# taz.de -- Soziologin über Misstrauen und Politik: „Der jahrelange Tiefschl… | |
> Hat wachsendes Misstrauen gesellschaftlich sein Gutes? Darüber diskutiert | |
> in Oldenburg (und online) nun unter anderem die Soziologin Gesa | |
> Lindemann. | |
Bild: Misstrauen gegenüber den regierenden Instanzen: Coronamaßnahmen-Protest… | |
taz: Frau Lindemann, das Podium, auf dem Sie sitzen werden, geht von einer | |
Atmosphäre des Misstrauens in der Gesellschaft aus. Teilen Sie diese | |
Einschätzung? | |
Gesa Lindemann: Ich teile die Einschätzung, dass es ein gewisses Misstrauen | |
in unserer Gesellschaft gibt. Dafür gibt es viele Hinweise. | |
Welche? | |
Verschiedene Bevölkerungsgruppen gehen davon aus, dass die anderen ihnen | |
etwas Böses wollen. Man kann das auch [1][am Beispiel der | |
Coronamaßnahmen-Gegner] fest machen: Die unterstellen der Politik, sie | |
wolle eine Diktatur errichten und arbeite mit Wirtschaftsmächten wie Bill | |
Gates zusammen. Das ist eine Verschwörungstheorie. Dann kann man sich | |
fragen, wie Menschen den Regierenden so etwas unterstellen können. | |
Sind das alles Verschwörungsgläubige? | |
Das wäre zu einfach. Bei [2][Heise.de] habe ich einen interessanten Hinweis | |
gefunden, nämlich dass Leute mehr an Verschwörungen glauben, weil es mehr | |
Verschwörungen gibt. Das halte ich für gar nicht einmal so falsch. | |
Ja? | |
In den letzten 15 Jahren gab es zum Beispiel eine sehr enge Zusammenarbeit | |
zwischen Verkehrsministerium und Autoindustrie. Dies war die Voraussetzung | |
für den [3][sogenannten Dieselskandal]: Skandalös war, wie Politik und | |
Verwaltung es den Autoherstellern ermöglicht haben, die Abgaswerte zu | |
manipulieren. Ich finde es schwer, hier von etwas anderem zu sprechen als | |
von einer Verschwörung zwischen Verkehrsministerium und Industrie zum | |
Schaden der Gesundheit der Bevölkerung. | |
Haben Sie weitere Beispiele? | |
Katharina Pistor hat [4][in ihrem Buch „Der Code des Kapitals“] aufzeigt, | |
dass Staaten den transnationalen Unternehmen erlauben, ihre | |
Vertragsfreiheit so zu gestalten, dass die Kosten für Krisen immer von den | |
Bürgern übernommen werden müssen. Oder noch ein Beispiel: Der | |
US-amerikanische Journalist Matt Taibbi hat aufgedeckt, dass es einen engen | |
personellen Austausch zwischen dem US-Finanzministerium zur Zeit der | |
Präsidenten Clinton und Obama und der Bank Goldman-Sachs gab. Die Bank | |
konnte Einfluss auf Gesetzesvorhaben bzw. Regulierungen nehmen, was es der | |
Bank ermöglichte, Krisen zu „inszenieren“, um ihre Gewinne zu steigern. So | |
etwas sind Hinweise darauf, dass wir schlecht regiert werden, und das weckt | |
zu Recht Misstrauen in einer Gesellschaft. | |
Ist es also wichtig einen kritischen Blick zu haben – und vielleicht sogar | |
Misstrauen? | |
Das würde ich mir wünschen. Was mich an der gegenwärtigen Situation | |
geradezu verzweifeln lässt, ist, dass ich auf der einen Seite sehe, dass es | |
gute Gründe gibt, misstrauisch zu sein bezogen auf die Art, wie wir regiert | |
werden. Und dass ich auf der anderen Seite vollkommen fassungslos bin, wie | |
sich das Misstrauen gegenüber den regierenden Instanzen an den | |
Coronamaßnahmen fest macht. Hier wirkt ausschließlich die unmittelbare | |
Betroffenheit durch staatliche Maßnahmen politisierend. Dennoch hat es | |
etwas Gutes, dass wir eine Politisierung der Gesellschaft erleben. | |
Nämlich? | |
Es wird heftig darum gestritten, wie wir unser gesellschaftliches Leben | |
gestalten wollen. Damit endet der politische Tiefschlaf der Merkeljahre, | |
den wir bis zur Flüchtlingskrise in Deutschland hatten und der zu | |
gesellschaftlichem Stillstand geführt hat. | |
Es ist heute viel die Rede von einer Spaltung der Gesellschaft. | |
Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sich die Gesellschaft gespalten hat. | |
Wenn wir uns den vergangenen Wahlkampf in Deutschland angucken und diesen | |
mit Wahlkämpfen der 1960er und 1970er Jahre vergleichen, dann war dies fast | |
schon eine harmonische Atmosphäre des wechselseitigen Respekts. Eher würde | |
ich sagen, dass wir jetzt gerade langsam in eine konfrontative Atmosphäre | |
zurückfinden, die wir Ende der 1960er- und 1970er-Jahre hatten. Das war | |
auch eine sehr politisierte Atmosphäre, in der es um | |
gesellschaftlich-politische Richtungsentscheidungen ging. Gegenwärtig | |
stehen wir wieder vor grundlegenden politischen Richtungsentscheidungen. | |
Welche meinen Sie? | |
Gelingt es [5][den Klimawandel abzuwenden]? Gelingt es, die kapitalistische | |
Wirtschaft gut zu regulieren, um die soziale Ungleichheit zurückzunehmen? | |
Schaffen wir es, dass gesellschaftlicher Aufstieg aus den unteren sozialen | |
Schichten wieder möglich wird? Gelingt es, [6][die Digitalisierung] | |
demokratisch und unter Wahrung des Datenschutzes und Achtung der | |
Persönlichkeitsrechte zu gestalten? Hier stehen mächtige Interessen | |
gegeneinander. Deshalb wäre es naiv zu glauben, die notwendigen | |
Richtungsentscheidungen wären ohne harten politischen Streit möglich. | |
24 Jan 2022 | |
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[2] https://www.heise.de/tr/blog/artikel/Nichts-als-die-Wahrheit-4719760.html | |
[3] /Prozess-zu-VW-Dieselbetrug/!5802136 | |
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