# taz.de -- Pläne schmieden 2022: Mein Kalender, die Landschaft | |
> Rund um Silvester lässt man das letzte Jahr Revue passieren und macht | |
> Pläne fürs neue. Doch wegen Corona ist vieles ungewiss. Sechs Leute | |
> berichten. | |
## Der Weltenbummler | |
Als Corona aufkam, wollte ich eigentlich nach Tibet, auf einem Pilgerweg | |
rund um den Berg Kailash laufen. Das ist nun nichts geworden. Man wird | |
älter und älter und älter. Und irgendwann denkt man: Vielleicht schaffe ich | |
das gar nicht mehr? Ich werde im Februar 71. Der Weg führt über Höhen von | |
bis zu 5.500 Metern. Keine Ahnung, ob ich das noch auf die Reihe kriege. | |
Das Reisen habe ich ziemlich spät für mich entdeckt. In der DDR war ich | |
Schweißer beim VEB Waggonbau Dessau. Nach der Wende habe ich ein paar Jahre | |
für Siemens gearbeitet, dann war Schluss. Ich lernte damals eine Chinesin | |
kennen, wir haben zusammen in Crimmitschau ein Chinarestaurant eröffnet, | |
das gibt es bis heute. Ich habe vor allem als Bedienung gearbeitet. | |
Irgendwann bin ich auf die Idee gekommen, mal ein bisschen Urlaub zu | |
machen, da war ich Ende 50. Ich bin nach Malaysia geflogen und bin dort | |
sechs Wochen mit dem Rad herumgefahren. Als ich zurückkam, wollten die | |
Gäste im Restaurant wissen, was ich erlebt habe. Nun konnte ich schlecht | |
mit den Fotos von Tisch zu Tisch laufen, ich hatte ja zu tun. Also habe ich | |
einen Diavortrag gehalten. | |
[1][Bei den nächsten Reisen] habe ich eine gute Kamera mitgenommen. Erst | |
ging es nach Borneo, dann durch Indochina, alles mit dem Rad. Ich bin von | |
Malaysia nach China und von China zum Baikalsee gefahren. Die Reisen wurden | |
immer länger, ich hatte immer mehr Bilder, hielt immer mehr Vorträge. Ich | |
habe auch angefangen, Weltenbummler-Treffen im Restaurant zu organisieren, | |
bei dem auch andere von ihren Reisen erzählen. | |
2019 habe ich von März bis Dezember Australien umrundet. Zelt, Gepäck, | |
Wasser hatte ich alles am Fahrrad hängen. Im Winter wird es in Australien | |
bis zu minus 5 Grad kalt, im Sommer hatte es 50 Grad plus. Ich war schon | |
stolz, als ich das geschafft hatte. 16.000 Kilometer, das macht man nicht | |
so mit einer Backe. | |
Ich habe beim Reisen Leute kennengelernt, mit denen ich heute noch | |
befreundet bin. Man begreift auch, was für einen hohen Lebensstandard wir | |
hier haben. Die Menschen im Dschungel von Laos haben nichts, nur einfache | |
Bambushütten. Gekocht wird über dem Feuer, in den Kessel kommt, was man | |
gerade fängt, und sei es eine Ratte. Da merkt man erst mal, auf welch | |
einfache Art und Weise man leben kann. Die Menschen dort sind auch | |
glücklich. Und sie waren sehr nett zu mir. Das ist auch etwas, was ich von | |
den Reisen mit nach Hause genommen habe: die Freundlichkeit in anderen | |
Ländern. | |
Im Nachhinein bin ich froh, dass ich meine Australienreise nicht drei | |
Monate später gemacht habe. Im März 2020 kam ja Corona, wer weiß, ob ich | |
überhaupt noch einen Rückflug bekommen hätte. Seitdem bin ich zu Hause. Das | |
juckt mich schon. Reisen ist wie ein Virus. Wenn man einmal damit | |
angefangen hat, möchte man das immer wieder und immer noch ein bisschen | |
weiter. Ich bin mit Fernweh infiziert sozusagen. | |
Im Januar bekomme ich meine dritte Impfung. Auch wegen der Reisen habe ich | |
schon so viele Spritzen in mir drin, da kommt es auf die eine auch nicht | |
mehr an. | |
Ich habe etliche Ideen, aber noch keinen richtigen Plan für 2022. Ich will | |
schon noch mal los. Vielleicht radle ich ans Nordkap und zurück? Im Moment | |
