Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Klimaschutz-Aktivistin eingeschüchtert: Nackt bis auf die Mund-Nas…
> Eine Klimaschutz-Aktivistin besetzt eine Straße in Osnabrück. In der
> Polizeidirektion muss sie sich zur Identitätsfeststellung ausziehen.
Bild: Friedlicher Widerstand: Aktivistin Lynn bei ihrer Aktion in Osnabrück
Osnabrück taz | Es beginnt alles ganz friedlich. Vergangenen Sonnabend kurz
nach 13 Uhr setzt sich im Herzen der Osnabrücker Innenstadt eine junge Frau
zwischen Dom und Theater auf die Straße. Sie hat ein Schild dabei: „Ich
habe Angst vor Hunger und Verteilungskampf wegen der Klimakrise“. Ihr
Aktionsname ist „Lynn“ und sie kommt aus dem Umfeld von Extinction
Rebellion.
Lynn sitzt auf der rechten Fahrspur, und während Busse auf die
Gegenfahrbahn ausweichen, holt sie einen Brief hervor, in dem Dinge stehen
wie: „Ich bin dankbar für alles Schöne, was dieser Planet bereit hält und
ich erleben darf. Aber was soll ich als Teil der Klimabewegung noch machen?
Wir haben diskutiert, demonstriert, uns nicht entmutigen lassen. Ich bin
verzweifelt. Ich habe Angst.“
Lynn sitzt unbewegt. Passanten bleiben stehen, zeigen Sympathie,
diskutieren. Autos tasten sich vorsichtig voran. Der Standort ist keine
richtige Verkehrsblockade, aber durch sein hohes Passantenaufkommen ein Ort
größtmöglicher Öffentlichkeit.
Ein paar Gehminuten entfernt sitzt zeitgleich ein zweiter
Rebellion-of-One-Aktivist auf der Straße, der sich „Emil“ nennt. Auch um
ihn manövrieren Autos herum. Auch „Emil“ sitzt ernst, unbewegt. Auch hier
ist alles friedlich. Wie Lynn hat er sich vorher in Deeskalation schulen
lassen, hat ein Backup-Team, das eingreifen kann, falls es zu Konflikten
kommt. Es kommt zu keinen.
## Lynn wird festgenommen
Zu Emil kommt keine Polizei. Zu Lynn schon. Zwei Beamte in Zivil fordern
sie auf, sich von der Straße zu entfernen. Tue sie es nicht selbst, werde
man sie „wegschleifen“, erinnert sich Lynn. Lynn willigt sofort ein, steht
widerstandslos auf. Beide Beamten greifen dennoch zu, heben sie hoch. Auf
dem Bürgersteig fragen sie nach Lynns Personalien. Sie weigert sich, ihre
Identität preiszugeben. Lynn wird festgenommen, muss mit auf die Wache.
Anderthalb Stunden ist Lynn in der Hand der Polizei. Was dort passiert, ist
für sie ein Schock. „Ich wurde aufgefordert, mich auszuziehen, komplett“,
erzählt sie der taz. „Ich konnte das erst nicht glauben, habe ein bisschen
gezögert. Da hieß es dann, ziemlich barsch: Das sei kein Scherz, ich solle
das jetzt einfach tun!“ Lynn zieht sich aus. „Ich habe das als sehr
grenzüberschreitend empfunden“, sagt sie. „Zeitweilig stand ich da völlig
nackt; das Einzige, was mir blieb, war meine Mund-Nasen-Maske.“
Warum das geschah? „Ich kann es mir nur so erklären, dass sie nach
auffälligen Tattoos gesucht haben, Narben oder Muttermalen“, sagt Lynn.
„Ich hatte den Eindruck, dass sie mich einschüchtern wollten, Macht
demonstrieren. In dieser Situation bist du völlig ausgeliefert.“
Fingerabdrücke werden ihr abgenommen. Der Tatvorwurf wird ihr eröffnet:
Nötigung im Straßenverkehr; eine Straftat. Der Kern aber ist die
Identitätsfeststellung. „Man hat mir 24 Stunden Haft angedroht, in einer
Zelle in Hannover“, sagt Lynn. Sie ist geschockt, fassungslos, verwirrt.
„Generell war der Druck sehr hoch, der Ton wurde schnell scharf.“
## „Unverhältnismäßige Mittel“
Lynn kann einen Telefonanruf machen. Sie ruft die Rote Hilfe an. Die
Polizisten stehen direkt daneben, hören alles mit. „Und dann sagten sie,
das nächste Mal solle ich besser einen richtigen Anwalt anrufen. Ich fand
das frech. Es ist doch meine Entscheidung, wen ich zu Rate ziehe!“ Am Ende
sei eine Kriminalbeamtin gekommen, fast triumphierend: Man wisse jetzt, wer
sie sei. „Sie halten mich offenbar für eine Sarah“, sagt Lynn. „Danach
konnte ich gehen.“
Besonders schlimm für die Aktivistin: „Da demonstrierst du für das, was uns
zusteht und in der Verfassung festgehalten ist, dass der Staat Umwelt und
Lebensgrundlage des Menschen zu schützen hat. Und du wirst wie eine
Kriminelle behandelt.“ Das sei „unlogisch, fehlerhaft und Ausdruck davon,
dass der Staat sich mit komplett unverhältnismäßigen Mitteln weigert,
aktiven und ehrlichen Klimaschutz zu machen“.
