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# taz.de -- Möglicher Boykott der Fußball-WM: Spiel ohne Gegner
> In der Debatte über einen Boykott der Weltmeisterschaft in Katar hilft
> ein Blick zurück. Warum die Sowjetunion auf die WM 1974 verzichtete.
Bild: Wenige Monate vor dem Boykottspiel: das russische Team im Jahr 1973
Historisch ist es keinesfalls neu, dass eine Sportmacht aus politischen
Gründen die Teilnahme an einer Fußball-Weltmeisterschaft ablehnt. 1974 fand
die WM in Deutschland statt, und der damalige Vizeeuropameister Sowjetunion
hatte für sich gute Gründe gefunden, zu boykottieren. Das ist heute
weitgehend vergessen, und schon dieser Befund enthält eine Botschaft:
[1][Wenn in allen Debatten über einen Boykott der WM in Katar] nicht an
frühere Boykotte (und ihre Ergebnisse) erinnert wird, heißt das doch: Im
welthistorischen Gedächtnis bleiben Boykotte meist wirkungslos.
Die Sowjetunion hatte sich entschieden, ein für den 21. November 1973
angesetztes WM-Qualifikationsspiel gegen Chile zu boykottieren. Wenige
Wochen zuvor, am 11. September 1973, hatten dort rechtsradikale Generäle
mit Unterstützung der CIA gegen den demokratisch gewählten sozialistischen
Präsidenten Salvador Allende geputscht.
Das Estadio Nacional in Santiago de Chile nutzten die Militärs als
Gefängnis. Viele der Inhaftierten wurden in den Umkleide- und Duschräumen
gefoltert, vergewaltigt, ermordet. In dem kurzen Zeitraum zwischen dem
Putsch und dem angesetzten Qualifikationsspiel waren etwa 12.000 Menschen
im Stadion interniert.
Das Hinspiel hatte in Moskau stattgefunden, nur zwei Wochen nach dem
Putsch. Die Sowjetunion war bei dem 0:0 zwar spielerisch überlegen, doch
Jewgeni Lowtschew, 1972 sowjetischer Fußballer des Jahres, beklagte den
enormen politischen Druck, der auf dem Team gelastet habe. Dass Chile es
überhaupt in der Qualifikation so weit gebracht hatte, hatte es auch dem
deutschen Trainer Rudi Gutendorf zu verdanken, der da aber schon weg war –
auch eine Folge des Militärputsches. Gutendorf, der guten Kontakt zu
Allende gepflegt hatte, war von der deutschen Botschaft gedrängt worden,
Chile schnell zu verlassen.
## Eine Farce im Nationalstadion
Gegen das Rückspiel in Santiago de Chile protestierte die Sowjetunion und
forderte ein Spiel auf neutralem Boden. Eine Untersuchungskommission der
Fifa reiste aber mit solchen Erkenntnissen zurück: „Innerhalb der äußeren
Umzäunung scheint alles normal zu sein, und die Gärtner arbeiten in den
Gärten.“ Die Weltöffentlichkeit war auf der Seite der Sowjetunion. Der
Kicker etwa schrieb, dass das „Terrain für ein unmittelbar bevorstehendes
WM-Qualifikationsspiel ‚disqualifiziert‘ war“.
Die Fifa blieb hart, die Sowjetunion allerdings auch. Am 21. November
kamen etwa 15.000 Zuschauer in das Nationalstadion. Ein
Fifa-Schiedsrichtergespann war da, elf chilenische Nationalspieler auch, es
wurde die Hymne gespielt, das Spiel wurde angepfiffen, mit ein paar kurzen
Pässen spielten sich die Chilenen in Richtung leeres Tor, Kapitän Francisco
Valdés schoss ein. Jubel brandete nicht auf, aber der Star der Chilenen,
Carlos Caszely, lief vor eine der leer gebliebenen Fankurven und
inszenierte einen bizarr anmutenden Jubel. Caszely, der sich als Linker und
Allende-Unterstützer verstand, berichtete später, dies sei eine
Protestgeste gewesen: Er wollte das Tor denjenigen widmen, die nicht als
freie Zuschauer kommen konnten. Nach der WM 1974 erfuhr Caszely übrigens,
dass das Regime auch seine Mutter gefoltert hatte.
Ein Wiederanpfiff erfolgte nach der 1:0-Farce nicht, weil kein Gegner da
war, der den Anstoß hätte ausführen können. Das Spiel wurde 2:0 für Chile
gewertet, das damit für die WM in Deutschland qualifiziert war.
Der Vizeeuropameister Sowjetunion jedenfalls hatte aus guten politischen
Gründen boykottiert, die Fußball-WM 1974 wurde ein Erfolg, General Augusto
Pinochet blieb bis 1990 im Amt, und wir haben heute, 2022, [2][ein bisschen
mehr Stoff, über Sportboykotte nachzudenken.]
13 Jan 2022
## LINKS
[1] /Sport-und-politische-Propaganda/!5823874
[2] /Menschenrechte-im-WM-Land/!5814345
## AUTOREN
Martin Krauss
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