| # taz.de -- Pläne schmieden 2022: Mein Kalender, die Landschaft | |
| > Rund um Silvester lässt man das letzte Jahr Revue passieren und macht | |
| > Pläne fürs neue. Doch wegen Corona ist vieles ungewiss. Sechs Leute | |
| > berichten. | |
| ## Der Weltenbummler | |
| Als Corona aufkam, wollte ich eigentlich nach Tibet, auf einem Pilgerweg | |
| rund um den Berg Kailash laufen. Das ist nun nichts geworden. Man wird | |
| älter und älter und älter. Und irgendwann denkt man: Vielleicht schaffe ich | |
| das gar nicht mehr? Ich werde im Februar 71. Der Weg führt über Höhen von | |
| bis zu 5.500 Metern. Keine Ahnung, ob ich das noch auf die Reihe kriege. | |
| Das Reisen habe ich ziemlich spät für mich entdeckt. In der DDR war ich | |
| Schweißer beim VEB Waggonbau Dessau. Nach der Wende habe ich ein paar Jahre | |
| für Siemens gearbeitet, dann war Schluss. Ich lernte damals eine Chinesin | |
| kennen, wir haben zusammen in Crimmitschau ein Chinarestaurant eröffnet, | |
| das gibt es bis heute. Ich habe vor allem als Bedienung gearbeitet. | |
| Irgendwann bin ich auf die Idee gekommen, mal ein bisschen Urlaub zu | |
| machen, da war ich Ende 50. Ich bin nach Malaysia geflogen und bin dort | |
| sechs Wochen mit dem Rad herumgefahren. Als ich zurückkam, wollten die | |
| Gäste im Restaurant wissen, was ich erlebt habe. Nun konnte ich schlecht | |
| mit den Fotos von Tisch zu Tisch laufen, ich hatte ja zu tun. Also habe ich | |
| einen Diavortrag gehalten. | |
| [1][Bei den nächsten Reisen] habe ich eine gute Kamera mitgenommen. Erst | |
| ging es nach Borneo, dann durch Indochina, alles mit dem Rad. Ich bin von | |
| Malaysia nach China und von China zum Baikalsee gefahren. Die Reisen wurden | |
| immer länger, ich hatte immer mehr Bilder, hielt immer mehr Vorträge. Ich | |
| habe auch angefangen, Weltenbummler-Treffen im Restaurant zu organisieren, | |
| bei dem auch andere von ihren Reisen erzählen. | |
| 2019 habe ich von März bis Dezember Australien umrundet. Zelt, Gepäck, | |
| Wasser hatte ich alles am Fahrrad hängen. Im Winter wird es in Australien | |
| bis zu minus 5 Grad kalt, im Sommer hatte es 50 Grad plus. Ich war schon | |
| stolz, als ich das geschafft hatte. 16.000 Kilometer, das macht man nicht | |
| so mit einer Backe. | |
| Ich habe beim Reisen Leute kennengelernt, mit denen ich heute noch | |
| befreundet bin. Man begreift auch, was für einen hohen Lebensstandard wir | |
| hier haben. Die Menschen im Dschungel von Laos haben nichts, nur einfache | |
| Bambushütten. Gekocht wird über dem Feuer, in den Kessel kommt, was man | |
| gerade fängt, und sei es eine Ratte. Da merkt man erst mal, auf welch | |
| einfache Art und Weise man leben kann. Die Menschen dort sind auch | |
| glücklich. Und sie waren sehr nett zu mir. Das ist auch etwas, was ich von | |
| den Reisen mit nach Hause genommen habe: die Freundlichkeit in anderen | |
| Ländern. | |
| Im Nachhinein bin ich froh, dass ich meine Australienreise nicht drei | |
| Monate später gemacht habe. Im März 2020 kam ja Corona, wer weiß, ob ich | |
| überhaupt noch einen Rückflug bekommen hätte. Seitdem bin ich zu Hause. Das | |
| juckt mich schon. Reisen ist wie ein Virus. Wenn man einmal damit | |
| angefangen hat, möchte man das immer wieder und immer noch ein bisschen | |
| weiter. Ich bin mit Fernweh infiziert sozusagen. | |
