# taz.de -- Großmutter über Gerüche: „Meine Kindheit riecht sehr erdig“ | |
> Unsere Autorin hat mit ihrer Großmutter über Geruch und Erinnerung | |
> gesprochen, über Bohnerwachs, Trümmer und das Älterwerden. | |
Bild: Unsere Autorin auf dem Arm ihrer Oma. Wer sich so nah ist, kennt den Geru… | |
Ein später Novembernachmittag. Ich sitze in einem der breiten Korbstühle | |
meiner Oma, sie sitzt mir am runden Tisch gegenüber. Wir haben uns | |
verabredet, um über Gerüche zu reden. Oma hat gekocht. Es gab Pasta, dazu | |
ein Glas Rotwein. Und Nachtisch. Wie immer, wenn ich sie um die Mittagszeit | |
besuche. Jetzt riecht es nach Kaffee und Spekulatius. Vor uns liegt das | |
Fotoalbum, das sie seit meiner Geburt mit Bildern von mir gefüllt hat. | |
Wenn ich diese Kinderfotos von mir in deinem alten Haus gucke, kann ich sie | |
riechen. | |
Wonach riechen sie denn? | |
Nach schwarzem Tee mit Milch. Nach den Stühlen, die wir zusammengeschoben | |
haben, um darauf Kaufladen zu spielen. Dem Teppich, auf dem ich früher so | |
gerne getanzt habe. So wie auf diesem Foto. Es riecht ganz anders als hier. | |
Dabei sind es dieselben Stühle, auf denen wir gerade sitzen. Auch der | |
Teppich liegt noch oben im Wohnzimmer. | |
Aber hier im neuen Haus riechen sie anders. Hier riechen sie nach Rotwein | |
und den Zigaretten, die wir hier am Tisch geraucht haben, bevor du | |
aufgehört hast. Nach Erwachsenwerden irgendwie. | |
Rotwein und Zigaretten – interessant, wonach Erwachsenwerden für dich | |
riecht. | |
Wonach riecht Erwachsenwerden denn für dich? | |
Natürlich haben wir auch viel gefeiert. Viel geraucht, viel getrunken. Aber | |
ich bin auch früh Mutter geworden, mit Anfang zwanzig. Ich finde es gut, | |
dass du dir mehr Zeit lässt, Dinge ausprobierst. | |
Und ich mag, dass ich bei dir Ruhe finde. Eine Konstante. So wie der Geruch | |
deines Parfums. Dieser Geruch ist schon immer da, seitdem ich denken kann. | |
Meines Parfums? | |
Du hast schon immer dieses Parfum. Diesen warmen Duft. Omas Parfum eben. | |
Das war immer schön, das stimmt. Aber du irrst dich. Ich benutze es schon | |
lange nicht mehr. Ich hab es immer geschenkt bekommen von einem Freund. | |
Aber der Freund ist inzwischen tot. Dann habe ich versucht, es mir selbst | |
zu kaufen, aber das Parfum wird nicht mehr hergestellt. Ich könnte es also | |
auch nicht mehr kaufen, selbst wenn ich wollte. | |
Vielleicht ist es auch gar nicht das Parfum. Vielleicht ist es nur immer | |
der gleiche Geruch. | |
Vermutlich erinnerst du dich an meinen Körpergeruch. Ich habe dich früher | |
viel auf dem Arm getragen. | |
Ich verbinde mit diesem Geruch viel Geborgenheit. | |
Das Natürliche riecht am schönsten. Gerade stehen im Wohnzimmer frische | |
Nadelzweige und die duften so gut. Auch am Menschen ist die Natur am | |
schönsten. Es gibt nichts Schöneres, als wenn ein Mensch gut riecht. Von | |
sich aus. Du riechst gut für mich, ich kenne deinen Körpergeruch schon so | |
lange. Ich rieche dich sehr gerne. | |
Ich fühle mich immer ein bisschen aufgeräumter, wenn ich mein Parfum trage. | |
Riechen ist etwas Tolles. Aber Geruch hat auch eine große Macht über unsere | |
Emotionen. Man sagt ja auch: Den kann ich nicht riechen. Und das stimmt, | |
man kann nicht jeden Körper gerne riechen, und wenn man jemanden nicht | |
gerne riechen kann, dann sagt das etwas. Das ist wie ein Alarmsignal. Ich | |
glaube, man kann nur lieben, wen man auch gut riechen kann. Ich rede nicht | |
von Aftershave oder Parfum. Ich meine den ganz eigenen Körpergeruch. Der | |
kann sehr gut, aber auch sehr schlecht sein. Auch Schweißgeruch kann | |
schrecklich oder aber angenehm sein. Anziehend sogar. Sexualität hängt eng | |
mit Gerüchen zusammen. | |
Aber am meisten Gefühle wecken in mir Gerüche, die mich an etwas erinnern. | |
Einen Ort, eine Person, eine Situation. Ich erinnere über keinen Sinn so | |
stark wie über den Geruch. Wenn ich etwas rieche, das mich an etwas | |
