| # taz.de -- Psychologe über Coronaregeln: „Gebote funktionieren besser“ | |
| > Seit Dienstag gelten bundesweit schärfere Kontaktbeschränkungen. | |
| > Psychologe Robert Wirth erforscht, wann Regeln befolgt werden – und wann | |
| > nicht. | |
| Bild: Bis zehn Personen heißt es jetzt für Geimpfte. Aber wer zählt schon di… | |
| taz: Herr Wirth, Sie forschen an der Universität Würzburg zu Regelbrüchen. | |
| Nun gelten ab dem 28. Dezember [1][bundesweit verschärfte Coronamaßnahmen], | |
| aber es gibt Unterschiede in den Bundesländern. Haben Sie sich angeschaut, | |
| was in Bayern gerade gilt? | |
| Robert Wirth: Da haben Sie mich kalt erwischt. Im Zweifelsfall ist es immer | |
| so, dass in Bayern strengere Regeln gelten. | |
| Ich wollte Sie nicht abfragen, mein Eindruck ist nur, dass nach fast zwei | |
| Jahren Pandemie kaum noch jemand Muße hat, sich mit neuen Regeln zu | |
| beschäftigen. | |
| Ja, ich beobachte auch, dass es den Bürger:innen zunehmend schwer fällt, | |
| die sich ständig ändernden Maßnahmen zu verstehen. Das ist ein Problem. | |
| Gefühlt gilt alle zwei Wochen etwas anderes, mal mehr und mal weniger | |
| Einschränkungen. Das führt vielleicht auch dazu, dass neue Maßnahmen nicht | |
| in aller Konsequenz umgesetzt werden. | |
| Sie beschäftigen sich in der Forschung vor allem mit Regelbrechern. Was | |
| genau machen Sie da? | |
| In der Verhaltenspsychologie nutzen wir dazu im Regelfall die | |
| experimentelle empirische Methode. Wir sind zum Beispiel ins Gefängnis | |
| gegangen und haben Leute getestet, die für Vergehen dort saßen, die mit | |
| Regelbruch assoziiert sind. | |
| Diesen Regelbrechern haben wir am Computer Aufgaben gestellt und ihr | |
| Verhalten analysiert. Dazu haben wir gewisse Regeln aufgestellt, die | |
| festgelegt haben, wie sich die Versuchsteilnehmer:innen in | |
| verschiedenen Situationen verhalten sollen, zum Beispiel auf eine linke | |
| oder rechte Zielfläche auf dem Bildschirm klicken. In manchen Situationen | |
| kann man dann Anreize setzen, damit diese Regeln gebrochen werden. | |
| Durch die Analyse der Mausbewegungen konnten wir das Verhalten bei | |
| Regelbefolgung und Regelverletzung vergleichen und somit Rückschlüsse | |
| darüber ziehen, was in unserem kognitiven System vor sich geht, wenn wir | |
| Regeln brechen. | |
| Und kann man Schlüsse daraus ziehen, wann Leute bereit sind, sich an Regeln | |
| zu halten und wann nicht? | |
| Grundsätzlich gilt: Das Befolgen einer Regel ist praktisch das, was als | |
| erstes in unserem kognitiven System aktiviert wird. Das heißt, dass wir | |
| unseren ersten, automatischen Impuls, eine Regel zu befolgen, unterdrücken | |
| müssen, um die Regel letztendlich zu brechen. | |
| Also ist es anstrengender, eine Regel zu brechen, als sie zu befolgen? | |
| Im Regelfall brauchen wir länger dafür und machen dabei mehr Fehler. Und es | |
| ist interessanterweise so, dass das Regelbrechverhalten immer noch Spuren | |
| der eigentlichen Regelbefolgung zeigt. | |
| Zum Beispiel ein kurzes Zögern, bevor ich bei Rot über die Ampel gehe? | |
| Genau, es geht dabei oft nur um den Bruchteil einer Sekunde. Im | |
| Forschungskontext ist das sehr spannend, auch wenn wir das in unserem | |
| Alltag gar nicht unbedingt bemerken. | |
| Schauen Sie sich denn auch Regeln im normalen Leben an oder nur im | |
| Forschungskontext? | |
| Ich muss mich als Privatperson natürlich auch damit auseinandersetzen, etwa | |
| wann ich welche Maske tragen muss. Mir ist dabei aufgefallen, dass die Art | |
| der Kommunikation in der Pandemie relativ gut läuft, weil meist alles in | |
| Form von Geboten präsentiert wird. Also: Trage eine Maske, halte Abstand, | |
| nicht in Form von Verboten. | |
| Warum ist das wichtig? | |
| In unserer Forschung sehen wir immer wieder, dass wir mit Geboten besser | |
| klarkommen. Verbote erreichen manchmal das genaue Gegenteil. Sie können | |
| Menschen anspornen, genau das Verbotene zu machen. Das hat damit zu tun, | |
| wie wir Informationen verarbeiten. Ein ganz einfaches Beispiel: Denken Sie | |