| Im Januar bekomme ich meine dritte Impfung. Auch wegen der Reisen habe ich | |
| schon so viele Spritzen in mir drin, da kommt es auf die eine auch nicht | |
| mehr an. | |
| Ich habe etliche Ideen, aber noch keinen richtigen Plan für 2022. Ich will | |
| schon noch mal los. Vielleicht radle ich ans Nordkap und zurück? Im Moment | |
| warte ich aber erst mal ab, wie sich die Dinge entwickeln. | |
| Harald Lasch ist 70 Jahre alt und lebt derzeit im sächsischen Crimmitschau. | |
| Protokoll: Antje Lang-Lendorff | |
| ## Die Abiturientin | |
| Ich mache 2022 Abitur und will danach Medizin studieren. Das wollte ich | |
| schon, seitdem ich ein kleines Kind bin. Die Pandemie hat daran auch nicht | |
| viel geändert. Eher hat sie mich darin bestärkt, weil einem nun jeden Tag | |
| bewusst wird, wie wichtig medizinische Berufe sind. | |
| Einen Plan B hatte ich ehrlich gesagt lange nicht – bis ich während der | |
| Berufsorientierung an unserer Schule gemerkt habe, dass andere sich viel | |
| mehr Studiengänge oder Berufe vorstellen können. Das hat mich dann schon | |
| unter Stress gesetzt. Man kann sich ja nicht darauf verlassen, einen | |
| Medizinstudienplatz zu bekommen. Und dann stehe ich auf einmal mit nichts | |
| da. | |
| Ich kann mir jetzt aber auch vorstellen, Psychologie zu studieren, wobei | |
| man sich darauf natürlich auch nicht verlassen kann, oder ich mache eine | |
| Ausbildung zur Rettungs- oder Notfallsanitäterin. Das kann man sich im | |
| Zweifel später auch in einem Medizinstudium anrechnen lassen. | |
| Ich würde mich schon als Planerin bezeichnen. Ich weiß zum Beispiel schon | |
| lange, in welchen Fächern ich Abi schreibe, obwohl wir das noch gar nicht | |
| abschließend festlegen mussten. Und gerade bei schönen Dingen steigert | |
| Planen ja auch die Vorfreude, wobei Corona diese Vorfreude schon trübt. Du | |
| bist halt nie sicher, ob etwas stattfindet oder nicht. | |
| Meinen Schulalltag versuche ich, so gut es geht, zu strukturieren, auch | |
| wenn das gerade sehr fordernd und stressig ist. Vor den Schulschließungen | |
| hieß es immer, wir müssen schnell noch diesen Test und jene Klausur | |
| schreiben, um Noten zu machen. Das ist aktuell wieder so. Auch wenn es | |
| unwahrscheinlich ist, dass wir Abiturienten [2][noch mal ins Homeschooling] | |
| geschickt werden, drücken uns jetzt viele Lehrer schnell noch Tests rein – | |
| falls die Schulen doch wieder geschlossen werden. | |
| Wenn wir im Juni unsere Abi-Zeugnisse bekommen, mache ich erst mal zwei, | |
| drei Monate Pause. Dann heißt es erst mal Chillen. Je nachdem, was Corona | |
| zulässt, will ich auch mit Freunden verreisen. Geplant ist in jedem Fall | |
| schon unsere Abifahrt nach Korfu. Da konnte sich jede und jeder aussuchen, | |
| ob er eine Coronaversicherung mit abschließt, falls die Fahrt ausfällt. Ich | |
| habe mich auch dafür entschieden. Früher hätte ich so etwas nie gemacht. Es | |
| gibt einen Plan und den zieht man durch, komme, was wolle. Aber nun kann | |
| man sich bei solchen Sachen ja nie sicher sein. Alle paar Wochen ändert | |
| sich die Situation, das nervt schon. | |
| Ich bin auch skeptisch, ob unser Abiball stattfinden kann. Organisiert | |
| haben wir ihn natürlich trotzdem. Wenn so eine lange Schulzeit zu Ende | |
