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# taz.de -- Gewerkschaften in der Coronapandemie: „Feind der Mitgliederwerbun…
> Die Gewerkschaften sehen sich von der Coronapandemie schwer gebeutelt.
> Erstmals verzeichnet Verdi weniger als 1,9 Millionen Mitglieder.
Bild: Hat mit schrumpfenden Mitgliederzahlen zu kämpfen: Verdi-Chef Frank Wern…
Berlin taz | In der Coronapandemie haben die Gewerkschaften mit herben
Mitgliederverlusten zu kämpfen. Besonders hart getroffen hat es die beiden
großen: die IG Metall und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Beide
verloren im vergangenen Jahr netto zusammen mehr als 92.000 Mitglieder.
Damit kommt die IG Metall nur noch auf rund 2,17 Millionen Mitglieder.
Verdi verzeichnet mit rund 1,89 Millionen Mitgliedern einen historischen
Tiefstand.
Bei ihren Jahrespressekonferenzen in der vergangenen und in dieser Woche
führten der IG-Metall-Vorsitzende [1][Jörg Hofmann] und sein Verdi-Pendant
[2][Frank Werneke] den Schwund vor allem auf die erschwerten Bedingungen
für gewerkschaftliches Engagement unter Corona zurück. „Gewerkschaft
bedeutet Ansprache und Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen“, sagte
Hofmann. Das seit „mit Kurzarbeit, Kontaktbeschränkungen,
Home-Office-Pflicht und ohne digitales Zugangsrecht auch für uns als
Gewerkschaft weiter schwierig“.
Werneke argumentierte in die gleiche Richtung: „Die Ansprache im
betrieblichen Alltag durch gewerkschaftliche Vertrauensleute, Betriebs- und
Personalräte haben unter den Bedingungen der Pandemie nur unzureichend
funktioniert“, sagte er. „Corona ist der Feind der Mitgliederwerbung.“
Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist nichts Statisches. Eine
Fluktuation in der Mitgliedschaft ist daher zwangsläufig. Allein schon so
viele neue Mitglieder zu gewinnen, dass „natürliche“ Abgänge durch
Ruhestand oder Tod ausgeglichen werden können, bedeutet einen enormen
Kraftakt.
„Wir müssen richtig rackern, um unsere Mitgliederzahl stabil zu halten, was
mit der Altersstruktur von Verdi wie allen anderen DGB-Gewerkschaften zu
tun hat“, konstatiert Werneke. Im vergangenen Jahr standen bei Verdi
113.150 Austritten, 16.000 Sterbefällen und 7.000 Ausschlüssen wegen
fehlender Beitragszahlungen jedoch nur 93.340 Neueintritte gegenüber.
## Probleme der Gewerkschaften sind tiefgreifender
Corona hat für den aktuellen Mitgliederschwund sicherlich eine große
Bedeutung. Doch die Probleme der Gewerkschaften sind tiefgreifender. Auch
wenn es die mittlerweile nur noch acht Einzelgewerkschaften im DGB nicht
immer im gleichen Maße und zur selben Zeit trifft, ist der allgemeine
Abwärtstrend doch unübersehbar: 1991 gehörten noch mehr als 11,8 Millionen
Menschen einer DGB-Gewerkschaft an, mittlerweile verzeichnet der
Dachverband weniger als 5,8 Millionen – und das bei insgesamt steigenden
Beschäftigtenzahlen.
Ein Grund dafür liegt in den Umbruchprozessen in der Arbeitswelt. Wenn die
Metall- und Elektroindustrie wie im vergangenen Jahr knapp 2,4 Prozent der
Stellen abbaut, dann geht das auch nicht spurlos an der IG Metall vorbei.
Wesentlich kritischer wird es bei weitaus tieferen Einschnitten. Ein
Beispiel: In der Druckindustrie, die zum Organisationsbereich von Verdi
gehört, gab es 2001 noch 220.723 sozialversicherungspflichtige
Beschäftigte, zwanzig Jahre später waren es nur noch 119.150
Dieser massive Arbeitsplatzabbau hat heftige Auswirkungen auf die
Gewerkschaft. Zum einen beenden viele Beschäftigte ihre Mitgliedschaft,
wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Zum anderen sind Arbeitskämpfe in
einer Branche in der Krise nur schwer zu führen, entsprechend schlecht
fallen in der Regel die Abschlüsse aus, was sich dann negativ auf
Neueintrittszahlen auswirkt.
