# taz.de -- Stationen eines Umzugs: Ich ziehe ein, also bin ich | |
> Ist alles in die Wohnung getragen, stapeln sich die Kartons. Dann beginnt | |
> erst der echte Umzug. Und ein Provisorium, das nie aufhört. | |
Bild: Am Ende existierte das Zimmer mit den Packkartons fast ein Jahr | |
Eigentlich sollten es nur ein paar Monate werden. Am Ende existierte das | |
Zimmer mit den Packkartons fast ein Jahr. Die Kasten stapelten sich an | |
beiden Längsseiten fast bis zur Decke, um die fünfzig müssen es gewesen | |
sein, ich habe nie nachgezählt. Dazwischen stand, was wir aus unserem | |
Hausstand aussortiert hatten, weil wir es nicht für nötig hielten, einen | |
Platz dafür in unserer Ersatzwohnung zu suchen. | |
Ein paar Sessel, einer der beiden Schreibtische, Bügelbrett und | |
Werkzeugkisten, Leiter und Staubsauger. Wenn ich an Umzug denke, dann kommt | |
mir immer zuerst das Kartonzimmer in den Sinn. | |
Nach neun Monaten rief endlich der Verwalter an, in sechs Wochen könnten | |
wir wieder in die alte Wohnung zurück. Die Schwammsanierung sei | |
abgeschlossen, die zwei großen Wasserschäden, die während der Bauarbeiten | |
entstanden, seien auch behoben. In sechs Wochen käme das Umzugsunternehmen. | |
Wir sagten, wir sind bereit, schon morgen am liebsten, alles sei gepackt. | |
Ich lehnte während des Telefonats an einer Wand aus Kartons. | |
Eine neue Wohnung oder auch die alte, neu sanierte Wohnung zu beziehen, ist | |
immer mit einem Haufen Bildern verbunden, heute oft 3-D-Animationen. Geht | |
man in ein Küchenstudio, spuckt der Computer nach einer halben Stunde | |
360-Grad-Ansichten, die Vogelperspektive auf den Küchentresen, Frontalschau | |
auf den Nass- und Herdbereich aus. Und ein Klick im Netz reicht, um sich | |
Wohn- und Schlafzimmer ganz ähnlich auszumalen, fast jede | |
Einrichtungszeitschrift hat für solche Zwecke ein CAD-Plug-in auf der | |
Website. | |
## Fehl am Platz | |
Der Computer unterstützt aber nur, wonach Menschen schon immer ein | |
Bedürfnis hatten. In den Neunzigern stand ich in einem niedrigen Dachstuhl | |
in Prenzlauer Berg – an den Balken waren noch Wäscheleinen gespannt – und | |
riss vor meinem inneren Auge Wände auf, verlegte Dielen und fragte mich, ob | |
der Architekt die Küche wohl an einem guten Fleck angesiedelt hatte. Das | |
Dach sollte in ein paar Wochen abgehoben und aufgestockt werden. | |
Da, wo ich die steile Stiege zum Speicher hinaufgeklettert war, würde ein | |
Fahrstuhlschacht entstehen. Und als dann die Mauern wirklich standen, | |
nahmen die vier Wände noch konkretere Formen an: Hier würde das Sofa | |
stehen, da die Küchenbank. Gab es eine Steckdose für die Leselampe? Oh | |
Mann, der Elektriker hatte den Kabelaustritt für Deckenlampen an einer | |
Stelle platziert, wo niemand einen Esstisch drunterstellen will. | |
Ich kenne Menschen, die sich noch konkreteren Fantasien hingeben, die schon | |
Vorhänge ausgesucht haben, ein Lichtkonzept, jeder Vase ein Plätzchen | |
gegeben und die Bilder verteilt haben, bevor sie einziehen. Ich betrete | |
manchmal Designer-Hotels oder -Restaurants, die sind so und wahrscheinlich | |
noch weiter [1][bis in Details eingerichtet, an die ich noch nie in meinem | |
Leben gedacht habe.] Auf Fotografien sieht das schön aus, in live aber | |
fremdelt man, fühlt sich fehl am Platz. | |
Neulich erst, da saß ich in einem fast dunklen Lokal, kleine Spots | |
erhellten allein die Tischplatten und die Teller darauf. Sah auf den | |
Bildern, die ich für die Einladung bekam, ziemlich fancy aus. Aber im Lokal | |
erkannte ich, der Designer hatte nicht an die Menschen gedacht, die an den | |
Tischen Platz nehmen wollten. Wir saßen uns gegenüber und konnten unsere | |
Gesichter nur als graue Schemen erkennen. | |
