| # taz.de -- Bildung von Rom:nja- und Sinti:ze: Der Helfer von St Pauli | |
| > In Hamburg werden Sinti- und Roma-Schüler*innen gezielt gefördert. Zum | |
| > Beispiel durch Bildungsberater Dzoni Sichelschmidt. Ein Schulbesuch. | |
| Bild: Dzoni Sichelschmidt erteilt Romanes-Unterricht an der Grundschule St Paul… | |
| Hamburg taz | Als die Schulglocke das Ende der Mittagspause einläutet, | |
| schließt Dzoni Sichelschmidt die Zimmertür auf. Sechs Kinder nehmen auf | |
| kleinen Bänken in der Mitte des Raums Platz. Sie besuchen die vierte Klasse | |
| der Grundschule St. Pauli. Während ihre Mitschüler*innen schon auf dem | |
| Schulhof toben, steht für sie noch ein Fach im Stundenplan: Romanes, die | |
| Sprache der Sinti*zze und Rom*nja. | |
| Sechs Augenpaare richten sich auf Sichelschmidt. „Und, wie fühlt ihr | |
| euch?“, fragt der hagere Mann mit Sidecut, Jeans und Lederboots auf | |
| Deutsch. „Was war heute gut, was war schlecht?“ Habibe erzählt vom | |
| Theaterunterricht: „Eigentlich traue ich mich nicht, zu lesen, weil das für | |
| mich peinlich ist, aber heute hab ich das geschafft“. „Schlecht war | |
| Deutsch“, sagt Elmedina. „Ich hab so viele Fehler gemacht!“ „Aber du ha… | |
| doch auch so gute Sachen gesagt“, wendet Sichelschmidt ein. „Überleg noch | |
| mal, was gut war, und sag es auf Romanes.“ | |
| Alle Schüler*innen gehören der Minderheit der Sinti*zze oder Rom*nja | |
| an, genauso wie ihr Lehrer. Zu Hause sprechen sie neben Romanes auch | |
| Deutsch, Rumänisch, Türkisch oder Serbisch – je nachdem, ob ihre Familie im | |
| Zuge der EU-Osterweiterung, aufgrund der Balkankriege in den 90ern oder als | |
| Gastarbeiter*innen in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland | |
| gekommen ist. Die Sinti*zze wanderten vor mehr als 600 Jahren auf das | |
| Gebiet der heutigen Bundesrepublik ein. | |
| Romanes lernen viele zu Hause nur bruchstückhaft. Der Unterricht soll den | |
| Schüler*innen helfen, sicherer in der Sprache ihrer Minderheit zu | |
| werden. Aber nicht nur das. Mit den Romanes-Stunden will Sichelschmidt in | |
| der Grundschule St. Pauli sowie an der Stadtteilschule am Hafen einen Raum | |
| schaffen, in dem die Kinder sich gegen Diskriminierung wappnen und | |
| Selbstvertrauen schöpfen können. | |
| ## Nur 10 Prozent machen Abi | |
| Als „Bildungsberater für Sinti und Roma“ unterstützt er sie aber auch | |
| dabei, einen deutschen Schulabschluss zu erwerben. Ihre Chancen darauf | |
| stehen vergleichsweise schlecht, wie [1][die RomnoKher-Studie 2021] zeigt. | |
| Noch immer gehen knapp 15 Prozent der Jugendlichen mit Sinti- oder | |
| Roma-Hintergrund ohne Abschluss von der Schule, in der Gesamtbevölkerung | |
| sind es rund 7 Prozent. Und während im Bundesdurchschnitt rund 50 Prozent | |
| der Schüler*innen mit einer Hochschulreife die Schule verlassen, machen | |
| unter den Sinti- und Roma-Jugendlichen nur 10 Prozent Abitur. | |
| Damit sich das ändert, werden Schüler*innen mit Sinti- oder | |
| Roma-Hintergrund in Hamburg gezielt gefördert. 14 | |
| Bildungsberater*innen kümmern sich – wie Sichelschmidt – um die | |
| Kinder der Minderheit an ihren jeweiligen Schulen. Bundesweit ist das | |
| Modell fast einmalig: Auf eine taz-Umfrage bei den Kultusministerien hin | |
| berichten nur Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sowie die | |
| Stadtstaaten Bremen und Berlin von einer ähnlich gezielten Förderung. | |
| Romanes-Unterricht in der Schule gibt es nach Angaben der Länder außer in | |
| Hamburg nur in Nordrhein-Westfalen. | |
| Romanes-Lehrer Sichelschmidt hatte eigentlich Veterinärmedizin studiert. | |
| Wegen der Balkankriege musste er das Studium abbrechen und floh aus dem | |
| Kosovo nach Deutschland. Sein Vater saß als Vertreter der Rom*nja im | |
| kosovarischen Parlament. Romanes, seine Muttersprache, hörte er im | |
| Schulunterricht, im Radio und Fernsehen. „Für mich war es total fremd, dass | |
