# taz.de -- Olympia und die Umwelt: Ende vom Wanderzirkus | |
> Winterspiele mit 100 Prozent Kunstschnee – nicht erst in China steht | |
> Nachhaltigkeit ganz hinten an. Neue Formate für Olympia sind lange | |
> überfällig. | |
Bild: Ein Sport ohne IOC und Nationalstaaten würde fairer werden | |
Die braunen Hänge zwischen den Skipisten und Loipen sieht man auf den | |
Fernsehbildern nur selten. Routiniert fangen die Kameras ein verschneites | |
Winterwunderland ein, weiße Pisten vor weißen Hängen. Wie Mehlspuren aber | |
ziehen sich die Bänder von Kunstschnee durch eine staubtrockene, braune | |
Bergregion. Zum ersten Mal finden die Winterspiele wohl zu [1][100 Prozent | |
auf Kunstschnee] statt – weil man sie in eine Region gegeben hat, in der es | |
kaum regnet, geschweige denn schneit. | |
Die ökologische Bilanz dieser Olympischen Spiele wird, dafür muss man keine | |
Prophetin sein, trotz einiger Bemühungen wieder einmal verheerend sein. Ein | |
enormer Wasserverbrauch für Hunderte Schneekanonen, die Zerstörungen im | |
Naturschutzgebiet Songshan, Neubauprojekte, deren zukünftiger Nutzen mehr | |
als unsicher ist: die Pisten für Ski-Alpin-Rennen, die Skisprungschanze, | |
für die 1.500 Menschen umgesiedelt wurden, die Bobbahn für über 2 | |
Milliarden Euro, das neue Biathlonzentrum ohne Weiternutzung und das neue | |
Skilanglaufzentrum. | |
Über all das wurde berichtet. Der deutsche Biathlet Erik Lesser schrieb: | |
„Zu wissen, wie diese Gegend zuvor ausgesehen hat, macht mich so traurig. | |
All das für drei Wochen.“ Es ist an der Zeit, angesichts der | |
Klimakatastrophe und der ökologischen Zerstörung das Format Olympia | |
grundsätzlich zu überdenken. Und Zeit für ein Ende des Wanderzirkus. | |
Viel Kritik in puncto Nachhaltigkeit fokussiert sich aktuell auf China als | |
Gastgeber: die fehlende chinesische Wintersporttradition zum Beispiel, | |
weswegen viele Stätten neu gebaut werden, und die Autokratie, durch die | |
kein Raum für Proteste ist. Aber das ökologische Desaster ist weder ein | |
chinesisches Spezifikum, noch Spezifikum einer Autokratie. | |
Ein internationales Team von Forscher:innen hat 2021 die Human- und | |
Umweltkosten für Olympische Sommer- und Winterspiele [2][von Albertville | |
1992 bis Tokio 2021] untersucht, darunter die Zahl der Neubauten, die | |
Nachnutzung, den ökologischen Fußabdruck der anreisenden Fans, aber auch | |
Zwangsumsiedlungen und Widerstand in der Bevölkerung. Die Bilanz: Die | |
Spiele seien ökonomisch, ökologisch und sozial über die Zeit immer | |
schädlicher geworden. | |
## Die Spiele werden immer schädlicher | |
Wer die Chefbehörde IOC und ihren Größenwahn kennt, den überrascht das | |
nicht. Mit 16 Wettbewerben starteten 1924 die ersten Winterspiele in | |
Chamonix. In Peking sind es 109. Die Zahl der Athlet:innen hat sich | |
derweil mehr als verzehnfacht. Von Mal zu Mal werden die Spiele größer, | |
galaktischer, teurer. Für jede Nachnutzung, die gelingt, veröden in Rio, | |
Athen oder Turin Geisterstadien, Olympiaparks und megalomanische | |
Investitionsruinen. | |
Die Spiele im demokratischen Tokio waren laut Studie ökologisch fast ebenso | |
desaströs wie Sotschi, das viel gelobte London 2012 schnitt im | |
Gesamtranking schlechter ab als Peking 2008. Demokratie schützt vor | |
Zerstörung nicht, wo Wachstum das Prinzip ist. Diese Spiele des 20. | |
Jahrhunderts brauchen dringend ein neues Konzept. Das heißt auch: feste | |
Stätten. Olympia ist ein Wanderzirkus. Allerdings einer, der das Zelt nicht | |
mitbringt. | |
Es ist durchaus ein Fortschritt, dass Nachhaltigkeit bei der Infrastruktur | |
zunehmend mitgedacht wird. Peking 2022 verwendet Sportstätten von 2008 wie | |
