# taz.de -- Die Vermessung des Esstisches: Wie man sich hinsetzt, so isst man | |
> Wo findet die Familie an Weihnachten zusammen, wo wird genossen, | |
> getrunken und gestritten? An einer reich gedeckten Tafel. Eine Würdigung. | |
Bild: Ostern oder Weihnachten – Hauptsache, Esstisch! | |
Es ist wie mit dem aufrechten Gang: Wie sich Homo sapiens auf zwei Beinen | |
einrichtete, daran entlang wird gemeinhin die Menschheitsgeschichte | |
erzählt. Und wie hoch der Mensch die Tische aufstellte, an denen er speist, | |
daran lässt sich die Geschichte der Esskultur skizzieren. | |
Anfangs war es nur ein Brett – eine Tafel –, die das Essen ein paar | |
Zentimeter über den Boden erhob. Zu antiken Zeiten dann galt es als schick, | |
sich um das Essen zu legen, nicht nur die alten Römer, auch Ägypter und | |
Griechen stellten ihre Teller auf Kniehöhe ab. Oder auf Tischchen, die sie | |
später unter ihre Liegen schieben konnten. | |
So ging es weiter, der Tisch wurde höher und höher, bis vor gar nicht allzu | |
langer Zeit in Wohnungen Stehtische auftauchten, wie im Imbiss. Das liegt | |
an der um sich greifenden Popularität von Streetfood, dient vor allem aber | |
der Effizienzsteigerung. Essen im Stehen spart einfach Zeit, auch zu Hause. | |
Wird in TV und Spielfilm heutzutage gegessen – das gilt für Sitcoms, aber | |
nicht nur –, dann am offenen Kühlschrank (aus der Eisfach-Perspektive | |
gefilmt), am Küchentresen oder auf dem Sofa. Meist steht in der Kulisse | |
aber auch noch verwaist ein großer Esstisch. Zum bedeutenden Requisit wird | |
er immer nur an Weihnachten oder Thanksgiving, wenn die Komödie ins Drama | |
wechselt – oder umgekehrt. | |
Das bildet die Realität ganz gut ab. Besucht man ein durchschnittliches | |
Möbelhaus, dann sind die interessantesten Küchenlandschaften die, in denen | |
man zwischen den Esssituationen wechseln kann. Der Gipfel an Luxus ist, | |
wenn auch noch ein großer Esstisch dabei ist, je länger und größer, umso | |
lieber, damit Kinder, Kindeskinder und Freunde daran Platz finden mögen. | |
Egal, dass es selten dazu kommt. Und in der Pandemie noch seltener. | |
## Der große Bruder des Kombi | |
Meine These ist: Der Esstisch ist der große Bruder des Kombi. Diese | |
praktische Karosserieform mit besonders viel Laderaum war einst die | |
dreidimensionale Entsprechung von Wunsch und Wirklichkeit von Familie. Im | |
Auto und am Esstisch, da verdichtete sich, was ihre Mitglieder vereint und | |
trennt. | |
Ich fahre heute ungern Auto, und wenn, dann am liebsten einsam. Esstische | |
hingegen müssen groß sein und ich mag, wenn viele daran Platz nehmen. Schon | |
früher konnte der Stress bei Tisch noch so groß sein, oft entspannte das | |
Essen die Situation oder, wenn auch noch Onkel, Tanten und Großeltern daran | |
saßen, konnte man in der Masse der Großfamilie abtauchen. Der VW Passat | |
dagegen war der Ort der Kleinfamilie, da gab es kein Entrinnen von | |
irgendeiner Übellaunigkeit auf den Vorder- oder Rücksitzen, und brannte die | |
Sonne zusätzlich aufs Blechdach, heizte das den Lagerkoller noch an – und | |
die Gummibärchen schmolzen auch. | |
Wenn ich zurückdenke, fällt mir auf: Die Tische meiner Kindheit wuchsen | |
mit, sie waren ausziehbar – und ohne Ecken, also meist oval oder wie der | |
Tisch meiner Eltern rund. Ich fremdelte lange mit dieser Tischform, bis mir | |
aufging, dass die runde Form einen emanzipatorischen, demokratischen Aspekt | |
hat. Der dominante Platz am kurzen Ende fehlt, „der vor Kopf“, wie Oma | |
sagte. | |
Mein Ideal vom Esstisch ist der WG-Tisch – klobig, rechteckig, nicht zum | |
Ausziehen – wie aus dem Wirtshaus. Genau so ein Exemplar habe ich selbst | |
von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft gezogen, ihn am Ende einer | |
Kreuzberger WG vermacht und mich noch jahrelang nach seinem Befinden | |
erkundigt. Es war ein Tisch, an dem immer noch Platz war für einen | |
unangekündigten Besuch, theoretisch wenigstens. | |
## Erst gemeinsam wird das Essen zur Kulturtechnik | |
Es heißt: Wie man sich bettet, so liegt man. Genauso gilt: Wie man sich | |
hinsetzt, so isst man – mit anderen. Denn erst mit weiteren Menschen wird | |
aus dem Essen eine Kulturtechnik, die auch emotional und sozial nährt. Der | |
Tisch bringt Menschen auf Augenhöhe, die im Stehen zueinander hoch- oder | |
runtersehen –, und schafft zugleich angenehme Distanz, weil das Möbel | |
Körperlichkeit verbirgt (ich hasse Glastische) und physische Annäherung | |
verhindert. Man muss sich Platz nehmen und diesen manchmal auch behaupten. | |
Zugleich trennen Servietten, Geschirr, Besteck und Utensilien wie Salz- und | |
Pfefferstreuer auf dem Tisch in deins und meins und unseres. | |
Das ist sozialer Raum, und der schafft Öffentlichkeit, auch im Esszimmer | |
oder in der Küche und im engsten Familien- und Freundeskreis. „Intime | |
Öffentlichkeit“ nennt das der Philosoph Daniel Martin Feige, Professor für | |
Ästhetik an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart. Für ihn ist der | |
Esstisch kein so alltäglicher Gegenstand: „Das gemeinsame Sitzen am Tisch | |
ist eine paradigmatische Praxis in unserer Gesellschaft, in der wir uns mit | |
anderen verständigen können, wer wir sein wollen und was uns mit anderen | |
verbindet“, hat er 2017 in einem Essay geschrieben. Es sei ganz ähnlich der | |
Funktion, die Martin Heidegger dem Tempel in der Antike zuschreibt. | |
Feige will den Esstisch zwar nicht zum kultischen Gegenstand erklären. Aber | |
seine Überlegungen machen deutlich, warum an Weihnachten so vieles stark | |
und oft ritualisiert – kurz bevor die Gans auf den Tisch kommt – im | |
Familienzwist kulminieren kann, nicht nur im Film. Gerade in Familien | |
begegnen sich komplexe und unterschiedliche Bilder vom Ich und Du und Wir – | |
und sie können sich sogar schon über Tischform oder Material trennen. | |
Die verschiedenen Esssituationen in heutigen Küchen entsprechen dem | |
Patchwork an Öffentlichkeiten, wie sie die moderne Familie schafft. Das | |
Minimum ist aber für mich nach wie vor ein Tisch, der so groß ist, dass | |
daran immer Plätze frei bleiben. Denn sie deuten auf das Potenzial, dass | |
ein weiterer Gast noch eine weitere Perspektive haben könnte: auf das | |
Essen, das Gespräch, die gemeinsame Situation. Sie versprechen: Die nächste | |
Öffentlichkeit, die der Tisch stiftet, könnte schon wieder eine ganz andere | |
sein. | |
23 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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