Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Silvestertradition und Sinneserfahrung: Kleine Stinkefische, große…
> Ohne Sardellen an Silvester geht das nächste Jahr gründlich schief, weiß
> unsere Autorin inzwischen. Der Beweis? Das Jahr 2021.
Bild: In Österreich werden süße Glücksfische verzehrt, andere bevorzugen sa…
Neulich las ich im Internet, dass viele Leute in Österreich zu Silvester an
Fischbiskotten knabbern, Bisquitkeksen in Fischform. Das soll Glück
bringen, eh kloar, funktioniert aber nur, wenn das Teigtier von hinten nach
vorn verzehrt wird, von der Schwanzflosse zum Kopf – damit das Glück nicht
fortschwimmt, so geht der Aberglaube in dem ulkigen Land mit den hohen
Bergen und hübschen Kühen, den bestechlichen Politikern und gar nicht mal
so üblen Schriftstellerinnen.
Wie ich darauf kam? Weil ich das Wort „Glücksfische“ aus Recherchezwecken
in die Suchmaschine eingab. Ich war nämlich der festen Überzeugung, dass
es echte Glücksfische gibt. Das sie millionenfach gegrillt, gekocht,
mariniert und in der Nacht der Nächte in Familien und Freundschaftskreisen
serviert werden, um Frieden, Liebe, Geld und Gesundheit über die Welt zu
bringen. Dass es sich um eine [1][jahrhundertealte Tradition] handelt, von
der ich irgendwann irgendwo schon mal gehört oder gelesen hatte. Intuitiv
verortete ich sie in Asien. Vielleicht auch in einer orthodoxen
Balkanregion. Oder in einem Weltkulturerbedorf nördlich des Polarkreises.
Zu meiner herben Überraschung schien jedoch das steinige Österreich das
einzige Land weltweit zu sein, das Glücksfische kannte – und eben bloß als
Süßgebäck. Während ich die augenscheinlich einzige Person auf dem Planeten
Erde war, die sich seit Jahren strikt an folgende Verhaltensregel hielt:
„Man muss zum Jahreswechsel kleine Stinkefische essen, sonst geht in den
zwölf Monaten darauf alles schief!“
Mit „kleinen Stinkefischen“ meine ich sauer eingelegte Sardellen. Die
Sardelle – von angeberischen Gemütern auch „Anchovi“ genannt, Engraulidae
lautet ihr biologischer Name – ist die zierliche Cousine der Sardine. Beide
zählen zur Familie der „Heringsartigen“ und treten in Schwärmen auf,
[2][stets in Küstennähe] und in besonders großer Zahl im westlichen
Mittelmeer. So gut wie wissenschaftlich bewiesen ist auch dies: Liegen am
31. 12. keine marinierten Sardellen in meinem Kühlschrank und bis zum 1.
1., spätestens 12 Uhr mittags, nicht in meinem Bauch, ist das ein
schlechtes Omen.
Beweis gefällig? An Silvester vor einem Jahr war mir um 21.57 Uhr siedend
heiß eingefallen: „Die Sardellen fehlen!“ Die Lebensmittelläden hatten
längst zu, die mediterranen Imbisstheken waren pandemiebedingt dicht. So
schlitterte ich – und die Welt mit mir – ohne meine Glücksfische nach 2021,
et voilà: Es wurde wohl nicht nur mein mühsamstes Jahr seit Langem.
Es stimmt also: „Sardelle = Empowerment = Happiness“. Auch wenn ich mir
jenen Glauben wohl komplett selbst ausgedacht habe. Es gab und gibt keine
Kirche, keine Sekte, keine Bevölkerungsgruppe, nirgends, die je mit der
Sardelle Silvester gefeiert hätte. Ich, die mittelaltjunge Frau mit ihrer
jeden Tag an Wert gewinnenden Plattensammlung und ihrer jeden Tag an Wert
verlierenden Lebensversicherungspolice, ihrem kleinen Schattenbalkon und
ihrem großen Bekanntenkreis bin meine eigene Religionsstifterin.
Immerhin kam ich darauf, wann und wo es angefangen haben muss: in den sehr
frühen 1980er Jahren, beim ersten „Spanier“ in unserer hessischen
Kleinstadt. Dort wurden rostbraune Keramikschälchen voller wundersamer
Häppchen serviert. „Tapas“ hießen die Portiönchen, erklärten meine Elte…
meinem Bruder und mir, damals elf oder zwölf Jahre alt, und der Reiz
bestehe darin, sich kreuz und quer durchzunaschen. So lernte ich meine
magischen Freundinnen kennen, die Boquerones en vinagre, „Sardellen in
Essig“.
