# taz.de -- Südafrika trauert um Erzbischof: Danke, Tata Tutu | |
> Desmond Tutu inspiriert Südafrika bis heute: er stritt erst gegen | |
> Apartheid, dann für ein gerechteres Land. Ein persönlicher Rück- und | |
> Ausblick. | |
Bild: Blumen für den Toten: Vor der St. George's Cathedral in Kapstadt | |
KAPSTADT taz | Kapstadt, Mai 1997. Der große Saal ist bis auf den letzten | |
Platz mit Schulklassen gefüllt. Unter dem Vorsitz von Erzbischof Tutu | |
kommen hier erstmals Jugendliche vor Südafrikas Wahrheitskommission zu | |
Wort, die zur Zeit der Apartheid Unrecht erlitten hatten. Vuyani M. ist | |
einer von ihnen, mit 14 Jahren traf ihn die Kugel eines Polizisten am Kopf | |
und er erblindete. „Ich bitte um Geld für eine Operation, so dass mein | |
linkes Auge vielleicht noch geheilt werden kann“, sagt er leise. | |
Plötzlich entsteht hinten im Saal ein Gerangel zwischen jungen Leuten und | |
Polizisten. Tutu ruft: „Ah, unsere Polizei … früher haben sie uns | |
verprügelt. Aber jetzt sind sie da, um uns zu schützen. Attackiert sie | |
nicht. Sie haben unseren Beifall verdient!“ Und er beginnt zu klatschen. | |
Die Situation ist entspannt. | |
Seinerzeit hatte ich das Privileg, Karin Chubb, die frühere Vizepräsidentin | |
des Black Sash, der ehemals einzigen weißen Frauenorganisation gegen | |
Apartheid in Südafrika, zu den Anhörungen der Wahrheitskommission in | |
Kapstadt zu begleiten. Bis 1994 hatte ich ein Einreiseverbot für Südafrika, | |
1997 wurde ich dann erstmals vom Goethe-Institut zu Lesungen eingeladen. | |
Für die meisten von uns, die sich in den 1980er Jahren gegen Apartheid | |
engagierten, war Erzbischof Desmond Mpilo Tutu – Friedensnobelpreisträger | |
1984, anglikanischer Erzbischof von Kapstadt seit 1986 – die wichtigste | |
Stimme aus Südafrika, während Nelson Mandela noch bis 1990 zum Schweigen im | |
Gefängnis verurteilt war. Tutus Aufrufe zum gewaltfreien Widerstand, zu | |
Boykotten („Kauft keine Früchte aus Südafrika!“) inspirierten Millionen. | |
Sein persönlicher Mut war unübersehbar – etwa einmal im Jahr 1985, als er | |
sich gegen einen aufgebrachten Mob stellte, die einen möglichen Verräter | |
aus den eigenen Reihen lynchen wollten. | |
Zur Zeit der Apartheid waren 60 Prozent der Todesopfer von politischer | |
Gewalt jünger als 25 Jahre, etwa 100.000 Jugendliche saßen im Gefängnis. | |
[1][Südafrikas Wahrheitskommission], unter Tutus Vorsitz ab 1996, gab ihnen | |
Achtung und Würde. Und es ging nicht nur um die Opfer, sondern auch um die | |
Täter. So erklärte Tutu damals im Mai 1997 nach der Anhörung der | |
Jugendlichen den Journalisten auf einer Pressekonferenz: „Bitte berichtet | |
nicht nur über die Gräueltaten der Apartheid. Helft mit, zu verstehen, | |
warum Männer, die sonst gute Familienväter sind, zu Folterern werden | |
konnten.“ | |
In seinem Vorwort zu Karin Chubbs und meinem [2][Buch über die | |
Jugend-Anhörungen der Kommission] schrieb er 1999: „Oft wird gesagt, dass | |
die Kinder unsere Hoffnung für morgen sind. Aber in Südafrika sind sie auch | |
die Helden von gestern … Jetzt ist die Zeit, mit ihnen gemeinsam eine | |