## Packen, Kisten tragen, Einziehen, fertig? | |
Echte Konversation kam auch an den Nachbartischen kaum zustande. Und in | |
Berlin-Mitte stand ich vor einem Jahr vor einer Küche, die genauso aussah | |
wie in einer Einrichtungszeitschrift. Kein Gewürzglas auf dem Tresen, in | |
der Ceranfläche auf dem Herd konnte man sich spiegeln. Ich war zum Essen | |
eingeladen, und der Hausherr erklärte, es gäbe noch die alte Küche, am Ende | |
der Wohnung, die sei praktischer. | |
Es ist schwierig, Appetit zu entwickeln in einer Atmosphäre von Chrom und | |
Glas, das noch nie von einem Tropfen Olivenöl berührt worden ist oder das | |
Hacken eines Messers gehört hat. Ich musste vor einer funktionsfähigen, | |
aber doch potemkinschen Küchenzeile mein Essen einnehmen. | |
Das Gute ist: Nur Menschen mit viel Zeit, viel Geld oder einer wütenden | |
Obsession, nichts dem Zufall überlassen zu können, schaffen es, dass die | |
Bilder, die sie im Kopf haben oder aus einem Buch oder einer Zeitschrift | |
entnommen haben, so exakt Wirklichkeit werden. Die dann Interieurs | |
schaffen, an denen eigentlich kein Platz für Menschen ist. Die anderen | |
treffen, wenn die Umzugskartons in der Wohnung stehen, auf die harte | |
Realität. | |
Jahrelang habe ich, wenn ich mich auf einen Umzug vorbereitete, nur an vier | |
einfache Schritte gedacht: Packen, Möbel und Kisten tragen, Einziehen, | |
fertig. Funktioniert hat das nie. Annähernd nur während der Studentenzeit, | |
als es von WG-Zimmer in WG-Zimmer ging und ich darauf achtete, dass all | |
meine Habseligkeiten auf die Rückfläche eines Kombis passten. Genau einen | |
Umzug habe ich so hinbekommen. Sonst ist noch jede erste Nacht in meiner | |
Erinnerung mit der Matratze auf dem Fußboden verbunden. | |
## Geniale Gehirnwäsche | |
Ist alles in die Wohnung getragen, [2][stapeln sich die Kartons an der | |
Wand,] dann beginnt eigentlich erst der echte Umzug. Und ein Provisorium, | |
von dem ich inzwischen der Ansicht bin, dass es nie aufhört. | |
Typischer Dialog: „Jörn, soll ich dir die Bücher ins Regal stellen?“ „Ja | |
gerne. Sie waren von A bis Z sortiert, die Krimis extra.“ „Boah. Echt | |
jetzt?“ „Nicht schlimm. Ich mach’s die Tage selber.“ | |
Mit den Büchern fängt es aber nur an. Und selbst wenn man meint, alles | |
bedacht zu haben: irgendeine wichtige Steckdose fehlt immer, ein Regal | |
passt doch nicht, obwohl man es genau ausgemessen hat, eine Lampe stellt | |
sich für die Stelle im Flur als viel zu groß heraus. | |
Es gibt diesen berühmten Slogan dieses schwedischen Einrichtungshauses: | |
Wohnst Du noch oder lebst Du schon? Tatsächlich ist er falsch. Eine geniale | |
Gehirnwäsche. Richtigerweise müsste es heißen: Ich ziehe ein, also bin ich. | |
Die Generation Ikea ist mit dem Umzug nie fertig. | |
## Wie Weihnachten | |
Kein Wohnungswechsel war in meiner Erinnerung so angenehm wie der in die | |
Ersatzwohnung. Wir räumten den halben Hausstand in das, was gleich das | |
Kartonzimmer hieß, und fertig. Wochenlang staunten wir, mit wie wenig wir | |
zurechtkamen. Nach ein paar Monaten, als sich auf der Baustelle alles | |
verzögerte, machten wir Witze, die Kartons auszupacken würde wie | |
Weihnachten werden, weil wir langsam vergaßen, aus was der Hausstand | |
bestanden hatte | |
Und dann, als der ersehnte Tag kam, da wir wieder in die alte, nun | |
runderneuerte Wohnung zurückzogen, richteten wir, weil wir es inzwischen so | |
gewöhnt waren, ein Kartonzimmer ein. Es dauerte ein halbes Jahr, aus dem | |
alten ein neues Provisorium zu machen. | |
Das war vor zehn Jahren. Vor ein paar Wochen habe ich noch zwei von den | |
Kartons im Keller gefunden. Gepackt. Ich habe sie nicht aufgemacht, sondern | |
einfach zum Wertstoffhof gebracht. | |
19 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Jörn Kabisch | |
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