erinnert, haut es mich fast um. | |
Das kenne ich auch gut. Dass mir sofort Bilder in den Kopf kommen, wenn ich | |
etwas rieche. Der Geruchssinn ist so stark, das triggert sofort. Sobald du | |
diesen Geruch von früher riechst – das kann 20, 30, 40 Jahre zurückliegen �… | |
hast du sofort die Situation vor Augen. Das kann sehr positiv sein. Das | |
kann sehr negativ sein. | |
Fällt dir spontan so ein Geruch ein, der dich sofort an etwas Vergangenes | |
erinnert? | |
Ich erinnere mich gut an den Geruch meiner alten Schule. An den Boden, wenn | |
er frisch gebohnert war. Dieser Wachs. Und fiese Essensgerüche. Wir wurden | |
immer mit Essen versorgt, auch von den Amerikanern. | |
Was war das für Essen? | |
Eintöpfe. Ein Riesenbottich. Da gingen die mit der Kelle rein und ich hatte | |
dann mein Mitchen am Henkel. Da kam das rein. Viel war das nicht. Und es | |
hat gestunken. | |
Dein Mitchen? | |
Das war so ein ovales Metallgefäß mit einem Henkel dran, auch aus Metall. | |
Da klatschten sie die Eintöpfe rein. Das war direkt nach dem Krieg. In der | |
Stadt wurde das Essen ausgegeben, da ging man hin und dann hatte man ein | |
Mittagessen. Weil es ja nichts gab. | |
Und wonach riecht Bohnerwachs? | |
Ach, das kennst du ja auch nicht mehr. Furchtbar riecht das. Wenn der | |
frische Wachs über den Linoleumboden gerieben wird. Es riecht ekelhaft. | |
Muffig. Nach Schule eben. Nach brüllenden Lehrern, die dir auf die Finger | |
hauen. Wo du stramm stehen musst. Und nach alten Nazis. | |
Ist das für dich der Geruch deiner Kindheit? | |
Meine Kindheit riecht sehr erdig. Es gab viel Schutt. Wir haben viel in | |
Trümmern gespielt, es war ja alles kaputt. Die Erde roch so stark. Aber ich | |
habe keine schlechten Erinnerungen an die Gerüche meiner Kindheit. Wir | |
hatten ein schönes Zuhause. Natürlich waren da nach dem Krieg auch die | |
Trümmer. Die haben wir ausgefegt. Dann haben wir renoviert. Wir hatten | |
einen schönen Garten, aber drumherum waren viel Trümmer. | |
Ich weiß gar nicht, wie Trümmer riechen. | |
Kannst du ja auch nicht. Die sind so erdig. Wie wenn du viel Staub siehst. | |
Und wenn es dann geregnet hat, war es so ein feuchter, erdiger Geruch. | |
Irgendwie auch angenehm. Das ist keine schlechte Erinnerung. Und jetzt gibt | |
es ja gar keinen Staub mehr. | |
Ich glaube, es ist das erste Mal, dass wir über den Krieg reden. | |
Es ist ja auch schon lange her. | |
Du warst ein Kind. | |
Jetzt bin ich Urgroßmutter. Alter ist eben eine Frage der Perspektive. | |
Das stimmt. Ich weiß noch, früher fand ich Dreißigjährige richtig alt. | |
Jetzt werde ich nächstes Jahr selbst dreißig. Und natürlich fühle ich mich | |
älter, aber nicht alt. | |
Und ich werde achtzig. | |
Stimmt, wir feiern immer runden Geburtstag zusammen. Das ist so schön. | |
Wenn zu mir jemand sagt: Ich bin siebzig, dann sage ich: Prima. Siebzig ist | |
noch jung. Weil man immer schwächer wird. Aber es ist irre, denn innen drin | |
bleibst du immer dasselbe. Nur der Körper wird schwach, wird alt. Das ist | |
oft eine richtige Verzweiflung. Die Organe werden alt, du kannst plötzlich | |
nicht mehr zwei Stunden durch den Wald laufen. Dann erstaunst du wieder und | |
denkst: Ja klar, du bist jetzt fast achtzig. Jeden Moment könntest du jetzt | |
umfallen und dann bist du einfach nicht mehr. Aber innen drin ist alles | |
gleich. Innen altert nichts. Innen verändert es sich nur. So wie die | |
Perspektive. Dieser Unterschied zwischen Innen und Außen ist paradox. Du | |
wirst das auch noch erleben. Aber dann lebe ich nicht mehr, dann können wir | |
nicht mehr darüber reden. | |
Das klingt schlimm. Als wäre mein Inneres eingesperrt. Oder fühlt es sich | |
gut an, dass das Innere nicht altert? | |
Innerlich ist es unheimlich schön. Du hast das alles hinter dir. Was du | |
alles wolltest, worüber du dich alles geärgert hast, worüber Dinge | |
zerbrochen sind. Alles wirkt lächerlich. Du bist einfach entspannt. | |