| es in Deutschland nichts dergleichen gab“, sagt er. „Ich möchte den Kindern | |
| und Jugendlichen hier vermitteln, dass sie sich nicht verstecken müssen, | |
| weil sie Roma-Hintergrund haben.“ Mit den Älteren spricht er über die | |
| Geschichte der Minderheit, erklärt, wie Diskriminierung funktioniert und | |
| was Zivilcourage ist. | |
| - „Elmedina, warum bist du in der Schule? Für die Lehrer, für deine | |
| Freundinnen oder für dich? | |
| - „Für mich!“ | |
| - „Und ist es dann wichtig, was die anderen machen oder denken?“ | |
| - „Nein.“ | |
| - „Dann denk nicht über die anderen nach, fokussiere dich auf dich.“ | |
| ## Bildung ist Luxus | |
| Knappheitsmanager nennt Sichelschmidt seine Schüler*innen, von denen viele | |
| aus Bulgarien und Rumänien stammen: „Sie müssen mit sehr wenig Ressourcen | |
| und Anerkennung zurechtkommen.“ Während die Kinder im Unterricht seien, | |
| verdienten einige Eltern ihren Lebensunterhalt als Reinigungskraft oder auf | |
| Hamburger Baustellen, für zwei bis drei Euro Stundenlohn. Manche hätten | |
| hier zum ersten Mal fließend Wasser. Für sie bedeuten die paar Euro, die | |
| sie am Ende des Monats verdient haben, eine große Errungenschaft, sagt | |
| Sichelschmidt. „Sich um die Bildung der Kinder zu kümmern, ist da nicht | |
| auch noch drin.“ | |
| Aber es gibt noch mehr Gründe, warum Sinti- und Roma-Jugendliche im | |
| deutschen Schulsystem benachteiligt sind. Familien, die schon zur Zeit des | |
| Nationalsozialismus in Deutschland waren, spüren noch immer die Folgen der | |
| damaligen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik. Sinti*zze und Rom*nja | |
| wurden vom Schulbesuch ausgeschlossen, die wenigen Überlebenden des | |
| Völkermords waren meist Analphabet*innen. | |
| Nach dem Krieg standen Lehrer, die während des NS unterrichtet hatten, noch | |
| immer in den Klassenzimmern. Viele Eltern entschieden sich, ihre Kinder von | |
| ihnen fernzuhalten. Dass Pädagog*innen bis in die 80er rund ein Drittel | |
| der Sinti- und Romaschüler*innen auf Sonderschulen verwiesen, | |
| befeuerte das Misstrauen gegenüber der Institution Schule weiter. | |
| Hinzu kommen Diskriminierungserfahrungen. Rund 60 Prozent der heute 18- bis | |
| 25-Jährigen berichten gegenüber RomnoKher über antiziganistische | |
| Diskriminierung während der Schulzeit. „Die Lehrkräfte sind nicht | |
| qualifiziert, dagegen anzugehen – das fängt damit an, dass sie noch immer | |
| das Z-Wort nutzen“, sagt Daniel Strauß. Der Vorsitzende der gemeinnützigen | |
| RomnoKher GmbH setzt sich seit Jahrzehnten für mehr Bildungsteilhabe der | |
| Minderheit ein. | |
| ## Ziel: Empowerment | |
| Neben Fortbildungen in diskriminierungs- und sprachsensibler | |
| Unterrichtsgestaltung für die Lehrer*innen fordert Strauß gezielte | |
| Unterstützung und Empowerment der Schüler*innen. Nicht exklusiv, aber | |
| explizit solle die Förderung sein. Bei der alten Bundesregierung stieß | |
| Strauß damit auf Widerstand. | |
| Das Bundesinnenministerium verwies auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, der | |
| es verbiete, Menschen etwa wegen Abstammung oder Herkunft beim Erwerb von | |
| Bildung zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Fördermaßnahmen würden | |
| grundsätzlich nicht ausschließlich für Sinti und Roma angeboten. Auch die | |
| neue Bundesregierung erklärt, dass bei Bildungsmaßnahmen ein „inklusiver | |
| Ansatz“ verfolgt werde und die Ethnie keine Rolle spiele. | |
| Dabei braucht es explizite Fördermaßnahmen, findet auch | |
| Bildungswissenschaftlerin Karin Cudak. Die Sprachentwicklung der | |
| Schüler*innen etwa werde durch den Romanes-Unterricht gefördert: „Die | |
| Sprachen beflügeln sich gegenseitig.“ Für Kinder sei es extrem anregend, | |
| über Bedeutungen nachzudenken und Sprachvergleiche zu ziehen. Hinzu komme | |
| die Anerkennung, die mit Romanes als eigenem Schulfach einhergehe. | |
