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# taz.de -- Coronaverstöße vor Berliner Gericht: Alle 15 Minuten Recht
> Seit fast zwei Jahren muss sich die Berliner Justiz mit etlichen
> Coronaverstößen herumschlagen. Ein Tag im Amtsgericht.
Bild: Bill Gates taucht in den Erzählungen der Verschwörungsanhänger vor Ger…
Berlin taz | Ab 9 Uhr morgens dürfen die BürgerInnen ihre Beschwerden
vortragen. In einem kargen Raum des Amtsgerichts Tiergarten in der Moabiter
Kirchstraße warten zwei Justizmitarbeiterinnen bei offenem Fenster auf die
Masse der klagenden Menschen. ZuschauerInnen oder andere JournalistInnen
sind nicht anwesend bei den Verhandlungen an dem Tag, aber auch sie würden
alle auf Impfung, Genesung oder Test kontrolliert werden. Und auf Waffen
natürlich, die häufig in die Berliner Gerichte mitgeführt werden.
Seit fast zwei Jahren muss die eh schon überlastete Justiz in Berlin auch
noch den Berg an Coronabeschwerden von BürgerInnen abarbeiten, die ihre
Bußgelder nicht zahlen können oder wollen. Eine Sisyphusarbeit. [1][Aber
die von der Politik beschlossenen] und mit Strafen bewehrten
Pandemiemaßnahmen müssen eben umgesetzt werden.
So geht viel Zeit für 50-Euro-Knöllchen verloren. Selbst wenn die einzelnen
Verhandlungen gar nicht so lange dauern: 15 bis 30 Minuten. Etwa die Hälfte
wird vertagt oder endet mit einem Freispruch. Die andere Hälfte führt zu
einer Verurteilung.
Frau L. ist eine von zwölf RichterInnen, die sich jeden Tag mit den
eingelegten Einsprüchen beschäftigen: „Ich möchte meinen Namen aus
verständlichen Gründen nicht in der Zeitung lesen“, sagt die Dame mit
Perlenkette. Ihre Arbeit beschreibt sie so: „Ich schaue, ob die Klagen
ordnungsgemäß sind. Und ich verhänge Bußgelder.“ Normalerweise beschäfti…
sie sich mit organisierter Kriminalität und Spielhallenbetrug. Dafür aber
ist jetzt weniger Zeit.
## Nichtwissen schützt nicht
Die erste Person, die pünktlich vor Gericht erscheint, arbeitet bei der
Deutschen Bank. „Ich wusste nicht, dass ich draußen in der Friedrichstraße
eine medizinische Maske tragen musste. Ich parke immer in der Tiefgarage
von Galerie Lafayette und hatte auf dem Weg zum Büro überhaupt kein Schild
gesehen“, erklärt sie.
Das kostete die 26-jährige Angestellte 55 Euro. Ein Bußgeld, das sie nicht
zahlen wollte. Weswegen sie geklagt hat. „Ich mache die Coronabestimmungen
nicht. Das sind die Regeln des Parlaments. Und die BürgerInnen wollen, dass
wir besser kontrollieren“, betont die Richterin und lehnt die Klage ab. Nun
darf die 26-Jährige neben dem Bußgeld auch noch die Gerichtskosten zahlen.
Zuvor waren bereits mehrere KlägerInnen nicht vor Gericht aufgetaucht. Bei
einem ging es um 100 Euro, weil er einen Mindestabstand nicht eingehalten
habe. Was jetzt auch fällig wird für den Kläger, der schon persönlich hätte
erscheinen müssen. Einen neuen Termin gibt es nicht. Auch Gerichtsprozesse
über geringfügige Verstöße werden in Deutschland nicht per Video geführt.
So digital sind die überlasteten Gerichte nicht, die selbst im Jahre 2022
noch mit Faxgeräten arbeiten.
## Bußgelder brachten der Stadt 3 Millionen ein
Im Amtsgebäude, das einem Labyrinth ähnelt, gibt es ununterbrochen
Diskussionen über Corona. Allein in Berlin wurden seit Frühjahr bis
Weihnachten 2021 bis zu 62.000 Corona-Bußgelder verhängt. Ein Drittel der
Verfahren ist noch nicht einmal abgeschlossen. Auf jeden Fall brachten die
Bußgelder dem Land Berlin fast 3 Millionen Euro und eben auch viel Arbeit
ein.
Die extra Belastung durch die Coronastrafen ist der Richterin egal: „Arbeit
ist Arbeit“, sagt sie lapidar. Dann wird Recep K. hereingebeten, ein
geschiedener Vater (36). „Sie bekommen eine Geldstrafe von 1.000 Euro, weil
Sie im Lockdown ein großes Grillfest mit Freunden organisiert haben.“
Quatsch, antwortet der türkeistämmige Berliner. „Ich brachte als Fahrer ein
repariertes Auto zu einem Kunden und bekam dort auf dem Hof ein Stück
Fleisch angeboten. Darf ich das nicht akzeptieren?“ Die Richterin bietet
einen Kompromiss an. Der Mann will die halbierte Geldstrafe aber nicht
akzeptieren, weshalb nun in einem weiteren Gerichtstermin demnächst fünf
PolizeibeamtInnen als Zeugen kommen und aussagen müssen.