das Vogelnest und die Schwimmhalle „Water Cube“ wieder, London 2012 ließ | |
bemerkenswert viele Sporthallen nach den Spielen wieder zurückbauen. Aber | |
warum überhaupt wird ständig neu gebaut, wenn doch woanders fertige Anlagen | |
bereitstehen? Schon mit Blick auf die Ressourcen ist das absurd. | |
Und das gilt für Winterspiele umso mehr, denn sie brauchen rare Gebilde wie | |
Skisprungschanzen und Bobbahnen, die nach der Veranstaltung fast keinen | |
Nutzen für die Bevölkerung mehr bringen. Die Zahl der hobbymäßigen | |
Skeletonis und Skispringer:innen ist bekanntlich begrenzt. Auch | |
ökonomisch bleiben die Versprechen vom großen Wachstum oft leer. | |
Die [3][Alpenschutzkommission Cipra], die sich gegen erneute Winterspiele | |
an den Alpenstandorten wendet, schreibt, es gebe zwar einen oft | |
kurzfristigen Boom der Bauwirtschaft, aber keinen einzigen Beleg für eine | |
langfristige positive Wirtschaftsentwicklung vor Ort. Stattdessen komme es | |
eher zu einem Strohfeuer – und steigenden Lebenshaltungs- und Mietkosten, | |
steigenden Bodenpreisen und Überkapazitäten in der Hotelbranche ohne | |
langfristige Nachfrage. | |
## Auf wenige Austragungsorte beschränken | |
[4][Forscher:innen fordern längst], nicht jedes Mal einen anderen Ort | |
mit dem Bau einer komplett neuen Infrastruktur für die Spiele zu | |
beauftragen, sondern zwischen einer kleinen Auswahl von Austragungsorten zu | |
rotieren, sodass dieselben Anlagen wiederholt genutzt werden können. Das | |
ist überfällig und im Sport nicht ohne Vorbild: Die relativ neuen „Finals�… | |
bei denen die Titelkämpfe vieler deutscher Sportarten gebündelt | |
stattfinden, wurden bisher jedes Jahr in Berlin ausgetragen. | |
Niemand käme auf die Idee, in Bremerhaven eine neue Leichtathletik-Arena zu | |
bauen, weil die Stadt auch mal dran sein soll. Die Pokalfinals im Fußball | |
haben feste Standorte, und „Berlin“ oder „Wembley“ wurden gerade dadurc… | |
Kultstätten. Wo aber würden bei Olympia diese festen Stätten stehen? Das | |
aktuell häufig angebrachte Argument etwa alpiner Tradition, die angeblich | |
wertvoller sein soll als Neubauten in China, ist Heuchelei. Denn die | |
Ungleichheit ist kein Zufall. | |
Die bisherigen Austragungsorte der Sommerspiele befanden sich, abgesehen | |
von Mexiko und Brasilien, allesamt im Globalen Norden. Kein afrikanischer | |
Staat hat jemals Olympische Spiele ausgerichtet, ebenso wenig die | |
arabischen Staaten. Auch in Zentral- oder Südostasien fanden die Spiele | |
noch niemals statt, was angesichts der bombastischen Kosten, der nötigen | |
Lobbypower, der geringen Kaufkraft des Publikums und der benötigten | |
Infrastruktur nicht weiter verwunderlich ist. | |
Radikal verkleinerte Spiele sind nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen | |
nötig, sie können erst damit wahrhaft global sein. Sie haben die Chance, | |
endlich mehr zu sein, als ein elitäres Vergnügen weniger Metropolen, | |
nämlich endlich das, was Olympia nie war: echte Weltspiele. Mit dem | |
Internationalen Olympischen Komitee (IOC) wird das nicht machbar sein, auch | |
nicht unter dem vor Gigantismus strotzenden Label Olympia. | |
## Kleinere Spiele und größere Globalität | |
Feste Standorte freilich bringen ein Problem mit sich: Wie mit | |
Menschenrechtsverletzungen umgehen? Was tun, wenn ein bisher einigermaßen | |
sympathischer Dauerstandort plötzlich eine schlimme Regierung bekommt? Eine | |
subversive Lösung wäre diese: gemeinsame Ausrichtung durch Regionen statt | |
durch einen Staat. Nicht durch die Staatsmacht selbst, sondern durch NGOs, | |
Bürger:innenvereinigungen, Umweltgruppen, mit einem von allen teilnehmenden | |
