# taz.de -- Corona und moralische Korrektheit: Die Lust an der Disziplin | |
> Drei rote Fäden haben sich durch das zu Ende gehende Jahr gezogen. Sie | |
> heißen Corona, Herrschaft des Mobs und rechter Populismus. | |
Bild: Ein schwarzes Jahr klingt aus | |
Auf einem der roten Fäden, die sich durch dieses nun zur Neige gehende Jahr | |
gezogen haben, hängt ein Schildchen mit der Aufschrift „Corona“. Einer der | |
Irrtümer bezüglich dieser Pandemie, der sich übers Jahr 2021 hinweg | |
beharrlich hielt, war die Vorstellung, man müsse nur noch ein bisschen | |
„durchhalten“, dann sei bald alles wieder wie früher. Erst langsam scheint | |
sich die Erkenntnis Bahn zu brechen, dass wir uns mit dieser Krise noch | |
ein, zwei, und – wenn’s dumm geht – noch drei oder vier Jahre werden | |
auseinandersetzen müssen. „Long Covid“ hat auch eine soziale Bedeutung. | |
Ein weiterer Irrtum, von dem in letzter Zeit aber nur noch wenig zu hören | |
war, [1][trug den Namen „Zero Covid“]. Damit war ein kommunistischer | |
Super-Lockdown gemeint, für den das Kapital bezahlen sollte. Dummerweise | |
dachte dieses in warmen Kreuzberger Stuben gefeierte Konzept nicht mit, | |
dass das Einfrieren des gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Welt | |
gleichzeitig stattfinden müsste, um zu funktionieren. Alternativ hätte man | |
natürlich auch ein paar Jahre lang die Grenzen hermetisch abriegeln können, | |
um im schönen Deutschland die Früchte von „Zero Covid“ genießen zu könn… | |
Währenddessen entwickelte sich mit fortschreitender Pandemie in manchen | |
Menschen ein unerbittlicher Stolz, der jenen eigen ist, die von sich | |
wissen, dass sie – im Gegensatz zu den unmoralischen und dummen anderen – | |
alles richtig machen. Keine Maßnahme war hart genug, um von ihnen nicht | |
noch als zu lasch und unzureichend empfunden zu werden. Die leiseste Kritik | |
am Pandemiemanagement der Regierung wurde mit dem Entsenden rhetorischer | |
Kanonenboote beantwortet. | |
Die protestantische Lust an rigoroser Disziplinierung von sich und anderen | |
braucht ein Publikum, und so feierte man mittels Selfie mit entblößtem Arm | |
und Pflaster die eigene moralische Korrektheit. Das modische Äquivalent der | |
neuen Geißelkultur sind ganz in Schwarz gekleidete Hipster, die ihre | |
FFP2-Masken auch bei frischer Brise nachts um zwei tragen, wenn sie ihre | |
Hunde ausführen. | |
## Progressive Mobber*innen | |
Es zieht sich noch ein roter Faden durch das Jahr, der mit „Herrschaft des | |
Mobs“ charakterisiert werden könnte. Denn wer heute gut gelaunt | |
polemisiert, hat schnell eine Meute am Hals, die all jene, welche die meist | |
billig zu habende Meinung des Mobs nicht teilen, als Rechte und Reaktionäre | |
outet und an den Pranger stellt. Unter den progressiven Mobber*innen | |
tummeln sich gern auch mal Leute, die man nie auf einer Demo sah und denen | |
Arbeit an emanzipatorischer Praxis sowie das mühsame Formulieren von Kritik | |
eher lästig zu sein scheint. | |
Ein dritter roter Jahresfaden führt uns last but not least zum Phänomen des | |
rechten Populismus, dessen Siegeszug ins Stocken zu kommen scheint. In | |
Chile gewann eben ein junger Linker die Wahl, der sich die Abwicklung des | |
neoliberalen Projekts auf die Fahne geschrieben hat. Gleichzeitig war zu | |
hören, dass sich die Briten [2][mit ihrer populistischen Brexit-Politik] | |
wirtschaftlich tief ins eigene Fleisch geschnitten haben. | |
Die Abwahl Donald Trumps ist schon ein paar Tage her. Doch noch immer sind | |
die USA damit beschäftigt, [3][den traumatischen Sturm aufs Capitol | |
aufzuarbeiten]. In dieser Woche hörte man von den vielen Nachrichten, die | |
Donald Trump erreichten, nachdem er den Mob dazu aufgestachelt hatte, gegen | |
eine demokratische Wahl zu putschen: Er solle die Massen doch endlich nach | |
Hause schicken, flehten ihn konservative Fox-Moderatoren an. Selbst Donald | |
junior raufte sich die Haare. Das alles juckte den Möchtegerntyrannen | |
nicht. | |
Den Jakobinern unter uns muss rätselhaft erscheinen, dass Trump an seiner | |
nächsten Wahlkampagne arbeiten darf. In der guten alten Zeit hätte die | |
Republik den Mann kurzerhand wegen Hochverrats verurteilt und | |
guillotiniert. Die Jakobiner von heute sollten aber eine humanere Strafe | |
fordern, sagen wir: lebenslange Verbannung auf eine Pazifikinsel, | |
selbstredend ohne Internetzugang. Trump Tower könnte in Zukunft als | |
Obdachlosenasyl genutzt werden. In diesem Sinne: frohes Fest und guten | |
Rutsch! | |
26 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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