# taz.de -- Georg Stefan Troller über sein Leben: „Ich darf nicht verzeihen�… | |
> Der Autor, Journalist und Filmemacher Georg Stefan Troller hat in seinem | |
> Werk die Möglichkeiten des Menschen ausgelotet. Nun ist er hundert | |
> geworden. | |
Bild: Der Autor, Drehbuchautor und Fernsehjournalist Georg Stefan Troller wurde… | |
taz: Herr Troller, Sie haben in Interviews immer wieder gesagt, Sie seien | |
nie Sie selbst gewesen. Was haben Sie versteckt? | |
Georg Stefan Troller: Wahnsinnige Komplexe! Erstens, weil ich so hässlich | |
war als Kind und zweitens, weil ich Jude war. Und weil einen die ganze | |
Umwelt, auch die, die dir freundlich gesinnt war, unbewusst als anders | |
eingestuft hat. Und der Andere ist typisch – was immer das bedeuten sollte. | |
Aber dieses Wort typisch hat mich markiert als Kind. Es bedeutete natürlich | |
typisch jüdisch. Warst du gut im deutschen Aufsatz, aber schlecht im | |
Turnen? So wurde jüdische „Leibfeindlichkeit“ mit dem Wunsch, sich der | |
Mehrheit anzugleichen, zusammengelegt. Du hast dich also als Deutscher | |
fühlen wollen, um mit der Mehrheit mitlaufen zu dürfen. [1][Aber in | |
Wirklichkeit warst du ein „leibfeindlicher“ Jude]. Ja und dann noch die | |
Emigration, die natürlich eine völlige Aufgabe des Selbstwertgefühls | |
bedeutet. Und das über Jahre hinweg. Und die Angst. Man ist ja nicht stolz | |
darauf, dass man Angst hat. | |
Wie lange wollten Sie Deutscher sein? | |
Noch immer. Deutscher Dichter, deutscher Literat, deutscher Filmemacher. | |
Warum es ableugnen? Dieser Drang, natürlich auch zur deutschen Sprache, hat | |
mich ja dahin gebracht, wo ich dann in Gottes Namen gelandet bin. | |
Haben Sie sich schuldig gefühlt, weil Sie Deutscher sein wollten? | |
Auch das. Man ist dem deutschen Schicksal entronnen. Hatte man das Recht, | |
sich abzusetzen? Ach wissen Sie, das sind alles so zu missbilligende | |
Gefühle, zu denen man nicht gerne steht, aber es stimmt schon irgendwie, | |
ja. Stellen Sie sich vor: Irgendwo im Elsass, wir hatten eine ganze Gruppe | |
„grauer Mäuse“, also deutsche Soldatinnen gefangen genommen – Weihnachten | |
44. Und die lagerten dann in einer Scheune auf Stroh und sangen deutsche | |
Weihnachtslieder. Schöne Mädchen, deutsche Weihnachtslieder. Und da ist der | |
Troller, der im Eingang steht und sich das anhört. Und was fühlt der? | |
Und was fühlte er? | |
Das ist gar nicht zu beschreiben. | |
Haben Sie sich später noch mal in eine Deutsche verliebt? | |
Ja. Immer! | |
Immer? | |
Na nicht immer, aber häufig ja. Das war auch wieder ein Stück… ersehnte | |
Wiedergutmachung. Von einer deutschen Frau geliebt zu werden ist ja dann | |
ein Stück… Bekehrung oder so. Man hat sie den Nazis abspenstig gemacht und | |
hat sie dazu gebracht, dich, den Juden, zu lieben. Das ist doch schön. Na | |
ja, die Frau sagte mir dann, eigentlich liebst du mich ja gar nicht, du | |
liebst ja nur deine Rückkehr, die in mir personifiziert ist. Und das wars | |
wohl auch … | |
Haben Sie den Deutschen und den Österreichern verziehen? | |
Oh, das ist kein Wort, das ich verwenden würde. Ich darf nicht verzeihen. | |
19 Mitglieder meiner Familie sind ermordet worden. Was habe ich zu | |
verzeihen? Das ist ja unmöglich. | |
Das dürfen Sie nicht. | |
Nein. Sich abgefunden haben, es hinnehmen, sich sagen, die Jungen können ja | |
nichts dafür. Und so weiter. Ja. Aber es geht nicht ums Verzeihen. Dazu | |
habe ich kein Recht. | |
Hätten Sie gerne verziehen oder das Recht dazu gehabt, zu verzeihen? | |
Verstehen, ja, verzeihen, nein. | |
Es geht heute viel um uralte Unrechtsregime, die jetzt aufgearbeitet | |
werden. Glauben Sie, da muss verziehen werden? Also glauben Sie, die | |
Jahrhunderte Rassismus und Sexismus müssen oder können verziehen werden? | |
Verziehen? Ich weiß nicht genau, was man darunter verstehen soll. Die Leute | |
verzeihen sich selber sehr leicht. Ist damit irgendetwas bewiesen? Nein, | |
das glaube ich eher nicht. Verstehen! Verstehen wäre Voraussetzung für ein | |
echtes Verzeihen. Und wie viele Leute verstehen schon etwas? | |