warte ich aber erst mal ab, wie sich die Dinge entwickeln. | |
Harald Lasch ist 70 Jahre alt und lebt derzeit im sächsischen Crimmitschau. | |
Protokoll: Antje Lang-Lendorff | |
## Die Abiturientin | |
Ich mache 2022 Abitur und will danach Medizin studieren. Das wollte ich | |
schon, seitdem ich ein kleines Kind bin. Die Pandemie hat daran auch nicht | |
viel geändert. Eher hat sie mich darin bestärkt, weil einem nun jeden Tag | |
bewusst wird, wie wichtig medizinische Berufe sind. | |
Einen Plan B hatte ich ehrlich gesagt lange nicht – bis ich während der | |
Berufsorientierung an unserer Schule gemerkt habe, dass andere sich viel | |
mehr Studiengänge oder Berufe vorstellen können. Das hat mich dann schon | |
unter Stress gesetzt. Man kann sich ja nicht darauf verlassen, einen | |
Medizinstudienplatz zu bekommen. Und dann stehe ich auf einmal mit nichts | |
da. | |
Ich kann mir jetzt aber auch vorstellen, Psychologie zu studieren, wobei | |
man sich darauf natürlich auch nicht verlassen kann, oder ich mache eine | |
Ausbildung zur Rettungs- oder Notfallsanitäterin. Das kann man sich im | |
Zweifel später auch in einem Medizinstudium anrechnen lassen. | |
Ich würde mich schon als Planerin bezeichnen. Ich weiß zum Beispiel schon | |
lange, in welchen Fächern ich Abi schreibe, obwohl wir das noch gar nicht | |
abschließend festlegen mussten. Und gerade bei schönen Dingen steigert | |
Planen ja auch die Vorfreude, wobei Corona diese Vorfreude schon trübt. Du | |
bist halt nie sicher, ob etwas stattfindet oder nicht. | |
Meinen Schulalltag versuche ich, so gut es geht, zu strukturieren, auch | |
wenn das gerade sehr fordernd und stressig ist. Vor den Schulschließungen | |
hieß es immer, wir müssen schnell noch diesen Test und jene Klausur | |
schreiben, um Noten zu machen. Das ist aktuell wieder so. Auch wenn es | |
unwahrscheinlich ist, dass wir Abiturienten [2][noch mal ins Homeschooling] | |
geschickt werden, drücken uns jetzt viele Lehrer schnell noch Tests rein – | |
falls die Schulen doch wieder geschlossen werden. | |
Wenn wir im Juni unsere Abi-Zeugnisse bekommen, mache ich erst mal zwei, | |
drei Monate Pause. Dann heißt es erst mal Chillen. Je nachdem, was Corona | |
zulässt, will ich auch mit Freunden verreisen. Geplant ist in jedem Fall | |
schon unsere Abifahrt nach Korfu. Da konnte sich jede und jeder aussuchen, | |
ob er eine Coronaversicherung mit abschließt, falls die Fahrt ausfällt. Ich | |
habe mich auch dafür entschieden. Früher hätte ich so etwas nie gemacht. Es | |
gibt einen Plan und den zieht man durch, komme, was wolle. Aber nun kann | |
man sich bei solchen Sachen ja nie sicher sein. Alle paar Wochen ändert | |
sich die Situation, das nervt schon. | |
Ich bin auch skeptisch, ob unser Abiball stattfinden kann. Organisiert | |
haben wir ihn natürlich trotzdem. Wenn so eine lange Schulzeit zu Ende | |
geht, ohne das noch mal mit allen zu feiern, wäre das sehr traurig. | |
Marlena Lang, 18 Jahre alt, ist Abiturientin aus München. | |
Protokoll: Daniel Böldt | |
## Der Bevölkerungsschützer | |
Wir beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wollen im | |
kommenden Jahr einiges anders machen. Ein Großteil unserer Arbeit besteht | |
aus zwei Teilen: Analyse und Beratung im Risiko- und Krisenmanagement. Wir | |
beschäftigen uns mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gefahren, sowohl | |
menschengemachter als auch natürlicher. Wir führen unter anderem sogenannte | |
Risikoanalysen durch. | |
Das heißt, wir schauen uns eine bestimmte Gefahr an, wie zum Beispiel | |
Hochwasser, Erdbeben, chemische Unfälle oder Pandemien, und spielen diese | |