| jetzt nicht an einen rosa Elefanten. Was passiert? Der rosa Elefant ist im | |
| Kopf. Das heißt, unser kognitives System kann nicht so gut mit Verneinung | |
| umgehen. | |
| Wenn jetzt die neue Regel lautet: Ungeimpfte und Genesene dürfen sich nicht | |
| mit mehr als zehn Leuten treffen – kommt man dann erst auf die Idee, sich | |
| mit mehr als zehn Leuten zu treffen? | |
| In diesem Fall ist es nicht ganz so einfach. Da kommt es haarscharf auf die | |
| Formulierung an. Man könnte „bis zu 10 Leute“ sagen. Das wäre besser, als | |
| „nicht mehr als zehn Leute“. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir | |
| einfach nicht um die Negation herumkommen. Und es gibt viele Dinge, die | |
| haben sich in die Kultur, in unser Gedankengut eingebrannt. Die Zehn Gebote | |
| sind auch teilweise Verbote: Du sollst nicht töten, sollst nicht stehlen, | |
| du sollst nicht ehebrechen. | |
| Es gelten jetzt Kontaktbeschränkungen für geimpfte und genesene Personen, | |
| wenn aber [2][ungeimpfte Personen] dabei sind, dann gelten andere Regeln … | |
| Man sieht es den Leuten auf der Straße nicht an, ob sie geimpft sind oder | |
| nicht. Das sorgt für mehr Unklarheit, welche Regeln eigentlich für wen | |
| gelten, und auch ob und welche Konsequenzen bei Nichteinhaltung eintreten. | |
| Hinzu kommt: Die Regeln zwischen den Bundesländern sind auch nicht | |
| einheitlich. Das macht es noch komplizierter und kann dazu führen, dass | |
| sich der Einzelne gar nicht mehr in diesem komplexen Regelwerk | |
| wiederfindet. | |
| Das heißt, Regeln müssen einfach sein? | |
| Sie müssen klar, einfach verständlich, konkret, und bestenfalls ein Gebot | |
| sein. Und sie sollten zeitlich einigermaßen stabil und somit verlässlich | |
| sein, sodass ich nicht das Gefühl habe, die aktuell geltenden Regeln ändern | |
| sich alle zwei Wochen. | |
| Glauben Sie denn, dass jetzt alle an Silvester genau nachzählen, ob nicht | |
| eine Person zu viel da ist und genau erfragen, ob Kinder 14 oder 15 Jahre | |
| alt sind? | |
| Das ist der nächste Punkt. Ist das wirklich eine Regel? Wenn ich eine Regel | |
| habe, dann muss ich auch ein Organ haben, das das Ganze kontrolliert. Die | |
| Polizei wird aber wahrscheinlich nicht an Silvester an der Tür klingeln, | |
| Impfpässe kontrollieren und die Menschen durchzählen. | |
| Deswegen könnten wir das auch als Empfehlung formulieren: Versuchen Sie an | |
| Silvester Ansammlungen zu vermeiden und sich nur mit bis zu maximal zehn | |
| Leuten zu treffen. Das hätte auch den Vorteil, dass Menschen sich nicht so | |
| bevormundet fühlen, sondern das Gefühl haben aus freien Stücken an den | |
| Maßnahmen zu partizipieren, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. | |
| Sie haben gesagt, dass sich die meisten Menschen eher an Regeln halten. | |
| Spielt es dabei eine Rolle, ob man diese Regeln sinnvoll findet? Es geht | |
| derzeit ja auch um starke Grundrechtseinschränkungen. | |
| Aus unseren Forschungsarbeit kann man sagen, dass es keinen Unterschied | |
| macht. Aber da arbeiten wir auf einem sehr abstrakten Niveau. Je nach | |
| Anweisung müssen die Leute die Hand nach links oder rechts bewegen. Das ist | |
| als Regel natürlich völlig arbiträr, und trotzdem halten sich die Leute | |
| daran. Aber in unserem komplexen Alltag gibt es natürlich viel mehr | |
| Einflussfaktoren. Da kann es sein, dass die Leute ein bisschen ausgelaugt | |
| sind oder trotzig werden, Regeln nicht einsehen und genau das Gegenteil | |
| machen. Wenn Dinge verboten sind, macht es sie attraktiv. | |
| Wenn mehr Polizei auf der Straße wäre, um diese Regeln zu kontrollieren, | |
| würden sich dann mehr Leute daran halten? | |
| Wahrscheinlich erst mal ja. Aus der Forschung wissen wir: Wenn wir eine | |
| Regel brechen, dann fördert das die Wahrnehmung von Autoritätspersonen. Hat | |
| mich jemand gesehen? Werde ich jetzt bestraft? Aber wenn ein Gefühl von | |
| Polizeistaat aufkommt, dann kann das zu neuen Problemen führen. | |
| 28 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
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