bessere Gesellschaft für uns alle zu schaffen.“ | |
## „Bist du der echte Tutu aus dem Fernsehen?“ | |
Ein Jahr später berichtete ich ihm vom Plan einiger Aktivist*innen in | |
einem Township südlich von Kapstadt, ein Haus für Kinder zu bauen, die alle | |
erwachsenen Familienmitglieder an Aids verloren hatten und zum Teil selbst | |
infiziert waren. „Macht das!“, sagt er. „Und wenn ihr es schafft, komme i… | |
zur Eröffnung und segne euer Haus.“ | |
Tatsächlich gelang es, auf einer ehemaligen Müllkippe in der Armensiedlung | |
Masiphumelele ein Haus zu bauen, einen Garten und einen Spielplatz | |
anzulegen und junge Erzieher*innen zu finden. Die Eröffnung war für den | |
Welt-Aids-Tag 2002 geplant. Als ich in Tutus Büro anrief, antwortete seine | |
Sekretärin bedauernd, dass der Erzbischof an diesem Tag schon ausgebucht | |
sei. Dann eine kurze Mail von ihm: „Natürlich komme ich. Um 12 Uhr. Tata.“ | |
Mit „Tata“, dem Xhosa-Wort für Vater, unterschrieb Tutu meist seine Mails. | |
Seit dem frühen Morgen halten an jenem 1. Dezember 2002 junge Leute | |
Ausschau an der Einfahrt zum Township. Alle erwarten ein edles Auto mit | |
Polizeibegleitung auf Motorrädern. Nichts davon. Am Ende wird sein | |
einfacher Mittelklassewagen beinah übersehen. Ein kleines Mädchen erkennt | |
ihn neben seinem Fahrer und ruft aufgeregt: „Tata Tutu!“ Dann rennen alle | |
hinter dem Auto her, bis er vor unserem [3][Kinderhaus]h hält. | |
Als Tutu aussteigt, schüttelt er zuerst die Hände der Kinder, die ihn | |
begeistert umringen. Ein Junge fasst ungläubig an sein Bischofskleid und | |
fragt: „Bist du der echte Tutu aus dem Fernsehen?“ Der Erzbischof lacht: | |
„Ja, ich bin der lustige alte Mann aus dem Fernsehen!“ | |
Und dann ist er da. Vor Hunderten Menschen, die ihm zum Teil von den | |
Dächern ihrer Township-Hütten zuhören, ruft er in den Lautsprecher: „Früh… | |
haben wir gegen Apartheid gekämpft. Heute gilt unser Kampf Aids. Ihr, die | |
ihr diesen Kindern helft und ihr, die ihr offen sagt, dass ihr HIV habt, | |
seid heute unsere Heldinnen.“ | |
Seitdem besuchte er uns immer mal wieder. 2008 kam er, weil es in | |
Masiphumelele eine der ersten Aktionen gegen landesweite | |
Fremdenfeindlichkeit gibt. 2009, als ich Morddrohungen erhielt, nachdem wir | |
Veruntreuung von Geldern in einem Wohnungsbauprojekt bekannt gemacht | |
hatten, schrieb er: „Dein Mut verdient Anerkennung. Bitte informiere mich, | |
wenn ich helfen kann. Tata.“ | |
Zu seinen Geburtstagsfeiern in der Westkap-Universität gingen wir jedes | |
Jahr am 7. Oktober. Einmal lief ein Mädchen zu ihm in die erste Reihe, | |
einfach um ihm die Hand zu schütteln. „Wissen Sie noch, woher ich komme?“, | |
fragt sie und antwortet aufgeregt selbst: „Aus Masi!“ „Na klar, schöner | |
Name!“, antwortete Tutu und umarmte sie. Das Xhosa-Wort [4][Masiphumelele] | |
bedeutet: Wir werden es schaffen! | |
## Tränen in den Augen | |
Als uns am vergangenen Sonntag die traurige Nachricht seines Todes | |
erreichte, beteten alle Kleinen und Großen im Kinderhaus. Litha, 5, der ihn | |