Ereignisse mit entsprechenden Experten durch: Wie viele Menschen sind wie | |
schwer betroffen? Haben wir genug Ressourcen, um darauf zu reagieren? Ist | |
die Infrastruktur darauf vorbereitet? Gibt es Folgekrisen? | |
Auf dieser Grundlage beraten wir Kommunen, Länder und den Bund bei der | |
Erarbeitung von Notfallplänen. Wenn es optimal läuft, ist man in der Regel | |
gut auf ein solches Ereignis vorbereitet. Ich betone bewusst: Wenn es | |
optimal läuft. Leider ist das nicht so oft der Fall, wie man sich das | |
wünscht. | |
Deutschland gilt als strukturiertes und gut organisiertes Land. Mein | |
Eindruck ist aber, dass man sich mit längerfristiger Planung nicht so gerne | |
beschäftigt. In Westdeutschland wurde Planung oft mit Planwirtschaft | |
assoziiert. Im Vordergrund stand, flexibel zu sein. Das ist heute noch oft | |
so. Die Behörden in Deutschland verfügen über sehr profundes Fachwissen. | |
Dieses Wissen wird aber einerseits in der Politik oft nicht wahrgenommen, | |
andererseits von den Behörden nicht immer gut kommuniziert. | |
Ich nehme das BBK da gar nicht aus. Wir sind gerade dabei, über eine | |
veränderte Öffentlichkeitsarbeit und ein verändertes Marketingverhalten | |
nachzudenken. Wir haben nicht zuletzt durch die Coronapandemie gemerkt, | |
dass wir von der Politik stärker registriert werden müssen. Wir müssen | |
anders kommunizieren. Unser Know-how müssen wir sprachlich so formulieren, | |
dass es eingängiger ist. Wir müssen unsere Themen so setzen, dass sie | |
regelmäßig präsent sind. Da haben wir ein großes Defizit, das müssen wir | |
ändern. | |
Neben unserer Kommunikation passen wir auch unsere Struktur an. Wir wollen | |
2022 ein Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz in Betrieb nehmen, in dem Bund | |
und Länder zum ersten Mal in der Katastrophenvorsorge institutionell | |
zusammenarbeiten. Hauptaufgabe dieses Zentrums wird die Vorausschau, aber | |
auch die wirkungsvolle Unterstützung beim Krisenmanagement sein. | |
Hätten wir ein solches Zentrum 2019 schon gehabt, dann hätte man wohl | |
spätestens im Dezember 2019 auf das Coronavirus reagiert. Nicht, dass man | |
gleich den Katastrophenfall ausgerufen hätte, aber man hätte sich fragen | |
können: Sind die Pandemiepläne aktuell? Gibt es genug Ressourcen in Sachen | |
Schutzausstattung? Ist die pharmazeutische Industrie darauf vorbereitet in | |
eine schnelle Impfstoffproduktion einzutreten? | |
Ich persönlich glaube, dass wir in Zukunft eine andere Kultur im Umgang mit | |
Katastrophen und Krisen etablieren müssen. Kein Alarmismus – denn der | |
bewirkt genau das Gegenteil. Aber wir müssen die Themen Prävention und | |
Vorsorge anders angehen, die Vorteile stärker betonen. | |
Mit dem Klimawandel wird man sich dem sowieso nicht mehr entziehen können. | |
Selbst katastrophenarme Regionen werden das zu spüren bekommen. Und zwar in | |
einer Weise, der man sich heute noch gar nicht bewusst ist. | |
Wolfram Geier, 61 Jahre, ist Abteilungsleiter beim Bundesamt für | |
Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn. | |
Protokoll: Daniel Böldt | |
## Die Unternehmerin | |
Für mich hat Corona ein Auf und Ab der Gefühle bedeutet. In den ersten zwei | |
Monaten des ersten Lockdowns ist unser Umsatz fast auf null gefallen. Da | |
waren alle so verunsichert, da hat auch niemand mehr online eingekauft. | |
Dann ging es aber zum Glück wieder aufwärts. Wie schon die Finanzkrise hat | |
auch die Pandemie dazu geführt, dass die Leute mehr vor die Tür gehen, zum | |
Beispiel mit dem Fahrrad. Da gibt es ja gerade einen richtigen Boom. | |