| geht, ohne das noch mal mit allen zu feiern, wäre das sehr traurig. | |
| Marlena Lang, 18 Jahre alt, ist Abiturientin aus München. | |
| Protokoll: Daniel Böldt | |
| ## Der Bevölkerungsschützer | |
| Wir beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wollen im | |
| kommenden Jahr einiges anders machen. Ein Großteil unserer Arbeit besteht | |
| aus zwei Teilen: Analyse und Beratung im Risiko- und Krisenmanagement. Wir | |
| beschäftigen uns mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gefahren, sowohl | |
| menschengemachter als auch natürlicher. Wir führen unter anderem sogenannte | |
| Risikoanalysen durch. | |
| Das heißt, wir schauen uns eine bestimmte Gefahr an, wie zum Beispiel | |
| Hochwasser, Erdbeben, chemische Unfälle oder Pandemien, und spielen diese | |
| Ereignisse mit entsprechenden Experten durch: Wie viele Menschen sind wie | |
| schwer betroffen? Haben wir genug Ressourcen, um darauf zu reagieren? Ist | |
| die Infrastruktur darauf vorbereitet? Gibt es Folgekrisen? | |
| Auf dieser Grundlage beraten wir Kommunen, Länder und den Bund bei der | |
| Erarbeitung von Notfallplänen. Wenn es optimal läuft, ist man in der Regel | |
| gut auf ein solches Ereignis vorbereitet. Ich betone bewusst: Wenn es | |
| optimal läuft. Leider ist das nicht so oft der Fall, wie man sich das | |
| wünscht. | |
| Deutschland gilt als strukturiertes und gut organisiertes Land. Mein | |
| Eindruck ist aber, dass man sich mit längerfristiger Planung nicht so gerne | |
| beschäftigt. In Westdeutschland wurde Planung oft mit Planwirtschaft | |
| assoziiert. Im Vordergrund stand, flexibel zu sein. Das ist heute noch oft | |
| so. Die Behörden in Deutschland verfügen über sehr profundes Fachwissen. | |
| Dieses Wissen wird aber einerseits in der Politik oft nicht wahrgenommen, | |
| andererseits von den Behörden nicht immer gut kommuniziert. | |
| Ich nehme das BBK da gar nicht aus. Wir sind gerade dabei, über eine | |
| veränderte Öffentlichkeitsarbeit und ein verändertes Marketingverhalten | |
| nachzudenken. Wir haben nicht zuletzt durch die Coronapandemie gemerkt, | |
| dass wir von der Politik stärker registriert werden müssen. Wir müssen | |
| anders kommunizieren. Unser Know-how müssen wir sprachlich so formulieren, | |
| dass es eingängiger ist. Wir müssen unsere Themen so setzen, dass sie | |
| regelmäßig präsent sind. Da haben wir ein großes Defizit, das müssen wir | |
| ändern. | |
| Neben unserer Kommunikation passen wir auch unsere Struktur an. Wir wollen | |
| 2022 ein Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz in Betrieb nehmen, in dem Bund | |
| und Länder zum ersten Mal in der Katastrophenvorsorge institutionell | |
| zusammenarbeiten. Hauptaufgabe dieses Zentrums wird die Vorausschau, aber | |
| auch die wirkungsvolle Unterstützung beim Krisenmanagement sein. | |
| Hätten wir ein solches Zentrum 2019 schon gehabt, dann hätte man wohl | |
| spätestens im Dezember 2019 auf das Coronavirus reagiert. Nicht, dass man | |
| gleich den Katastrophenfall ausgerufen hätte, aber man hätte sich fragen | |
| können: Sind die Pandemiepläne aktuell? Gibt es genug Ressourcen in Sachen | |
| Schutzausstattung? Ist die pharmazeutische Industrie darauf vorbereitet in | |
| eine schnelle Impfstoffproduktion einzutreten? | |
| Ich persönlich glaube, dass wir in Zukunft eine andere Kultur im Umgang mit | |