| Daniel Strauß ist überzeugt, dass Sichelschmidt gute Arbeit macht – für die | |
| zugewanderten Roma. „Aber für die deutschen Sinti ist Romanes-Unterricht an | |
| einer staatlichen Institution undenkbar“, sagt er. Zu schmerzhaft sei die | |
| Erinnerung an den Nationalsozialismus: Damals lernten NS-Forscher die | |
| Sprache der Minderheit, um sie auszuhorchen und ihre Vernichtung zu | |
| organisieren. „Solange die Überlebenden noch am Leben sind, nehmen wir | |
| darauf Rücksicht“, erklärt Strauß. Wenn Romanes-Unterricht, dann müsse er | |
| von Sinti organisiert werden. | |
| ## Hilfe auch nach dem Unterricht | |
| „Sprachförderung ist nur ein Baustein neben vielen“, mahnt die Co-Autorin | |
| der RomnoKher-Studie. Zusätzlich brauche es Stipendienprogramme, damit der | |
| Besuch von weiterführenden Schulen oder der Uni nicht zur finanziellen | |
| Belastungsprobe für die Familien werde. Außerdem fordert Cudak | |
| Unterstützungsangebote – beim Lernen genauso wie für den Kindergeldantrag. | |
| In St. Pauli versucht Sichelschmidt das umzusetzen. Jeden Dienstag gibt es | |
| für die Sinti- und Romakinder seiner beiden Schulen eine | |
| Nachmittagsbetreuung im nahegelegenen Kinder- und Jugendzentrum, dem „Haus | |
| der Familie“. Neben Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe wird gemeinsam | |
| gekocht und zu Abend gegessen. So auch an diesem Dienstag. Laut schnatternd | |
| und in Zweierreihen spazieren rund 20 Schüler*innen zum Kinder- und | |
| Jugendzentrum. Auf halbem Weg macht der Zug Halt, vor dem Haus von | |
| Susanna**. | |
| Die Viertklässlerin war an diesem Dienstag nicht in der Schule, aber ins | |
| „Haus der Familie“ möchte sie trotzdem mit. Sichelschmidt klingelt an der | |
| Haustür. „Hallo Dzoni, Susanna kommt gleich runter“, ruft ihr Vater durch | |
| die Gegensprechanlage. | |
| „Warum warst du heute nicht in der Schule?“, fragt Sichelschmidt das | |
| Mädchen, als die Gruppe sich wieder in Bewegung setzt. Susanna vergräbt | |
| ihre Hände in den Jackentaschen und weiß nicht so recht, was sie antworten | |
| soll. „Na, darüber reden wir später. Schön, dass du da bist“, sagt er. M… | |
| Schüler*innen Kontakt zu halten, wenn sie der Schule fernbleiben, gehört | |
| zu Sichelschmidts Aufgaben. Bei ihrer Rückkehr begleitet er die Kinder | |
| sogar in den Unterricht und unterstützt sie. | |
| ## Weniger Fehltage | |
| Seit er das tut, ist die Schulabstinenz massiv zurückgegangen, berichtet | |
| Kunst- und Englischlehrerin Edda Simon: „Fast alle Kinder kommen zur | |
| Schule.“ Für sie sei Sichelschmidts Arbeit eine große Entlastung – weil er | |
| ständig mit den Kindern spreche, aber auch Vermittlungsarbeit leiste: „Ich | |
| habe durch ihn ganz viel über die Roma-Community gelernt und kann die | |
| Kinder jetzt viel besser verstehen“, sagt Simon. „Und er berät die Eltern | |
| und sorgt für eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Eltern und Schule.“ | |
| Nicht allen Eltern sei es ein Anliegen, dass ihre Kinder den Abschluss | |
| schaffen, weiß Sichelschmidt. „Einige Familien sind sehr traditionell und | |
| finden, dass die Mädchen lieber früh heiraten sollen“, berichtet er. „Da | |
| sage ich den Mädchen immer wieder: Setzt eure Meinung durch.“ Die | |
| Diskussionen zu Hause ließen dann nicht lange auf sich warten. | |
| Die Kinder auf dem Weg zum Jugendzentrum beschäftigt vor allem, was es | |
| gleich zum Abendessen gibt. „Wir stimmen jetzt demokratisch ab: Sollen wir | |
| Kartoffelbrei mit Würstchen oder Spaghetti Bolognese kochen?“, fragt | |
| Sichelschmidt in die Runde. Vierzehn Hände schnellen in die Höhe. Das Votum | |
| ist eindeutig: Spaghetti. | |
| ** Name von der Redaktion geändert | |
| 15 Jan 2022 | |
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| [1] /Bildung-von-Romnja--und-Sintize/!5753813 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Schindler | |
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