Es war weder Silvester, noch mochte ich Fisch. Ich war eines der Kinder,
die von Käpt’n Iglo nie satt wurden. Die Stäbchenpanade knabberten wir ab,
den Rest ließen wir liegen. Voller Entsetzen starrte ich in das Schälchen
auf dem Gaststättentisch: Kleine, kalt glänzende Fische mit dramatisch
aufgeschlitzten Leibern waren darin aufgeschichtet. Doch, was immer mich
dazu brachte, plötzlich wollte ich es wissen. Mit meiner Gabel pikste ich
ein Fischlein auf, führte es vorsichtig zu meinem Mund, sah es wackeln, als
ob es noch lebendig war, spürte die Blicke meiner Erziehungsberechtigen,
ach was, des gesamten Lokals auf mir, machte mich auf das Schlimmste
gefasst – und dann haute es tatsächlich voll rein. Aber ganz anders, als
ich es erwartet hatte.
Die erfrischende Kühle des Fischleins. Und seine angenehme Konsistenz!
Nicht halb so labberig, wie es aussah, war es, sondern verblüffend
bissfest, fast so fest wie das Fleisch eines sehr zarten Hühnerschenkels.
Samtig zerging es zwischen meiner Zunge und meinem Gaumen. Die Säure der
Essigtunke versetzte meine Speichelmodule in hellen Aufruhr, kitzelte in
meinen Ohren, schoss in bis dato unerschlossene Areale meines Gehirns.
Diese herbe Würze. So viel Knoblauch! Die köstlichen, knallgrünen
Kräuterfitzel dazu. Und eben: eine solch überwältigende Fischigkeit!
Meine Eltern waren außer sich vor Freude, und auch ich konnte kaum fassen,
wie gut es mir schmeckte. Mit nur einem Bissen hatte ich mir eine völlig
neue Sinnesdimension eröffnet. „Deftig“ war es und zugleich ganz leicht.
Ich hatte das Meer, die Fremde, die Freiheit, [3][die große weite Welt im
Mund] – meine Wunschzukunft. Vor allem mich selbst fand ich sehr toll, wie
ich nun also doch noch zur Fischesserin geworden war, mit einem beherzten
Gabelhappen praktisch erwachsen.
Von „spanischen Sardinen“ sprachen meine Eltern damals. Von „kleinen
Stinkefischen“ spreche ich heute, voller Liebe. Im Originalzustand hat das
Sardellenfleisch eine bräunliche Färbung. Erst nach rund drei Stunden in
Salzwasser und fünf bis sechs Stunden im Essigbad wird es weißlich, und
sein Geschmack ist mild genug für den Rohverzehr. Die derart behandelten
Sardellen werden mit Olivenöl übergossen, mit reichlich frischem Knoblauch
und glatter Petersilie bestreut. Etwas Weißbrot dazu, um den
fruchtig-fischigen Sud aufzutunken, und fertig ist das sehr kleine, sehr
überschaubare, aber auch sehr verlässliche Glück.
„Die Welt ist wie ein Sardellen-Salat / Er schmeckt uns früh, er schmeckt
uns spat“, hat [4][der berühmte Johann Wolfgang einmal gedichtet]. Von
wertvollen Omega-3-Säuren, Mineralien und Vitamin D will ich gar nicht erst
anfangen. Fakt ist: Wir müssen alle zusammenhalten, alleine schafft es kein
Mensch, und ich will dieses Jahr wieder ganz bewusst meinen Beitrag
leisten. Für den Fall, dass ich dieses Jahr an Silvester keine Frischware
mehr erwische, habe ich bereits eine 120-Gramm-Portion „marinierte
Sardellen“ der Marke Medusa im Kühlschrank gelagert. In einem
One-Way-Plastikschälchen, auweia. Niemand hat je behauptet, dass das Karma
ein Kinderspiel ist.
31 Dec 2021
## LINKS
[1] /Neue-Weihnachtsbraeuche/!5818803
[2] /Fischhandel-Rasmus-in-Stralsund/!5771109
[3] /Volkskueche-in-Palermo/!5335455
[4] /Foodbloggerin-aus-Weimar/!5719779
## AUTOREN
Katja Kullmann
## TAGS
Silvester
Tradition
Genuss
Kolumne Geschmackssache
Schwerpunkt Coronavirus
Winzer
## ARTIKEL ZUM THEMA
Terminologie von Speisekarten: Dinieren ohne Präpositionen
Spitzenrestaurants haben ihr Vokabular radikal reduziert. Anders ließe sich
ihr kunstvoll dekonstruiertes Durcheinander auch kaum fassen.
Berlin an Weihnachten und Silvester: Da kommt keine Stimmung auf
Wegen Omikron müssen Clubs schließen, es gibt kein Feuerwerk. Was bedeutet
die epidemische Notlage für Berlin über die Festtage?
Winzer über deutschen Sekt: „Wir haben ein Riesen-Imageproblem“
Volker Raumland keltert seit 40 Jahren Sekt. Ein Gespräch über späte Lese,
reife Säure und warum auch Leberwurst zu Schaumwein passt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.