Einem Outdoor-Unternehmen wie unserem kommt das zugute, genau wie die | |
Tatsache, dass die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten durch Corona noch | |
mal gestiegen ist. Die Menschen kaufen seitdem bewusster ein, sie achten | |
auf ihren Impact. Allerdings, wie bei vielem anderen auch, vermehrt online. | |
Als ich das Unternehmen 2009 von meinem Vater übernommen habe, hatte ich | |
das Bild im Kopf, dass meine Kinder mich eines Tages fragen werden, was ich | |
dazu beigetragen habe, die Umweltzerstörung durch den Menschen aufzuhalten. | |
Mir ist schon lange bewusst, dass wir mit unserer Art zu wirtschaften, in | |
die falsche Richtung rasen, und die Branche, in der ich arbeite, auch | |
problematische Auswirkungen auf den Planeten hat. | |
Wir empfinden uns als Teil des Problems, und wollen das, was wir | |
verursachen, auch wiedergutmachen. Deshalb wandeln wir das Unternehmen | |
Stück für Stück im Sinne der Nachhaltigkeit um. Wir achten auf nachhaltige | |
Materialien und Produktionswege, faire Arbeitsbedingungen weltweit und wir | |
sind ab dem nächsten Jahr mit all unseren Produkten klimaneutral. | |
Wir haben festgestellt, dass unsere enge Zusammenarbeit mit den | |
Materiallieferanten und Produzent:innen uns sehr geholfen hat, diese | |
turbulenten Zeiten zu überstehen. Während unsere Wettbewerber vieles in | |
Asien cancelten, haben wir gute Übereinkünfte bei verspäteten Zahlungen und | |
Lieferungen gefunden und konnten so, als die Läden wieder aufgingen, auch | |
gut ausliefern. | |
Für 2022 haben wir eine extrem hohe Vororder. Das stimmt uns optimistisch. | |
Gleichzeitig sind aber auch wir von [3][Lieferschwierigkeiten] betroffen | |
und von der Unvorhersehbarkeit, wie sich Rohstoffpreise und Liefersituation | |
entwickeln. Von daher haben wir trotz der vielen Bestellungen auch | |
verhältnismäßig vorsichtig geplant. | |
Weil im nächsten Jahr alles so unvorhersehbar ist, haben wir sehr viel | |
nachjustiert. Im Gegensatz zu den sonstigen Jahren haben wir auch schon | |
Monate im Voraus Rohware bestellt. Auch unsere Planungszyklen haben wir | |
langfristiger ausgerichtet und setzen vermehrt auf Waren, die gleich | |
mehrere Saisons aktuell sind. | |
Aber auch für mich persönlich wird 2022 ein besonders Jahr. Ich werde 50 | |
und erfülle mir einen lang gehegten Traum. Ich gehe im Sommer zwei Monate | |
lang trekken. Alleine, über die Alpen, nur manchmal kommen Freunde und | |
Familie dazu, um mich ein Stück zu begleiten. | |
Antje von Dewitz, 49, ist Geschäftsführerin von Vaude Sport aus Tettnang am | |
Bodensee. | |
Protokoll: Anna Fastabend | |
## Die Altistin | |
Wenn es um Träume, Wünsche, Hoffnungen geht: Ich habe gerade heute Morgen | |
jemandem geschrieben, der ein kleines Haus auf der Insel Spiekeroog | |
vermietet. Da würden wir gerne hin im Sommer. Im vergangenen Jahr war ich | |
ganz verzweifelt, weil ich den Sommer über plötzlich frei hatte. | |
Eigentlich hätte ich in Bayreuth singen sollen, aber unser drittes Kind war | |
geboren und ich durfte nicht auftreten wegen des Mutterschutzes, der genau | |
in die Zeit der Wagner-Festspiele fiel. Da war es natürlich viel zu spät, | |
um noch eine Unterkunft für eine längere Zeit auf der Insel zu finden. Wenn | |
es jetzt klappen würde – das wäre schön! | |
Ich blicke überraschend zuversichtlich auf das kommende Jahr und die Zeit | |
danach. Wenn ich in meinem Kalender blättere, dann sieht es sehr schön aus, | |
eine gute Mischung aus Orten, an denen ich gerne bin, Musikern, mit denen | |
ich gerne zusammenarbeite, und Werken, die ich liebe. | |