nur von Fotos an der Wand kennt, sang leise vor sich hin: „Ich habe dich | |
lieb, Tata Tutu, so lieb.“ | |
Wenig später traf ich Gesundheitsarbeiterin Noku M. auf der Straße. „So | |
schlimm“, sagte die 56-Jährige und hat Tränen in den Augen. Sie erinnerte | |
sich: „Er kam damals zu unserem Aufklärungstag gegen Tuberkulose. Und bevor | |
er aufs Podium ging, bückte er sich und band die Schnürsenkel einer | |
Patientin in der ersten Reihe. Und sagte zu ihr: Damit Sie nicht fallen!“ | |
Menschenrechtsaktivistin Di Oliver, 72, erinnert sich an den 28. Dezember | |
1985, als ihr Mann Brian Bishop und ihre Freundin Molly Blackburn Opfer | |
eines Anschlags der „Sicherheitskräfte“ wurden – und sie selbst nur knapp | |
überlebte. „Wenige Monate nach dem sogenannten ‚Unfall‘ erhielt ich 1986 | |
den Auftrag meiner Gemeinde, bei der Wahl des neuen Erzbischofs von | |
Kapstadt für Desmond Tutu zu stimmen. Es gelang, aber bis heute bin ich | |
schockiert, wie viele hasserfüllte Reaktionen es damals gab, weil er der | |
erste schwarze Bischof war. Zum ersten Mal auf einer Bühne war ich mit ihm | |
im gleichen Jahr, 1986, als ich endlich nicht mehr an Krücken ging und wir | |
im überfüllten Saal zum Widerstand gegen die Wehrpflicht in Südafrika | |
aufriefen. Wir erhielten tosenden Beifall von vielen jungen Leuten aller | |
Hautfarben. Ab dann gingen viele weiße junge Männer lieber ins Gefängnis, | |
statt auf ihre Brüder und Schwestern in den Townships zu schießen. Es ist | |
ein großes Geschenk, dass ich diesen Mann zu meinen Lebzeiten erleben | |
durfte.“ | |
Bei einem Besuch vor seiner St. George's Kathedrale erinnert sich die | |
bekannte Fernsehjournalistin Ayesha Ismail, wie früher Desmond Tutu ihr und | |
ihren Kolleg*innen Schutz bot in seiner Kirche und sich vor verfolgende | |
Soldaten stellte. | |
Der Schriftsteller [5][Sonwabiso Ngcowa], 37, ist sich sicher: „Tata Tutu | |
wird noch lange Einfluss auf unsere junge Generation haben. Was für eine | |
Dynamik bis zuletzt! Sein Ideal sozialer Gerechtigkeit ist auch unseres. | |
Tutu wurde nicht gemocht von autoritären und korrupten Politikern, egal ob | |
aus unserem ANC oder von jemandem wie Robert Mugabe aus Simbabwe. Es gibt | |
noch zu viele kleine Mugabes – gegen sie müssen wir als junge Tutus | |
aufstehen.“ | |
Der 19 Jahre alte Vuyo M. stimmt zu: „Zum Beispiel müssen die viel zu hohen | |
Studiengebühren an den Unis abgeschafft werden.“ Und die 20 Jahre alte | |
Kwezi S. ergänzt: „Mein Vater starb auf dem Weg zum Krankenhaus, weil es | |
bei uns auf dem Land kaum Krankenwagen gibt. Die Ärztin sagte, wir seien zu | |
spät gekommen, als wir ihn auf einer Schubkarre brachten. Südafrika ist | |
kein armes Land. Wir müssen wie Tata Tutu dafür aufstehen, dass der | |
Reichtum endlich anders verteilt wird.“ | |
## Täglich läuten die Glocken seiner Kathedrale | |
Nun leuchtet in Kapstadt der Tafelberg sowie das Rathaus jeden Abend im | |
Violett seiner Bischofsrobe. Täglich läuten mittags die Glocken seiner | |
ehemaligen Kathedrale. In der Innenstadt bleiben dann viele Menschen stehen | |
und falten die Hände. | |