| Katastrophen und Krisen etablieren müssen. Kein Alarmismus – denn der | |
| bewirkt genau das Gegenteil. Aber wir müssen die Themen Prävention und | |
| Vorsorge anders angehen, die Vorteile stärker betonen. | |
| Mit dem Klimawandel wird man sich dem sowieso nicht mehr entziehen können. | |
| Selbst katastrophenarme Regionen werden das zu spüren bekommen. Und zwar in | |
| einer Weise, der man sich heute noch gar nicht bewusst ist. | |
| Wolfram Geier, 61 Jahre, ist Abteilungsleiter beim Bundesamt für | |
| Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn. | |
| Protokoll: Daniel Böldt | |
| ## Die Unternehmerin | |
| Für mich hat Corona ein Auf und Ab der Gefühle bedeutet. In den ersten zwei | |
| Monaten des ersten Lockdowns ist unser Umsatz fast auf null gefallen. Da | |
| waren alle so verunsichert, da hat auch niemand mehr online eingekauft. | |
| Dann ging es aber zum Glück wieder aufwärts. Wie schon die Finanzkrise hat | |
| auch die Pandemie dazu geführt, dass die Leute mehr vor die Tür gehen, zum | |
| Beispiel mit dem Fahrrad. Da gibt es ja gerade einen richtigen Boom. | |
| Einem Outdoor-Unternehmen wie unserem kommt das zugute, genau wie die | |
| Tatsache, dass die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten durch Corona noch | |
| mal gestiegen ist. Die Menschen kaufen seitdem bewusster ein, sie achten | |
| auf ihren Impact. Allerdings, wie bei vielem anderen auch, vermehrt online. | |
| Als ich das Unternehmen 2009 von meinem Vater übernommen habe, hatte ich | |
| das Bild im Kopf, dass meine Kinder mich eines Tages fragen werden, was ich | |
| dazu beigetragen habe, die Umweltzerstörung durch den Menschen aufzuhalten. | |
| Mir ist schon lange bewusst, dass wir mit unserer Art zu wirtschaften, in | |
| die falsche Richtung rasen, und die Branche, in der ich arbeite, auch | |
| problematische Auswirkungen auf den Planeten hat. | |
| Wir empfinden uns als Teil des Problems, und wollen das, was wir | |
| verursachen, auch wiedergutmachen. Deshalb wandeln wir das Unternehmen | |
| Stück für Stück im Sinne der Nachhaltigkeit um. Wir achten auf nachhaltige | |
| Materialien und Produktionswege, faire Arbeitsbedingungen weltweit und wir | |
| sind ab dem nächsten Jahr mit all unseren Produkten klimaneutral. | |
| Wir haben festgestellt, dass unsere enge Zusammenarbeit mit den | |
| Materiallieferanten und Produzent:innen uns sehr geholfen hat, diese | |
| turbulenten Zeiten zu überstehen. Während unsere Wettbewerber vieles in | |
| Asien cancelten, haben wir gute Übereinkünfte bei verspäteten Zahlungen und | |
| Lieferungen gefunden und konnten so, als die Läden wieder aufgingen, auch | |
| gut ausliefern. | |
| Für 2022 haben wir eine extrem hohe Vororder. Das stimmt uns optimistisch. | |
| Gleichzeitig sind aber auch wir von [3][Lieferschwierigkeiten] betroffen | |
| und von der Unvorhersehbarkeit, wie sich Rohstoffpreise und Liefersituation | |
| entwickeln. Von daher haben wir trotz der vielen Bestellungen auch | |
| verhältnismäßig vorsichtig geplant. | |
| Weil im nächsten Jahr alles so unvorhersehbar ist, haben wir sehr viel | |
| nachjustiert. Im Gegensatz zu den sonstigen Jahren haben wir auch schon | |
| Monate im Voraus Rohware bestellt. Auch unsere Planungszyklen haben wir | |
| langfristiger ausgerichtet und setzen vermehrt auf Waren, die gleich | |