Nationen bereitgestellten Budget. | |
Das alles würde dramatisch die Chancen auf ein Turnier steigern, das der | |
lokalen Bevölkerung nützt, statt schadet. Es würde das unangenehme | |
nationale Propagandagetöse, das alle Spiele umgibt, von vornherein | |
ausschließen. So könnte ein historischer Kulturraum gemeinsam Spiele | |
austragen oder auch nur ein gemeinsamer geografischer Raum: nachhaltige | |
Anden-Spiele, Donau-Spiele, südostasiatische Spiele. | |
Die Fußball-EM 2021, die in elf Staaten stattfand, bot Ausrichtern wie | |
Ungarn und Aserbaidschan deutlich weniger Selbstinszenierungsfläche, als | |
es eine ungarische EM getan hätte. Wer dem Nationalstaat den Sport nimmt, | |
befreit ihn aus der unlösbaren Debattenschleife über Boykotte, die vor | |
allem den Boykottierenden ein gutes Gefühl geben, politisch aber meist | |
wirkungslos sind. | |
Und ein Sport ohne IOC und Nationalstaat wird fairer: Menschenrechtliche | |
Anforderungen ans Turnier oder rote Linien lassen sich besser einfordern – | |
und leichter durchsetzen, wenn benachbarte Regionen bereitstehen, um | |
einzuspringen. Rotierende, panregionale Spiele an festen Stätten wären | |
sofort umsetzbar, denn mehrere Ausrichter sind bei Winterspielen erlaubt, | |
bei den Sommerspielen „in Ausnahmefällen“ gestattet. Und die | |
Klimakatastrophe schafft ohnehin eine neue Realität. | |
## Keine Zukunft für den Skisport | |
Laut einer [5][aktuellen internationalen Studie] wird ohne eine drastische | |
Verringerung der weltweiten Treibhausgasemissionen nur eine der insgesamt | |
21 Städte, die bisher Gastgeber der Olympischen Winterspiele waren, in der | |
Lage sein, bis zum Ende dieses Jahrhunderts zuverlässig „faire und sichere | |
Bedingungen für Winterspiele“ zu bieten. Die Prognosen werden rasant | |
schlechter. Im Jahr 2014 galten noch 6 Städte als mittelfristig stabil. | |
In Europa, so die Studie, seien die meisten Standorte 2050 selbst im | |
Best-Case-Szenario untauglich. Bei den Sommerspielen ist die Hitze | |
ebenfalls ein wachsendes Problem, aber zumindest mittelfristig | |
verkraftbarer, etwa durch Verlegung der Wettbewerbe in die Abendstunden. | |
Dauernde Wanderung an klimatisch ungeeignete Orte kann der Wintersport sich | |
nicht mehr leisten. Es braucht eine kleine, möglichst langfristige, | |
schneefeste Auswahl. | |
Das hilft jedoch nur, wenn wir gleichzeitig ein neues Konzept für radikal | |
geschrumpfte Spiele und für neue Winterspiele entwickeln. Die aktuellen | |
stammen aus einem kühleren Zeitalter. Indoor-Sportarten wie Eisschnelllauf | |
und Eishockey lassen sich womöglich eher in eine erhitzte Welt | |
hinüberretten. | |
Skisport dagegen hat langfristig keine Zukunft: In Italien wurden schon | |
2017 rund 87 Prozent der Pisten mit Kunstschnee beschneit, in Österreich 70 | |
Prozent; ein verzweifelter Versuch, sich gegen die neuen Realitäten zu | |
stemmen, und ein Sisyphoskampf, der empfindliche Ökosysteme zerstört. | |
Niemand sollte den Sportler:innen von heute auf morgen ihre Sportarten | |
nehmen. Aber wir müssen sie und uns darauf vorbereiten, mittelfristig ganz | |
andere Winterspiele abzuhalten. | |
11 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Schlechte-Umweltbilanz-von-Olympia/!5831796 | |
[2] https://www.nature.com/articles/s41893-021-00696-5 | |
[3] https://www.cipra.org/de/dossiers/olympische-winterspiele/argumente | |
[4] https://www.mdr.de/wissen/olympia-nachhaltigkeit-weit-entfernt-100.html | |
[5] https://www.uibk.ac.at/newsroom/klimawandel-als-bedrohung-fuer-olympische-w… | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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