Zwei weitere von Coronastrafen Betroffene werden aufgerufen. Zwei adrett
gekleidete Unternehmer betreten den Raum mit dem moosgrünen Teppich. Sie
hatten zu Hause in Charlottenburg eine Party organisiert. Nach den damals
geltenden Pandemiebestimmungen waren aber mit etwa sechzig Menschen zu
viele Gäste anwesend. „Wir finden, dass die Geldstrafe zu hoch ist. Es
waren nur halb so viele Menschen da“, behaupten beide wie im Chor.
Der eine, ein 41-jähriger ehemaliger Banker von Goldman Sachs, muss
angeben, was er verdient und besitzt, „Ich habe seit Langem keine Einnahmen
wegen Corona. Ich lebe vom Ersparten“, sagt der geschiedene Unternehmer,
der Apps entwickelt. Deshalb könne er die Geldstrafe von 6.000 Euro nicht
bezahlen. Wie hoch seine Miete sei, will die Richterin wissen. Fast 2.000
Euro warm, antwortet er nach einigem Zögern.
Er hatte die Namen seiner Gäste mit den Adressen nicht vorschriftsgemäß auf
Zetteln notiert. „Ich möchte Ihnen gerne widersprechen, Euer Ehren. Im
Durcheinander, als die Polizei kam, sind unsere Formulare mit den Daten
offenbar verschwunden. Und die vielen betrunkenen Jugendlichen, die die
Einsatzkräfte überprüft hatten, waren nicht von uns eingeladen, sie standen
draußen auf der Haustreppe.“ Sein Freund, der selbst auch Anwalt ist, nickt
dazu.
## Der Anwalt seufzt
Zur Überprüfung des Sachverhalts sind zwei Mitarbeiterinnen der
Stadtverwaltung aus Charlottenburg gekommen. Da die beiden Unternehmer sich
gegenseitig decken und kein Geständnis abgeben, müssen alle damals
beteiligten Uniformierten im Dienst aussagen. Richterin L. schlägt einen
Deal vor: Da einer der beiden nicht zahlen kann, muss der andere seine
Schuld eingestehen, und die Strafe wird halbiert. Der Anwalt seufzt, will
sich unter vier Augen beraten. In der Pause sagt die Richterin: „Zum Glück
haben wir heute keine Anwälte, die selbst Coronaleugner sind, alles
anfechten und aus der Pandemie ein Geschäftsmodell entwickelt haben.“
Kurz darauf stimmen die zwei Kläger nach der Pause dem vorgeschlagenen
Kompromiss zu. Im nächsten Fall geht es um eine Flasche Bier, die der
Kläger nach der Arbeit vor einem Köpenicker Supermarkt getrunken haben
soll. Was aber zu der Zeit damals, 2020, nicht gestattet war. Die Polizei
wies ihn vor Ort auf die Ordnungswidrigkeit hin und verhängte ein Bußgeld
von 60 Euro.
Die will der 51-jährige Servicetechniker im roten Vodafone-Overall nicht
zahlen. „Ich hatte eine leere Flasche gefunden“, entschuldigt er sich. „S…
haben die Wahl“, droht die Richterin, die seine Geschichte nicht glaubt:
„Entweder Sie zahlen die Geldstrafe oder Sie gehen für sechs Tage ins
Gefängnis.“ Neben normalen Ordnungswidrigkeiten zählte die Berliner Polizei
im Zusammenhang mit der Pandemie auch über fünftausend Straftaten.
Und immer mehr BürgerInnen legen inzwischen Einspruch gegen die Geldbußen
ein, die sie ungerechtfertigt finden. Im ersten Jahr der
Coronabeschränkungen, 2020, gab es nur 26 Personen, die sich beschwerten.
Im vergangenen Jahr wollten schon fast 200 Menschen, dass die Berliner
Justiz ein Urteil spricht.
## Maskenattest zu Hause gelassen
So wie eine Kubanerin, die am Alexanderplatz ein Glas Sekt trank: „Ich
wusste nicht, dass das verboten war.“ „Unkenntnis schützt vor Strafe
nicht“, so die Richterin. Schließlich wird Henrik P. (60) aus Magdeburg dem
Gericht vorgeführt, er fühlt sich schikaniert. Der erwerbsunfähige
Elektromonteur wollte eine Demonstration vor dem Reichstag besuchen. „Ich
befand mich noch außerhalb des Versammlungsgeländes auf dem Gehsteig, trug
da keine Maske. Die Polizei verbat mir trotzdem, zur Demo zu gehen. Mein
Arzt sagte mir, ich muss wegen meiner Gesundheit keine Maske tragen.“ Dass
er die Papiere mal zeigen solle, sagt die Richterin. Sie will prüfen,
[2][ob die ärztlichen Atteste überhaupt echt sind].
Henrik P. hat sie nicht dabei und muss sie zu Hause holen. Draußen droht er
der Justiz: „Der Wind wird sich drehen.“ Der Mann, der an
Verschwörungstheorien glaubt, warnt auch noch vor Bill Gates, Rockefeller
und der „Blut trinkenden Elite“.
16 Feb 2022
## LINKS
[1] /Senat-lockert-Corona-Regeln-in-Berlin/!5831351
[2] /Umgang-mit-Maskengegnerinnen/!5833384
## AUTOREN
Rob Savelberg
## TAGS
Coronaleugner
Protokoll Arbeit und Corona
Bußgeld
Gerichtsentscheid
Schwerpunkt Coronavirus
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Maske
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