| mehrere Saisons aktuell sind. | |
| Aber auch für mich persönlich wird 2022 ein besonders Jahr. Ich werde 50 | |
| und erfülle mir einen lang gehegten Traum. Ich gehe im Sommer zwei Monate | |
| lang trekken. Alleine, über die Alpen, nur manchmal kommen Freunde und | |
| Familie dazu, um mich ein Stück zu begleiten. | |
| Antje von Dewitz, 49, ist Geschäftsführerin von Vaude Sport aus Tettnang am | |
| Bodensee. | |
| Protokoll: Anna Fastabend | |
| ## Die Altistin | |
| Wenn es um Träume, Wünsche, Hoffnungen geht: Ich habe gerade heute Morgen | |
| jemandem geschrieben, der ein kleines Haus auf der Insel Spiekeroog | |
| vermietet. Da würden wir gerne hin im Sommer. Im vergangenen Jahr war ich | |
| ganz verzweifelt, weil ich den Sommer über plötzlich frei hatte. | |
| Eigentlich hätte ich in Bayreuth singen sollen, aber unser drittes Kind war | |
| geboren und ich durfte nicht auftreten wegen des Mutterschutzes, der genau | |
| in die Zeit der Wagner-Festspiele fiel. Da war es natürlich viel zu spät, | |
| um noch eine Unterkunft für eine längere Zeit auf der Insel zu finden. Wenn | |
| es jetzt klappen würde – das wäre schön! | |
| Ich blicke überraschend zuversichtlich auf das kommende Jahr und die Zeit | |
| danach. Wenn ich in meinem Kalender blättere, dann sieht es sehr schön aus, | |
| eine gute Mischung aus Orten, an denen ich gerne bin, Musikern, mit denen | |
| ich gerne zusammenarbeite, und Werken, die ich liebe. | |
| Viele Mahler-Lieder und Symphonien sind dabei: Die Dritte mit dem Alt-Solo | |
| „O Mensch! Gib acht!“ oder die Zweite, die ja beinahe an Kitsch grenzt, | |
| aber einfach so wunderschön ist und voller Hoffnung steckt. Das „Urlicht“ | |
| im 4. Satz empfinde ich immer als Geschenk! Später gibt es Wagner, | |
| „Rheingold“ konzertant, dann ein neuer Ring in London, einer in München, | |
| worauf ich mich sehr freue, Giulio Cesare in Paris, wo auch ein Ring | |
| geplant ist – also, die kommende Zeit liegt wie eine Landschaft vor mir, | |
| die unglaublich verlockend aussieht. | |
| Aber: Ich gehe nicht davon aus, dass alles genauso kommt, wie es geplant | |
| ist. | |
| Das haben wir Künstlerinnen gelernt aus der Pandemie. So hoffe ich einfach, | |
| dass auch bei weiteren Absagen noch „genug“ übrig bleibt. Das ist natürli… | |
| ein purer Luxus und nicht besonders repräsentativ. Insgesamt wird wohl in | |
| den nächsten Jahren sehr gespart werden an den Kulturetats. Das zeichnet | |
| sich ja leider schon ab. | |
| Ich schaffe es mittlerweile ganz gut, mich in die Situationen hinein zu | |
| entspannen, die ungewisse Zeiten mit sich bringen. Mich erinnert es ein | |
| wenig an die erste Unsicherheit, nachdem ich am Opernhaus in Zürich | |
| gekündigt hatte. Das war meine erste Stelle – und plötzlich war ich | |
| freischaffend. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es geht. 2020, als wegen | |
| Corona alles wegbrach und man mit nichts dastand, das war ein Schock, zumal | |
| für uns als Freiberufler. Aber das Auffangnetz aus Freunden und Familie hat | |
| sich als recht groß und stabil erwiesen. Das hat Rückhalt und Sicherheit | |
| gegeben. Alles ist weggebrochen, und wir haben es trotzdem geschafft. | |
| In Zeiten, in denen es keine Auftritte gibt, ist es schwierig, die Spannung | |