Am 30 und 31. Dezember wird sein Leichnam in seiner Kathedrale aufgebahrt, | |
die offizielle Trauerfeier am Neujahrstag wird der heutige Erzbischof Thabo | |
Makgoba leiten. Vertreter*innen aller Religionen werden anwesend sein, | |
dazu aufgrund von Corona nur etwa 200 geladene Gäste. Makgoba appellierte: | |
„Bitte folgt unserem Gottesdienst wegen Covid lieber daheim an den | |
Fernsehern – wir alle werden ihn im Herzen haben!“ | |
Im ganzen Land wird Tutu gewürdigt. Selbst der frühere Präsident Thabo | |
Mbeki (79), der als Nachfolger von Nelson Mandela den unter Vorsitz von | |
Erzbischof Tutu erstellten Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission | |
(1996-1998) zunächst ablehnte, von Tutu für seine verfehlte Aidspolitik | |
kritisiert wurde und Tutu daraufhin nicht mehr zur jährlichen | |
Parlamentseröffnung einlud, pries nun seine „wichtige Rolle beim Aufbau | |
eines neuen Südafrika“. | |
Zu den wenigen Prominenten, die ihn nicht würdigten, gehört Ex-Präsident | |
Jacob Zuma (79), dessen Regierung sich 2011 weigerte, zu Tutus 80. | |
Geburtstag seinen Freund, den Dalai Lama, nach Südafrika einreisen zu | |
lassen. Dies und Zumas Korruption führten dazu, dass Tutu erklärte, die | |
ehemalige Befreiungsbewegung, den African National Congress (ANC), nicht | |
länger wählen zu können. | |
Die Stiftung des erst am 11. November verstorbenen letzten | |
Apartheid-Präsidenten FW de Klerk veröffentlichte dagegen eine Würdigung | |
Tutus als „moralischer Kompass Südafrikas“, obwohl Tutu auch de Klerk | |
kritisiert hatte, nicht genug zur Aufklärung von rassistischen Verbrechen | |
getan zu haben. | |
Der heutige Präsident Cyril Ramaphosa hatte sich bereits bei Amtsantritt | |
2018 bei Erzbischof Tutu entschuldigt für die Attacken seines ANC – und | |
besuchte auch jetzt umgehend Tutus Familie, allen voran Tutus Frau „Mama | |
Leah“, um das Beileid der Regierung zu überbringen. | |
Viele Menschen verabschieden sich jetzt von Tutu. In einer Schlange zum | |
Eintrag in Kondolenzbücher treffe ich auf eine Gruppe obdachloser queerer | |
Frauen und Männer. Sie sind gekommen, sagt eine junge Frau, weil „Tutu uns | |
geliebt hat“. Ihr Freund, der sich als Transmann vorstellt, ergänzt: „Er | |
hat mal gesagt, dass er zu keinem homophoben Gott beten würde. Dann ginge | |
er lieber in die Hölle. So war er.“ | |
Als ich die Kathedrale verlasse, ruft ein älterer „Weißer“ meinen Namen: | |
Willem P., 76, war früher wie die meisten seiner Generation voller | |
rassistischer Überzeugungen. Er sieht mein erstauntes Gesicht und brummt | |
leise, so dass nur ich es hören kann: „Tutu hat uns alle zu besseren | |
Menschen gemacht. Ich denke heute anders. Nur wegen ihm.“ | |
30 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.justice.gov.za/trc/ | |
[2] https://www.amazon.com/Between-Anger-Hope-Reconciliation-Commission/dp/1868… | |
[3] /Coronavirus-in-Suedafrika/!5674592 | |
[4] /Not-in-Suedafrika/!5735086 | |
[5] /Suedafrikas-junge-Generation/!5387696 | |
## AUTOREN | |
Lutz van Dijk | |
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