sitzen Menschen in der Sonne, trinken Bier, fahren Skateboard. Wer | |
eines der großen Tore der Reitschule aufstößt, gelangt in den Innenhof. Von | |
hier weisen Schilder den Weg zum Restaurant, dem Frauenraum, dem | |
Konzertsaal, der Bar, der Bibliothek. | |
Das Kulturzentrum Reitschule ist das Herz der autonomen Bewegung in Bern. | |
Das Gebäude wurde während der Jugendunruhen in den 1980er-Jahren besetzt. | |
Zu dieser Zeit flammten in Städten in der ganzen Schweiz Proteste auf. Sie | |
forderten Freiräume für junge Menschen – und nahmen sich diese, ohne zu | |
fragen. | |
Am Ende eines der vielen Gänge sitzen an diesem Sonntagnachmittag Ende | |
Januar fünf Menschen um einen großen Tisch. Ihre Köpfe sind über Texte | |
gebeugt. „Gerade lesen wir Korrektur“, sagt Vera Diener und läuft in einen | |
zweiten Raum hinüber. | |
## Früher ein linksaktivistisches Szeneblatt | |
„Hier wird gelayoutet“, sagt Diener und deutet auf Jérémie Reusser, der a… | |
einen PC schaut. An einem anderen Tisch sitzt Reto Riggs und arbeitet an | |
einer Illustration. „Heute Abend muss das megafon in den Druck, dann falten | |
und versenden wir die Zeitung.“ | |
Diener, Reusser und Riggs sind [2][Teil des Zeitungskollektivs] der | |
monatlich erscheinenden Publikation megafon. Die Zeitung gibt es wie die | |
Reitschule seit über 30 Jahren. Lange Zeit galt es als Sprachrohr des | |
autonomen Zentrums, ein linksaktivistisches Szeneblatt, das über Demos und | |
Veranstaltungen im Haus berichtete. Heute publiziert es Texte und Comics | |
über psychische Gesundheit, Musik, Stadtpolitik oder transformative | |
Gerechtigkeit – je nachdem, was die Redaktionsmitglieder gerade | |
interessiert. | |
2021 wurde der Zeitung eine unerwartete Ehre zuteil: Das Branchenmagazin | |
Schweizer Journalist:in ernannte sie zur Chefredaktion des Jahres. In | |
den vorigen Jahren erhielten diese Auszeichnung etablierte Redaktionen wie | |
die NZZ am Sonntag. | |
Dass nun das megafon gewählt wurde, ist umso ungewöhnlicher, weil [3][das | |
Zeitungskollektiv] keine:n Chef:in hat. Es ist selbstverwaltet und | |
finanziert Druck und Postversand ausschließlich über Spenden und Abos. | |
## Kein Profit | |
Geld verdient hier niemand. Wer mitmacht, macht es freiwillig. Riggs stieß | |
vor zwei Jahren über Instagram zur Truppe, er wollte für die Zeitung | |
gestalten. „Ich wurde ermutigt, neue Dinge zu lernen und mich | |
auszuprobieren. Mittlerweile habe ich mithilfe anderer | |
Redaktionsmitglieder sogar einen Text veröffentlicht“, sagt er. Neben | |
dieser Tätigkeit ist er Student, so wie viele andere im Kollektiv. | |
Auch für Diener ist es ein Ort zum Experimentieren: „Ich bin gelernte | |
Floristin. Hier kann ich Texte über politische Themen schreiben, die mir | |
wichtig sind. Und zwar so, dass auch Menschen ohne Uni-Abschluss Zugang | |
finden“, sagt sie. | |
Im letzten Jahr etwa beschäftigte sie sich eingängig mit einer importierten | |
Vogelart. Insbesondere die Rhetorik der „nicht heimischen Art“ | |
interessierte sie mit Blick auf das Konzept „Heimat“. „Ich mag vermeintli… | |
unbedeutende Nischenthemen, die etwas über die Gesellschaft verraten.“ | |
Hinter Reusser, der heute das Layout macht, türmen sich Schachteln mit | |
allen Ausgaben, die das megafon seit 1987 herausgegeben hat. Über den PC | |
