# taz.de -- Gewalttat im Oberlinhaus in Potsdam: „Explosion angestauter Aggre… | |
> Am neunten Prozesstag um die Morde im Oberlinhaus sagte die | |
> psychologische Gutachterin aus. Sie berichtet von drastischen | |
> Gewaltfantasien. | |
Bild: Die Angeklagte am 26 Oktober im Landgericht Potsdam | |
POTSDAM taz | „Nach der Begutachtung von Frau R. sehe ich die Aussagen | |
meiner Patientinnen auch anders.“ Am Landgericht Potsdam wurde am | |
Donnerstag der [1][Mordprozess gegen eine frühere Mitarbeiterin einer | |
Wohneinrichtung des Oberlinhauses] fortgesetzt. Im neunten Prozesstag sagte | |
die psychiatrische Gutachterin umfassend aus. | |
Die Gerichtspsychiaterin Cornelia Mikolaiczyk führte zwei längere | |
persönliche Gespräche mit der Angeklagten Ines R. Diese habe sich, wie auch | |
schon zu Prozessbeginn, ausführlich zu ihrer Kindheit geäußert, berichtete | |
von Suizidversuchen und von Aufenthalten in Kliniken. Auch über die Tat | |
sprach die Angeklagte mit der Gutachterin. Die Expertin hatte schon vor | |
Prozessbeginn in einem Gutachten festgestellt, dass die Angeklagte die Tat | |
im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen habe. | |
Der 52-jährigen ehemaligen Pflegerin Ines R. wird vorgeworfen, dass sie am | |
28. April 2021 [2][vier Menschen mit einer schweren Behinderung in einer | |
Wohneinrichtung in Potsdam getötet habe.] Sie soll die Menschen im Alter | |
von 31 bis 56 Jahren, die vollständig oder halbseitig gelähmt waren, mit | |
einem Messer so schwer verletzt haben, dass sie verbluteten. Eine 43 Jahre | |
alte Bewohnerin überlebte die Tat durch eine Notoperation. | |
Bislang schwieg die Angeklagte zur Tat und es wurde angegeben, dass sie | |
sich nicht an den Ablauf der Tat erinnert. Vor allem [3][über ihre | |
familiäre Situation] und die [4][Belastung in der Pflegearbeit] hatte die | |
Angeklagte zum Prozessauftakt jedoch ausführlich ausgesagt. | |
## Gewaltfantasien lange vor der Tat | |
Gutachterin Mikolaiczyk empfahl dem Gericht am Donnerstag, die Angeklagte | |
im Maßregelvollzug unterzubringen. Für die Bewertung des Strafmaßes ist die | |
Einschätzung der Steuerungsfähigkeit der Angeklagten relevant. Die | |
Gutachterin diagnostizierte der Angeklagten eine Borderline-Störung. | |
Außerdem läge bei Ines R. ein missbräuchlicher Konsum von Alkohol und | |
Medikamenten vor. | |
Eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund der Erlebnisse in ihrer | |
Kindheit diagnostizierte sie nicht. Henry Timm, der Verteidiger der | |
Angeklagten, beantragte, dass hierzu weitere Fachgutachten eingeholt | |
werden. Ob dem stattgegeben wird ist noch nicht klar. Die Angeklagte habe | |
in den Gesprächen mit der Gutachterin angegeben, dass es „zwei Ines“ gebe | |
und sie Stimmen im Kopf hörte. Eine Schizophrenie liegt laut der | |
Gutachterin aber nicht vor. | |
Besonders eindrücklich waren die Ausführungen der Gerichtspsychiaterin über | |
die Gewaltfantasien, die die Angeklagte schon seit vielen Jahren gegen | |
verschiedene Personen hatte. Darunter war ihre eigene Mutter, die sie nach | |
eigener Aussage „hasste wie die Pest“, und auch gegen ihren Sohn, der eine | |
Behinderung hat. Sie habe geglaubt, dass wenn sie ihn erwürgen würde, so | |
die Aussage der Angeklagten im Gespräch mit der psychologischen | |
Gutachterin, ihre Probleme gelöst gewesen wären. Um Mitleid, etwa aufgrund | |
einer Behinderung einer Person, sei es der Angeklagten in ihren | |
Gewaltfantasien demnach nie gegangen. Im Verlauf der Prozess war die | |
Angeklagte von Zeug*innen mehrfach als liebevoll und mütterlich | |
beschrieben worden. Um die Bewohner*innen des Thusnelda-von-Saldern | |
Hauses [5][hätte sie sich aufopferungsvoll] gekümmert. | |
Die Gutachterin berichtete, dass die ehemalige Pflegerin jedoch stets sehr | |