Viele Mahler-Lieder und Symphonien sind dabei: Die Dritte mit dem Alt-Solo | |
„O Mensch! Gib acht!“ oder die Zweite, die ja beinahe an Kitsch grenzt, | |
aber einfach so wunderschön ist und voller Hoffnung steckt. Das „Urlicht“ | |
im 4. Satz empfinde ich immer als Geschenk! Später gibt es Wagner, | |
„Rheingold“ konzertant, dann ein neuer Ring in London, einer in München, | |
worauf ich mich sehr freue, Giulio Cesare in Paris, wo auch ein Ring | |
geplant ist – also, die kommende Zeit liegt wie eine Landschaft vor mir, | |
die unglaublich verlockend aussieht. | |
Aber: Ich gehe nicht davon aus, dass alles genauso kommt, wie es geplant | |
ist. | |
Das haben wir Künstlerinnen gelernt aus der Pandemie. So hoffe ich einfach, | |
dass auch bei weiteren Absagen noch „genug“ übrig bleibt. Das ist natürli… | |
ein purer Luxus und nicht besonders repräsentativ. Insgesamt wird wohl in | |
den nächsten Jahren sehr gespart werden an den Kulturetats. Das zeichnet | |
sich ja leider schon ab. | |
Ich schaffe es mittlerweile ganz gut, mich in die Situationen hinein zu | |
entspannen, die ungewisse Zeiten mit sich bringen. Mich erinnert es ein | |
wenig an die erste Unsicherheit, nachdem ich am Opernhaus in Zürich | |
gekündigt hatte. Das war meine erste Stelle – und plötzlich war ich | |
freischaffend. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es geht. 2020, als wegen | |
Corona alles wegbrach und man mit nichts dastand, das war ein Schock, zumal | |
für uns als Freiberufler. Aber das Auffangnetz aus Freunden und Familie hat | |
sich als recht groß und stabil erwiesen. Das hat Rückhalt und Sicherheit | |
gegeben. Alles ist weggebrochen, und wir haben es trotzdem geschafft. | |
In Zeiten, in denen es keine Auftritte gibt, ist es schwierig, die Spannung | |
zu halten und stetig zu üben. Es gibt KollegInnen, die können das; ich | |
brauche immer auch den Druck einer Aufführung. Es hat mir so gefehlt, auf | |
der Bühne vor Publikum zu musizieren, es war wie Trauerarbeit mit all ihren | |
Phasen. Ich habe dann mit einem befreundeten Kirchenmusiker in Oldenburg so | |
ein paar kleinere Sachen aufgenommen; Videos als „Gruß aus der Kirche“, | |
Mahler mit Orgelmusik und so etwas. Ich habe begonnen zu unterrichten. | |
Und dann habe ich mit der Barockgeigerin Veronika Skuplik, die ebenfalls in | |
Oldenburg lebt, eine CD aufgenommen. Sie hatte die Idee dazu und hat ganz | |
wunderbare Stücke ausgegraben, wir haben Geld über Crowdfunding | |
eingesammelt und diese CD eingespielt. „Umbra Ambra“ ist das Motto, Umbra | |
ist die Düsternis, Ambra das Licht. | |
Die Musik ist durchzogen von diesem Wechsel, selten gespielte Musik von | |
Erlebach, Buxtehude, Bach. Das war ein Projekt, das großen Spaß gemacht und | |
uns durch diese Zeit getragen hat. Es steht – auch sinnbildlich – dafür, | |
dass wir Hoffnung haben dürfen, gerade auch in einer Pandemie, die uns | |
anscheinend noch mal richtig viel abverlangen wird. | |
Wiebke Lehmkuhl, 1983 geboren, ist Altistin. Sie lebt in Oldenburg und | |
tritt weltweit in großen Opernhäusern und Konzertsälen auf. Regelmäßig ist | |
sie in Wagner-Opern und mit Mahler-Symphonien zu hören. | |
Protokoll: Felix Zimmermann | |
## Der Messebauer | |
Seit ich denken kann, arbeite ich im Messebau. Mein Vater ist selbst | |
Messebauer. Ich bin praktisch damit aufgewachsen. Schon als kleiner Junge | |
habe ich viel Zeit mit ihm auf Messen verbracht. Ich mag das kreative | |
Arbeiten und mich handwerklich auszuleben, springe täglich zwischen | |
Zeichenprogrammen und der Werkstatt hin und her, fahre mit zur Montage. | |