„Das Verhalten der Polizei gegen die Klimagerechtigkeitsbewegung in
Osnabrück halten wir für besorgniserregend“, sagt Marvin Wilke, der die
Sitz-Aktion koordiniert hat, der taz. „Es werden Aktivist:innen aktiv
eingeschüchtert, und es wird versucht, mit Repressionen der Klimabewegung
zu schaden.“ Am Sonnabend sei die Polizei „in einer gewaltfreien Aktion mit
unverhältnismäßigen Mitteln gegen eine Aktivistin vorgegangen“.
„Derzeit dauern die Ermittlungen an“, sagt Polizeikommissar Jannis
Gervelmeyer, Sprecher der Polizeiinspektion Osnabrück, der taz. Danach
werde das Verfahren der Staatsanwaltschaft übergeben. Das Hochheben von der
Fahrbahn wertet er als „zuvorkommende Geste“: „Schließlich streckte die
Frau den Beamten ihre Hände aus, und diese halfen der Aktivistin
selbstverständlich auf die Beine.“ Lynn dazu: „Das ist gelogen!“
## Parlamentarische Anfrage der Grünen
Die Entkleidung erklärt Gervelmeyer als Maßnahme zur
Identitätsfeststellung. Die „Durchsuchung der Person des Verdächtigen und
der von ihm mitgeführten Sachen“ seien zulässig, auch erkennungsdienstliche
Maßnahmen.
„Offensichtlich wird der Umgang der Polizei mit den Klimaprotesten
schärfer“, sagt Volker Bajus. Er ist Landtagsabgeordneter und
Fraktionsvorsitzender der Grünen im Osnabrücker Stadtrat. „Das kann ich nur
schwer nachvollziehen. In Osnabrück waren Klima-Aktionen bislang friedlich.
Die Aktiven sind hier gut organisiert, diszipliniert und im Dialog mit der
örtlichen Politik. Was soll das also?“
Die Polizei müsse sich fragen lassen, ob ihre Maßnahmen angemessen seien.
„Warum muss sich eine junge Frau zur Identitätsfeststellung auf dem Revier
nackt ausziehen? Den Vorwurf, hier werde gezielt eingeschüchtert, kann man
von daher nachvollziehen. Ob die Maßnahme verhältnismäßig ist, werde ich in
einer parlamentarischen Anfrage an die Landesregierung aufgreifen.“
25 Jan 2022
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
IG
Extinction Rebellion
Schwerpunkt Klimawandel
Osnabrück
Schwerpunkt Klimaproteste
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Stadtland
Verkehrswende
Leuphana Universität
Schlagloch
Ampel-Koalition
## ARTIKEL ZUM THEMA
Urteil gegen Klima-Aktivistin Lynn: „Ein zweiter Schock“
Die Klima-Aktivistin Lynn machte öffentlich, was ihr auf einer Osnabrücker
Polizeiwache passiert ist. Daraufhin wurde sie wegen Verleumdung
verurteilt.
Theater zum Mitlaufen: Im Vorhof zur Wohnhölle
Das Freilauftheater in Osnabrück inszeniert den Kampf auf dem Wohnungsmarkt
als Stationendrama. Schauplatz ist eine alte Bergwerksbrache.
Verkehrswende in Osnabrück: Weniger Autos, mehr Straßenbahn
1960 hat Osnabrück seine Straßenbahn abgeschafft. Jetzt lässt die
niedersächsische Stadt prüfen, ob es sich lohnt, eine neue zu bauen.
Klimaaktivist über Zukunftsangst: „Wir müssen uns selbst retten“
Im September trat Henning Jeschke mit sechs anderen KlimaaktivistInnen in
den Hungerstreik. Ein Gespräch über persönliche und globale Kipppunkte.
Klimagipfel in Glasgow: Mit Gewalt das Klima retten
Was tun, wenn sich der friedliche Übergang zur postfossilen Welt als
illusorisch entpuppt. Sollten nicht die, die die Natur zerstören, dafür
bezahlen?
Fridays for Future in Berlin: Keine Wahl, außer zu demonstrieren
Am Freitag sind Tausende für konsequentere Klimapolitik auf die Straße
gegangen. Von den Sondierungsgesprächen sind sie enttäuscht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.