ich-zentriert sprach und immer von ihren eigenen Problemen ausging. Mit den | |
getöteten Menschen aus der Wohneinrichtung in Potsdam, die sie alle | |
jahrelang gepflegt hatte, habe sie wenig Empathie gezeigt. Nach aktuellem | |
Stand sei sie auch nicht bereit, sich öffentlich für die Tat zu | |
entschuldigen und äußerte keine Reue. In dem persönlichen Gespräch mit der | |
Gutachterin über die Tat habe sie berichtet, wie überraschend anstrengend | |
es gewesen sei, zwei der Bewohner*innen zunächst zu würgen. Das Messer | |
habe sie schließlich geholt, weil Andreas S., den sie durch das Würgen tot | |
geglaubt habe, „die Frechheit besessen hatte, noch zu leben.“ | |
Eine Woche vor der Tat soll Ines R. versucht haben, eine Bewohnerin zu | |
vergiften, sagte die Gutachterin mit Bezug auf Aussagen der Angeklagten. In | |
dem Prozess am Landgericht Potsdam soll auch geklärt werden, ob die | |
[6][mutmaßliche Täterin geplant vorging.] | |
## Aggressives Verhalten auch gegen Ärzte | |
In einem vorangegangenen Prozesstag war auch die langjährige Therapeutin | |
der Angeklagten vor Gericht als Zeugin befragt worden. Diese berichtete | |
ebenfalls von den Gewaltfantasien, sie habe die die Vorstellung, dass diese | |
in die Tat umgesetzt werden, damals aber als unwahrscheinlich bewertet. | |
Im Rahmen der Ausführung von Mikolaiczyk am Donnerstag wurde auch deutlich, | |
dass die Angeklagte nach der Tat in der Klinik mehrfach aggressives | |
Verhalten gegen Personen und Gegenstände zeigte. Zwei Mal soll sie | |
behandelnde Ärzte angegriffen haben, nachdem ihr mitgeteilt wurde, dass sie | |
länger in der Klinik bleiben muss. Daraufhin wurde sie fixiert und stand | |
längere Zeit unter Beobachtung. | |
In dieser Situation fand auch das zweite Gespräch mit der Gutachterin | |
statt, in dem die Angeklagte den für die Gerichtspsychiaterin | |
erschütternden Satz „So einen kranken Kopf kann man nur auf den Müll | |
werfen“, über sich selbst äußerte. Die 52-jährige Angeklagte ist in der | |
Einschätzung der Expertin stark suizidgefährdet und stelle aufgrund von | |
fehlendem Reflexionsverhalten auch eine Gefahr für andere dar. Durch die | |
Gewalttat habe sie „eine Grenze durchbrochen“, die zuvor in ihrem Leben | |
tabuisiert gewesen war. Gewalt richtete sie bis zur Tat vor allem gegen | |
sich selbst. Mikolaiczyk nannte die Tat vor Gericht eine „Explosion ihrer | |
jahrzehntelangen angestauten Aggressionen“. Die Tat habe Ines R. ihr | |
gegenüber mechanisch beschrieben, sie hätte sie wie „in einem Vakuum, unter | |
einer Käseglocke“ erlebt und währendessen „nichts empfunden.“ | |
Wie schon in den Prozesstagen zuvor wirkte die Angeklagte während der | |
mehrstündigen Aussagen der Gutachterin apathisch und zeigte wenige | |
Reaktionen auf die Schilderungen. Einmal runzelte sie ihre Stirn und | |
schüttelte empört den Kopf als die Sachverständige von einem kumpelhaften | |
Umgang der Angeklagten mit dem Personal in der Klinik berichtete, in der | |
sie seit der Tat untergebracht ist. Dieser stand für Mikolaiczyk im | |
Kontrast zu der Schwere der Vorwürfe gegen Ines R.. | |
Zu Beginn des Prozesstags am Donnerstag referierte der Vorsitzende Richter | |
Theodor Horstkötter außerdem das mögliche Strafmaß, das für die schwere | |
Misshandlung von Schutzbefohlenen gilt, und stellte in Auszügen das | |
Gutachten des Sachverständigen vor, der die DNA-Spuren in den Zimmern der | |
getöteten Menschen sowie an der Kleidung der Angeklagten analysiert hatte. | |
Am Freitag sollen in Potsdam voraussichtlich die Plädoyers der | |
Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gehört werden. | |
16 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Linda Gerner | |
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