Du blickst ja auch viel mehr zurück als ich … | |
Ja natürlich! Du weißt ja noch gar nicht, was noch auf dich zukommt. Ich | |
bin dagegen total tiefenentspannt. Es sei denn, ich krieg morgens plötzlich | |
dieses unangenehme Wummern im Herzen und muss deswegen eine Verabredung mit | |
einem guten Freund absagen. So wie vor ein paar Tagen. Das ist dann für | |
mich Stress. | |
Weil du außen alt wirst? | |
Deshalb sage ich immer: Das Leben ist jetzt. Denn die Vergangenheit erlebst | |
du ja nur in der Erinnerung. Und die Zukunft, das sind Sehnsuchtsorte. Da | |
möchte man auf einmal etwas anderes als die Vergangenheit. Oder dasselbe, | |
genauso schön. Auf jeden Fall sind es Fantasien. | |
Vergangenheit und Zukunft passiert also nur in meinem Kopf. | |
Und beides verändert sich ständig. Auch die Erinnerung verändert sich | |
ständig. | |
Auch die Erinnerung an Gerüche? | |
Gerüche haben etwas Transzendentes. | |
Was meinst du damit? | |
Gerüche gehen oft über das Normale hinaus. Sie sind etwas Übersinnliches. | |
Sie sind unglaublich stark. | |
Die emotionale Tiefe von Geruch ist ganz anders als die visuelle | |
Wahrnehmung. | |
Ja, viel tiefer. Das Visuelle ist viel oberflächlicher. Wir sind ja sowieso | |
eine ganz visuelle Gesellschaft geworden. Immer wird man neu gereizt. Doch | |
was das Auge schön findet, ist unter Umständen gar nicht schön. Und | |
manchmal ist das Hässliche so schön, dass man gar nicht aufhören kann, | |
hinzugucken. Die Augen verführen sehr. | |
Der Geruch aber doch auch? | |
Der Geruch kann einen auch fehlleiten. Durch die Parfums, durch die fremden | |
Gerüche. Auch in der Natur gibt es Pflanzen, die haben bewusst einen | |
Geruch. Einen schlechten, um etwas abzuwehren, oder einen guten, um etwas | |
anzuziehen. Gerüche führen einen, und sie verführen auch. Wenn etwas | |
stinkt, dann geht man davon weg. Das ist gut. Weil es giftig ist zum | |
Beispiel. | |
Und wenn etwas gut riecht, will man daran festhalten. | |
Das machen ja auch viele. Wenn die Menschen gestorben sind, die man so | |
geliebt hat, ziehen sie die Sachen an und vergraben sich in diesem Geruch. | |
Das geht ganz tief in die Seele rein. Das ist so was ganz Tiefes. Dieser | |
Geruch. | |
So wie der Geruch von Papa. Sein Parfum, sein Haarwachs, der Geruch von | |
Marlboro Light. Als er gestorben ist, habe ich noch lange an seinen Hemden | |
gerochen. Ein Jahr, zwei, ich weiß es nicht mehr. Ich würde das Parfum aus | |
tausend Düften erkennen. Wenn ich es irgendwo rieche, bekomme ich einen | |
richtigen Schock. | |
Ich hatte lange Zeit noch eine Jacke von ihm im Schrank hängen. Da habe ich | |
immer dran gerochen. Dann habe ich sie irgendwann einem Freund geschenkt. | |
Weil sie nicht mehr nach ihm gerochen hat? | |
Weil ich es auch nicht mehr riechen wollte. | |
Als ich gemerkt habe, dass Papas Hemden immer weniger nach ihm riechen, | |
habe ich sie in Plastiksäcke gepackt. Mehrere Schichten. Noch eine Tüte | |
drum. Und noch eine. Die Säcke habe ich in Plastikboxen gesteckt. Ich | |
dachte, wenn ich sie nur in genug Plastik packe, dann hören sie nie auf, zu | |
riechen. Jetzt stehen diese Kisten in meinem Keller. Irgendwann habe ich | |
sie noch mal aufgemacht. Der Geruch ist weg. | |
Das ist auch eine Art Verzweiflung. Du kannst so viel riechen, wie du | |
willst. Aber er ist weg. Und das realisiert man erst, wenn der Geruch | |
weniger wird. | |
Ja. Und ich habe gehofft, dass … | |
Das ist, was den Geruch so besonders macht: Geruch ist die einzige | |
Erinnerung, die wir nicht konservieren können. | |
Mh. | |
Aber der Geruch ist in deinem Kopf. Und sobald er dir begegnet, ist alles | |
wieder da. Wie eine ganze Welt. Und die gehört nur dir. Und die bleibt in | |
deinem Inneren, egal, wie viel Zeit vergeht. Egal, wie alt du wirst. | |
25 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Luisa Thomé | |
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