# taz.de -- Neues Buch von Historiker Jürgen Kocka: Im Vorgefundenen Geschicht… | |
> Die Moderne hat Konflikte mit sich gebracht, die noch nachwirken. Jürgen | |
> Kocka beschreibt Deutschland im langen 19. Jahrhundert extrem kurzweilig. | |
Bild: Grundsteinlegung für das Reichstagsgebäude durch Kaiser Wilhelm I. am 9… | |
Auf den ersten Blick würde man es nicht glauben: dass sich eine | |
Strukturgeschichte ebenso unterhaltsam und flüssig lesen lässt wie eine | |
Ereignisgeschichte, ebenso spannend wie eine Novelle oder ein Roman. | |
Indes: Einer der Doyens der neueren deutschen Geschichtswissenschaft, | |
Jürgen Kocka, dem nicht nur eine Geschichte des Kapitalismus, sondern auch | |
höchst erhellende Arbeiten zur Geschichte der (deutschen) Arbeiterklasse zu | |
verdanken sind, hat soeben einen eher schmalen Band zum Thema „Kampf um die | |
Moderne. Das lange 19. Jahrhundert in Deutschland“ vorgelegt, einen Band, | |
in dem mit Ausnahme weniger namentlicher Erwähnungen so gut wie keine | |
menschlichen Akteure vorkommen. | |
Am Rande erwähnt werden immerhin gelegentlich Napoleon, hie und da auch | |
Wilhelm II. sowie – last, but not least – Bismarck. Wenn überhaupt | |
Personennamen vorkommen, dann die Namen von ganz unterschiedlichen Autoren | |
– nicht zuletzt der Name Max Webers. | |
Gleichwohl: Die von Kocka erzählte Strukturgeschichte macht neugierig, vor | |
allem angesichts seiner Ankündigung im ersten Kapitel, in dem zwar die | |
These vom [1][„deutschen Sonderweg“] zur Disposition gestellt wird, aber | |
gleichwohl „Eigenarten der deutschen Entwicklung“ unter Bezug auf ebendiese | |
Sonderwegsdebatte behauptet werden. | |
## Beispielloser zivilisatorischer Zusammenbruch | |
So will Kocka nicht ausblenden, „daß es in Deutschland härter und | |
geschichtsmächtiger als anderswo, schon wenige Jahre nach dem Ende des | |
langen 19. Jahrhunderts, durch Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und | |
Holocaust, zu einem beispiellosen zivilisatorischen Zusammenbruch kam, der | |
auch durch langfristig wirkende Bedingungen ermöglicht worden ist.“ Man | |
bemerke das in diesen Satz so unauffällig vorkommende „auch“. | |
Diese langfristigen Bedingungen sind die des [2][„langen 19. | |
Jahrhunderts“,] das 1789 mit der Französischen Revolution begann und 1914 | |
mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges sein Ende nahm. Die wesentlichen | |
strukturellen Faktoren dieses langen Jahrhunderts waren Industrialisierung, | |
Kapitalismus, Bevölkerungszunahme, Verstädterung, Binnenwanderung und | |
Auswanderung sowie der Aufstieg des Bürgertums als Klasse. | |
Auf der Ebene der gesellschaftsbildenden Deutungsmuster verzeichneten – | |
zumal in Deutschland – das Konzept der Nation und die darauf beruhende | |
massenwirksame Ideologie des Nationalismus womöglich noch stärkere Erfolge | |
als in anderen (west)europäischen Staaten, wenngleich die herkömmliche | |
Unterscheidung von Herkunftsnation und Staatsbürgernation durch neuere | |
Forschung relativiert worden ist. | |
Jedoch: „Insgesamt“ – so Kocka – „scheint die bürgerliche Durchdring… | |
Gesellschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts weniger weit | |
fortgeschritten zu sein als in den westeuropäischen Nachbarländern.“ | |
## Die Sonderwegsthese | |
Damit bekräftigt er wesentliche Annahmen der derzeit außer Mode geratenen | |
Sonderwegsthese. Entsprechend behauptet Kocka – auch unter Bezug auf Hegel | |
und Marx – dass die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft | |
widersprüchlich verlief und „Klasse“ sowie „Geschlecht“ die | |
Verallgemeinerung eines zivilgesellschaftlichen Projekts begrenzten. | |
Was freilich keine Besonderheit Deutschlands gewesen sein dürfte. In | |
Deutschland jedenfalls entsprach das Bürgertum für Kocka weitgehend dem, | |
was Karl Marx als „Bourgeoisie“ im Unterschied zur Gemeinschaft der | |
„Citoyens“ kennzeichnete. Das führte schließlich dazu, dass der 1871 | |
gegründete deutsche Nationalstaat minder mit den Prinzipien von | |
Volkssouveränität und Befreiung verknüpft war – im Unterschied zu anderen | |
europäischen Staaten, die sich „auf erfolgreiche Akte des Aufstandes gegen | |
traditionelle Obrigkeit oder fremde Oberherrschaft […] zurückführen | |
konnten“. | |
Mit Blick auf die politischen Institutionen unterschied sich Deutschland | |
damit von anderen west-, nord- und südeuropäischen Ländern durch eine | |
massive Blockade der Parlamentarisierung – ohne dass damit das deutsche | |
Bürgertum als solches schwächer als in anderen Ländern gewesen wäre. | |
Damit rückt für Kocka das Bürgertum und seine Geschichte ins Zentrum der | |
Betrachtung – vor allem der strukturellen Erklärung des | |
Zivilisationsbruches – und dauerte es von 1914 an keine zwei Jahrzehnte, | |
„bis sich diese Zivilgesellschaft in einem Prozeß der inneren und nach | |
außen gerichteten Barbarisierung befand, gegen den sie wenig Gegenwehr | |
aufzubieten wußte: ein Extremfall sondergleichen im europäischen Rahmen.“ | |
## Grenzen der Strukturgeschichte | |
Zu dieser Behauptung hätte man nun gerne mehr gelesen als lediglich | |
Fußnotenverweise, indes: Womöglich finden an genau diesem Punkt struktur- | |
und gesellschaftsgeschichtliche Ansätze ihre Grenze. Spätestens hier wäre | |
dann auf eine mindestens gruppen-, wenn nicht personenbezogene | |
Ereignisgeschichte zurückzukommen. | |
Auf jeden Fall lassen sich an Kockas bestens lesbarer Studie Vor- und | |
Nachteile strukturbezogener Historiografie luzide nachvollziehen: Am Ende | |
kann eine strukturgeschichtliche Perspektive denn doch nicht mehr liefern | |
als eine Entfaltung der notwendigen Bedingungen von Geschichte, so schon | |
Karl Marx: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie | |
nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter | |
unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“. | |
8 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://dewiki.de/Lexikon/Deutscher_Sonderweg | |
[2] /Kolumne-Leuchten-der-Menschheit/!5426750 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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