In der aktuellen Tarifrunde für die Druckindustrie fordert Verdi eine
fünfprozentige Lohnerhöhung, was die Arbeitgeberseite unter Verweis auf die
schwierige wirtschaftliche Situation brüsk zurückweist. Die Verhandlungen
stecken fest. Die Friedenspflicht endet am 28. Februar. Ob Verdi in dieser
Branche noch streikbereit und -fähig ist?
## Kahlschlag in der Luftfahrtbranche
Ganz bitter sieht es aktuell in der Luftfahrtbranche aus, besonders beim
Bodenpersonal an den Flughäfen. Hier hat es infolge der Coronapandemie
einen dramatischen Aderlass gegeben. Mehr als 30 Prozent der Beschäftigten
haben mittlerweile die Branche verlassen müssen, vielfach mittels
Abfindungsprogrammen. „Das schlägt voll auf uns durch“, sagte Werneke auf
der Jahrespressekonferenz. Ganze Tarifkommissionen hätten sich faktisch
aufgelöst, „weil sich unsere Mitglieder beruflich neu orientieren“.
Andere Branchen boomen hingegen, aber sind nur schwer gewerkschaftlich zu
organisieren. Das gilt besonders für den Versandhandel und auch für Paket-
und Zustelldienste, wo Verdi zwar kontinuierlich zulegen kann, aber der
Organisationsgrad trotzdem überschaubar bleibt.
[3][Bestes Beispiel ist der Onlinekonzern Amazon], wo Verdi seit nunmehr
rund achteinhalb Jahren versucht, mit einer Strategie der Nadelstiche
tarifvertraglich geschützte Einkommens- und Arbeitsbedingungen
durchzusetzen. Immer wieder ruft die Gewerkschaft an einzelnen oder
mehreren Amazon-Standorten zu temporären Streiks auf, an denen sich jedoch
nur ein Bruchteil der Beschäftigten beteiligt. [4][Bisher hat Verdi nicht
einmal die Aufnahme von Gesprächen durchsetzen können.]
## „Differenzierte Lohnpolitik“
Mit einer „differenzierten Lohnpolitik“ will Verdi die diversen Tarifrunden
in diesem Jahr bestreiten. „Wer glänzende Geschäfte auch aufgrund der
Pandemie gemacht hat, wie zum Beispiel Versicherungen, Banken oder die
Deutsche Telekom, muss die Beschäftigten entsprechend an den Gewinnen
beteiligen“, gab die stellvertretende Vorsitzende Andrea Kocsis auf der
Verdi-Jahrespressekonferenz als Linie vor. „Wo es schlechter läuft, wie in
Teilen der Luftfahrtbranche, werden wir das dementsprechend
berücksichtigen.“
Die Forderungsspanne reicht je nach Branche oder Unternehmen von einem Euro
pro Stunde bis zu einer Lohnerhöhung von sechs Prozent. Eindeutiges Ziel
seien aber Reallohnzuwächse. Das dürfte nur schwer zu erreichen sein. Schon
beim [5][Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst der Länder] im
vergangenen Jahr reichte es dafür nicht.
Die Tarifverhandlungen in diesem Jahr würden „knackig“, kündigte Verdi-Ch…
Werneke an. Eine coronabedingte Streikzurückhaltung werde es nicht geben.
Was er nicht sagte: Trotzdem wird Verdi nicht überall streiken, wo sich die
Arbeitgeberseite hartleibig zeigt. Denn dazu müsste die Gewerkschaft
stärker sein, als sie es in etlichen Bereichen ist. Das ist die Krux: Der
gewerkschaftliche Organisationsgrad ist entscheidend für die Verhandlungs-
und Durchsetzungsmacht. Fehlt es daran, sind die Arbeitskampfmöglichkeiten
beschränkt – und fallen die Tarifergebnisse mager aus.
3 Feb 2022
## LINKS
[1] /Gewerkschaftstag-der-IG-Metall/!5628727
[2] /Verdi-Bundeskongress-in-Leipzig/!5626392
[3] /Streik-bei-Amazon/!5468827
[4] /Verdi-Chef-Frank-Bsirske-ueber-Amazon/!5486869
[5] /Tarife-im-Oeffentlichen-Dienst/!5815594
## AUTOREN
Pascal Beucker
## TAGS
Verdi
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Luisa Neubauer
Energiepreise
DGB
Tarifverhandlungen
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