| zu halten und stetig zu üben. Es gibt KollegInnen, die können das; ich | |
| brauche immer auch den Druck einer Aufführung. Es hat mir so gefehlt, auf | |
| der Bühne vor Publikum zu musizieren, es war wie Trauerarbeit mit all ihren | |
| Phasen. Ich habe dann mit einem befreundeten Kirchenmusiker in Oldenburg so | |
| ein paar kleinere Sachen aufgenommen; Videos als „Gruß aus der Kirche“, | |
| Mahler mit Orgelmusik und so etwas. Ich habe begonnen zu unterrichten. | |
| Und dann habe ich mit der Barockgeigerin Veronika Skuplik, die ebenfalls in | |
| Oldenburg lebt, eine CD aufgenommen. Sie hatte die Idee dazu und hat ganz | |
| wunderbare Stücke ausgegraben, wir haben Geld über Crowdfunding | |
| eingesammelt und diese CD eingespielt. „Umbra Ambra“ ist das Motto, Umbra | |
| ist die Düsternis, Ambra das Licht. | |
| Die Musik ist durchzogen von diesem Wechsel, selten gespielte Musik von | |
| Erlebach, Buxtehude, Bach. Das war ein Projekt, das großen Spaß gemacht und | |
| uns durch diese Zeit getragen hat. Es steht – auch sinnbildlich – dafür, | |
| dass wir Hoffnung haben dürfen, gerade auch in einer Pandemie, die uns | |
| anscheinend noch mal richtig viel abverlangen wird. | |
| Wiebke Lehmkuhl, 1983 geboren, ist Altistin. Sie lebt in Oldenburg und | |
| tritt weltweit in großen Opernhäusern und Konzertsälen auf. Regelmäßig ist | |
| sie in Wagner-Opern und mit Mahler-Symphonien zu hören. | |
| Protokoll: Felix Zimmermann | |
| ## Der Messebauer | |
| Seit ich denken kann, arbeite ich im Messebau. Mein Vater ist selbst | |
| Messebauer. Ich bin praktisch damit aufgewachsen. Schon als kleiner Junge | |
| habe ich viel Zeit mit ihm auf Messen verbracht. Ich mag das kreative | |
| Arbeiten und mich handwerklich auszuleben, springe täglich zwischen | |
| Zeichenprogrammen und der Werkstatt hin und her, fahre mit zur Montage. | |
| In den Jahren vor der Pandemie habe ich vor allem als Freelancer für die | |
| Frankfurter Buchmesse gearbeitet. 2020 ist die Stelle weggefallen und ich | |
| bin voll bei meinem Vater im Unternehmen miteingestiegen. Ich wollte ihn | |
| dabei unterstützen, die Arbeitsplätze zu erhalten. Kosten und Umsatzausfall | |
| waren zu dem Zeitpunkt so hoch, dass wir neu gründen mussten. | |
| Glücklicherweise mit dem gleichen Team am gleichen Standort. | |
| Vor Corona war die Stimmung in unserer Branche sehr gut. Wir hatten rund | |
| 150 Projekte im Jahr. Dann kam der erste Lockdown. Zu dem Zeitpunkt standen | |
| hier in der Werkstatt fertig produzierte Messestände verladebereit für den | |
| Transport nach Mailand. Am Tag vor dem Transport wurde die Messe abgesagt. | |
| Dann ging eineinhalb Jahre gar nichts. Dieses Jahr hatten wir knapp über 20 | |
| Projekte, was mir persönlich viel Energie gegeben hat. | |
| Nun fängt es wieder an: Eine Veranstaltung in Amsterdam musste aufgrund | |
| strengerer Maßnahmen in den Niederlanden abgesagt werden. Wieder konnten | |
| wir einen komplett fertig produzierten Stand nicht ausliefern. Natürlich | |
| sprechen wir mittlerweile vorher mit den Kund:innen ab, was bei einer | |
| Absage passiert und ob wir den Messestand für das kommende Jahr aufheben | |
| können. | |
| Doch dieses kommende Jahr ist super schwer einzuschätzen. Wir hatten nicht | |
| erwartet, diesen Winter wieder ohne Aufträge dazustehen. Die | |
| Veranstaltungen sind zwar nicht verboten, aber die Bedingungen drumherum | |