hinweg sagt er: „Die Auszeichnung zur ‚Chefredaktion des Jahres‘ sagt | |
weniger über uns aus als über den Zustand der Schweizer Medien. Es war nur | |
eine Frage der Zeit, bis die Leute sauer werden auf Tamedia.“ | |
Tamedia ist die Medienmarke der „TX Group“. Der Konzern der steinreichen | |
Familie Coninx dominiert zusammen mit drei weiteren Firmen beinahe den | |
gesamten Schweizer Medienmarkt. Kleinere und verlagsunabhängige Zeitungen | |
haben es schwer, sich im Angesicht der Giganten zu halten. Insbesondere | |
viele Lokalzeitungen wurden in den vergangenen Jahren aufgekauft, | |
zusammengelegt, verkleinert. | |
## „Chefredaktion des Jahres“ | |
Das megafon ist der Gegenentwurf zum Profitmodell der Großverlage, denen | |
Dividenden mehr bedeuten als Journalismus. Das kommt gut an – gerade bei | |
Journalist:innen, die vom Sparkurs direkt betroffen sind. Die Wahl zur | |
„Chefredaktion des Jahres“, sie kann auch als Protest frustrierter | |
Journalist:innen gegen ihre Arbeitgeber:innen interpretiert | |
werden. | |
Auch wenn die Kollektivmitglieder sich über die Wertschätzung ihrer Arbeit | |
freuen, zugehörig fühlen sie sich im Medienzirkus nicht. Das Kollektiv | |
arbeitet mit denselben journalistischen Mitteln wie andere Redaktionen, | |
doch: „Wenn eine unbewilligte Demonstration Repressalien nach sich zieht, | |
müssen die betroffenen Aktivist:innen uns nicht erklären, was | |
Versammlungsfreiheit bedeutet. Bei Journalist:innen aus klassischen | |
Redaktionen kommt das vor.“ | |
Das schaffe ein vertrauensvolleres Verhältnis zu Quellen und Zugang zu | |
Informationen, den nicht alle Redaktionen haben, sagt Reusser. Er hat | |
trotzdem keine Lust, linke Manifeste zu drucken, die nur die eigene Bubble | |
erreichen. | |
Noch weniger wollen die Kollektivmitglieder den Erwartungen der | |
Medienbranche entsprechen. Obwohl die Zeitung immer wieder Sensationen | |
aufdeckt, kommt es ohne klotzige Aufmacher daher. Eine typische | |
megafon-Geschichte ist leise, aber hallt nach. | |
## Zwischen Journalismus und Aktivismus | |
Während der Coronazeit fiel das Zeitungskollektiv insbesondere durch | |
kenntnisreiche und kontinuierliche Berichterstattung über Anti-Corona-Demos | |
auf. Etliche Male waren sie die Einzigen, die dokumentierten, wenn Neonazis | |
bei den Demos mitliefen. Oft publizierten sie es auf Twitter, wo sie eine | |
immer größere Gefolgschaft fanden. | |
„Für die Aktivist:innen aus der Reitschule sind wir Journalist:innen, | |
für die Journalist:innen sind wir Aktivist:innen. Das öffnet uns | |
jeweils unterschiedliche Türen“, sagt Reusser. „Wir haben Zugang zu beiden | |
Welten, sind aber dennoch distanziert von ihnen“, sagt Riggs. | |
Der Opportunismus gefalle ihnen. Manchmal legt sich die Redaktion mit den | |
großen Häusern an. Zum Beispiel im vergangenen Jahr, als ein satirisches | |
Meme auf Twitter dem megafon die Klage einer Tamedia-Journalistin | |
einbrachte. | |
Mit dem Meme machte sich das Kollektiv lustig über die Journalistin, die in | |
einem Interview über die angebliche „cancel culture“ klagte. Sie verglich | |
deren Konsequenzen mit einem Todesurteil. Den Rechtsstreit gewann die | |
Reitschule-Zeitung. Auf Twitter postete die Gruppe: „megafon: 1; Tamedia: | |
0“. | |
9 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Anina Ritscher | |
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