In den Jahren vor der Pandemie habe ich vor allem als Freelancer für die | |
Frankfurter Buchmesse gearbeitet. 2020 ist die Stelle weggefallen und ich | |
bin voll bei meinem Vater im Unternehmen miteingestiegen. Ich wollte ihn | |
dabei unterstützen, die Arbeitsplätze zu erhalten. Kosten und Umsatzausfall | |
waren zu dem Zeitpunkt so hoch, dass wir neu gründen mussten. | |
Glücklicherweise mit dem gleichen Team am gleichen Standort. | |
Vor Corona war die Stimmung in unserer Branche sehr gut. Wir hatten rund | |
150 Projekte im Jahr. Dann kam der erste Lockdown. Zu dem Zeitpunkt standen | |
hier in der Werkstatt fertig produzierte Messestände verladebereit für den | |
Transport nach Mailand. Am Tag vor dem Transport wurde die Messe abgesagt. | |
Dann ging eineinhalb Jahre gar nichts. Dieses Jahr hatten wir knapp über 20 | |
Projekte, was mir persönlich viel Energie gegeben hat. | |
Nun fängt es wieder an: Eine Veranstaltung in Amsterdam musste aufgrund | |
strengerer Maßnahmen in den Niederlanden abgesagt werden. Wieder konnten | |
wir einen komplett fertig produzierten Stand nicht ausliefern. Natürlich | |
sprechen wir mittlerweile vorher mit den Kund:innen ab, was bei einer | |
Absage passiert und ob wir den Messestand für das kommende Jahr aufheben | |
können. | |
Doch dieses kommende Jahr ist super schwer einzuschätzen. Wir hatten nicht | |
erwartet, diesen Winter wieder ohne Aufträge dazustehen. Die | |
Veranstaltungen sind zwar nicht verboten, aber die Bedingungen drumherum | |
wie Reisebeschränkungen und Quarantäne machen sie teilweise unmöglich. | |
Improvisieren gehört auch außerhalb der Coronapandemie zum Job dazu. | |
Ganz alleine wäre alles sicher viel schwieriger gewesen in den letzten | |
knapp zwei Jahren. Es ist schön, dass ich hier bei meinem Vater bin und wir | |
uns gegenseitig unterstützen können. Auch der Zusammenhalt im Team ist sehr | |
stark. Wir haben den Spaß am Messebau nicht verloren. | |
Vor der Pandemie hatten wir gute Ideen entwickelt, um unsere Produktion | |
nachhaltig zu gestalten. Wir arbeiten unter anderem mit anpassbaren | |
Bauteilen, die man mehrfach einsetzen kann. Dabei darf es nicht so | |
aussehen, als sei das ein System, das wir immer in gleicher Form aufbauen, | |
sondern als sei es eigens für den Messestand konzipiert. | |
Gerade jetzt in Anbetracht von steigenden Rohstoffpreisen, | |
Lieferschwierigkeiten, Materialknappheit und Personalmangel sind wir sehr | |
froh über die entwickelten Ideen. Viele Aussteller:innen sind sich | |
momentan überhaupt nicht sicher, ob ihre Veranstaltung stattfindet. | |
Normalerweise planen wir drei bis vier Monate im Voraus. Aktuell sind es | |
nur drei bis vier Wochen. Oft ist das gewünschte Material nicht mehr zu | |
bekommen. | |
Für die nächste Zeit habe ich vor, weiterhin mit meinem Vater im | |
Unternehmen zu arbeiten. Ich freue mich vor allem auf Projekte, bei denen | |
wir auch inhaltlich miteingebunden werden, das heißt, wir baulich die | |
Botschaft der Aussteller:innen mit ihrem Stand ausdrücken dürfen. | |
Es ist letztlich mein Glaube, dass persönliche Begegnungen durch nichts zu | |
ersetzen sind, der mir Energie gibt, weiterzumachen. Manche Messen haben | |
online stattgefunden und wir haben Rückwände gestellt, vor denen | |
Podiumsdiskussionen gestreamt wurden. So was wird ein Live-Event nie | |
ersetzen. Die Menschen sind heiß drauf, wieder rauszugehen und sich zu | |
sehen. | |
Thilo Hagedorn, 28 Jahre alt, ist Messebauer in Frankfurt am Main. | |
Protokoll: Ruth Lang Fuentes | |
31 Dec 2021 | |
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