| wie Reisebeschränkungen und Quarantäne machen sie teilweise unmöglich. | |
| Improvisieren gehört auch außerhalb der Coronapandemie zum Job dazu. | |
| Ganz alleine wäre alles sicher viel schwieriger gewesen in den letzten | |
| knapp zwei Jahren. Es ist schön, dass ich hier bei meinem Vater bin und wir | |
| uns gegenseitig unterstützen können. Auch der Zusammenhalt im Team ist sehr | |
| stark. Wir haben den Spaß am Messebau nicht verloren. | |
| Vor der Pandemie hatten wir gute Ideen entwickelt, um unsere Produktion | |
| nachhaltig zu gestalten. Wir arbeiten unter anderem mit anpassbaren | |
| Bauteilen, die man mehrfach einsetzen kann. Dabei darf es nicht so | |
| aussehen, als sei das ein System, das wir immer in gleicher Form aufbauen, | |
| sondern als sei es eigens für den Messestand konzipiert. | |
| Gerade jetzt in Anbetracht von steigenden Rohstoffpreisen, | |
| Lieferschwierigkeiten, Materialknappheit und Personalmangel sind wir sehr | |
| froh über die entwickelten Ideen. Viele Aussteller:innen sind sich | |
| momentan überhaupt nicht sicher, ob ihre Veranstaltung stattfindet. | |
| Normalerweise planen wir drei bis vier Monate im Voraus. Aktuell sind es | |
| nur drei bis vier Wochen. Oft ist das gewünschte Material nicht mehr zu | |
| bekommen. | |
| Für die nächste Zeit habe ich vor, weiterhin mit meinem Vater im | |
| Unternehmen zu arbeiten. Ich freue mich vor allem auf Projekte, bei denen | |
| wir auch inhaltlich miteingebunden werden, das heißt, wir baulich die | |
| Botschaft der Aussteller:innen mit ihrem Stand ausdrücken dürfen. | |
| Es ist letztlich mein Glaube, dass persönliche Begegnungen durch nichts zu | |
| ersetzen sind, der mir Energie gibt, weiterzumachen. Manche Messen haben | |
| online stattgefunden und wir haben Rückwände gestellt, vor denen | |
| Podiumsdiskussionen gestreamt wurden. So was wird ein Live-Event nie | |
| ersetzen. Die Menschen sind heiß drauf, wieder rauszugehen und sich zu | |
| sehen. | |
| Thilo Hagedorn, 28 Jahre alt, ist Messebauer in Frankfurt am Main. | |
| Protokoll: Ruth Lang Fuentes | |
| 31 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-besondere-Reise/!5750013 | |
| [2] /Schulstart-in-der-Omikron-Welle/!5824765 | |
| [3] /Lieferengpaesse-in-Europa/!5805986 | |
| ## AUTOREN | |
| Ruth Lang Fuentes | |
| Daniel Böldt | |
| Antje Lang-Lendorff | |
| Anna Fastabend | |
| Felix Zimmermann | |
| ## TAGS | |
| Silvester | |
| Vorsätze | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| GNS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Glück | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Böller | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Glück als Ideologie: Good Vibes Only | |
| Kaum ein Mantra ist in kapitalistischen Gesellschaften so wenig hinterfragt | |
| wie das des Glücks. Und wer nicht glücklich ist, scheint selbst schuld. | |
| Psychologe über Coronaregeln: „Gebote funktionieren besser“ | |
| Seit Dienstag gelten bundesweit schärfere Kontaktbeschränkungen. Psychologe | |
| Robert Wirth erforscht, wann Regeln befolgt werden – und wann nicht. | |
| Böller-Aus und die Folgen: Schon wieder stille Nacht | |
| Verkaufsverbot und Böllerverbotszonen sind für viele Menschen ein Segen. | |
| Dass sie der Umwelt dienen, ist eher eine urbane Legende. |