Wie können Journalist:innen dazu beitragen, dass sich die Menschen | |
gegenseitig verstehen? | |
Na ja, ich habe es versucht … auf meine Art. Von den [2][Hunderten von | |
Leuten, mit denen ich Interviews gemacht habe], stimmen ja nicht zwei | |
miteinander überein. Jeder hat genau seine Überzeugung gehabt, sein Leben | |
gelebt, sich selbst so und so eingeschätzt, immer anders. Und meine Aufgabe | |
war, das nicht zu verdammen, sondern wertzuschätzen. Es zu begreifen und | |
als menschliche Möglichkeit dem Publikum rüberzubringen. Das war mein | |
Ansatz: Die Leute sollten sich [3][am Anfang des Films] sagen: Oh Gott, was | |
bringt der Troller hier wieder für Typen heran. Und am Ende, 30 Minuten | |
später: Aber … das bin ja ich! | |
Und ist das die Aufgabe von gutem Journalismus? | |
Der Art, wie ich ihn begreife. Ich bin ja kein politischer Journalist. Aber | |
ja, dass die Leute das, was sie vorher als fremd oder feindlich ablehnen, | |
am Ende in sich selber entdecken. | |
Muss man als Journalist versuchen, gerade die Leute den Menschen | |
nahezubringen, die man eigentlich am meisten verabscheut? | |
Absolut, absolut. Wenn du sie nicht verstehst, kannst du sie auch nicht | |
fertigmachen. | |
Aber Sie haben fast keine Nazis interviewt. | |
Abrechnungen haben mich nicht interessiert. | |
Die Gesellschaft, heißt es manchmal, bewege sich immer weiter auseinander. | |
Gerade wird darüber am Fall der Menschen [4][gestritten], die sich nicht | |
gegen Covid-19 impfen lassen wollen. Wäre es Aufgabe des Journalismus, auch | |
diese Leute verständlich zu machen? | |
Absolut! Übrigens, hier in Frankreich ist eine rechtsextreme Welle, die | |
alles Deutsche in den Schatten stellt. Die haben hier jetzt über 30 Prozent | |
extreme Rechte mit [5][Le Pen] und [6][Zemmour]. Und der ist noch dazu ein | |
Jude. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt wieder in die 30er Jahre | |
eintreten. Einen Typ wie Zemmour hat es bis vor einem Jahr nicht gegeben. | |
Das ist völlig neu. Erzreaktionär, ein französischer Nazi, Jude, hässlich | |
bis dahinaus und hat auf Anhieb 15 Prozent der Bevölkerung hinter sich. | |
Würden Sie ihn gerne interviewen? | |
Sehr gerne, ja! Aber der würde mich in Grund und Boden reden. Der ist zu | |
clever, der ist ja Schriftsteller. | |
Was würden Sie ihn fragen? | |
Ja… was will der Mann zutiefst? Schön werden, weil er sich als so hässlich | |
empfindet. Durch Wort und politische Tat sich schön machen. Ja, das spüre | |
ich hinter dieser Figur. Das ist interessant und es ist unsere Aufgabe, das | |
zu zeigen: die ursächlichsten Ursachen, warum jemand so ist, wie er ist. | |
Das ist doch faszinierend. | |
Wussten Sie in Ihren Interviews immer schon vorher, worauf Sie | |
hinauswollten? | |
Nein. Naja, sagen wir mal, ich habe eine Vorstellung. Aber ich lasse mich | |
überzeugen, dass diese Vorstellung ein Unsinn war und dass dahinter etwas | |
ganz anderes steckt. Und da bin ich auch zufrieden damit, wenn mir jemand | |
das bringt. Aber ja, meistens habe ich eine Vorstellung. Was die | |
eigentlichen Motivationen des Menschen sind. | |
Gibt es für Sie objektiven Journalismus? | |
Nein. Objektive Wahrheit gibt es nirgendwo. Eine Approximation gibt es und | |
eine persönliche, an die man selber glaubt, das gibt es ja. Aber ist sie | |
die objektive Wahrheit? Das weiß ich nicht. | |
Muss man als Journalist auch erfinden? | |
Ja! Gut erfunden ist mindestens so überzeugend wie schlecht gelebt. Ich | |
habe in all meinen Büchern immer fiktive Interviews – manchmal als solche | |
deklariert, manchmal nicht. Und das gehört auch dazu. Das Interview ist | |
eine Erzählform wie die Novelle und kann als solche als eine andere Art von | |
Fiktion eingestuft werden. | |
Aber ist es nicht unsere Aufgabe, die Realität wiederzugeben, zu sagen, was | |
ist? | |
Das stellt sich dabei möglicherweise eher heraus. Die eigentlichen | |
Wahrheiten sind ja nicht als Daten verfügbar, sondern sind undeutlich, | |
verwirrend, unerkannt oder halb erkannt usw. Wer weiß denn schon wirklich | |
100-prozentig die Wahrheit über sich selber? Nur Schwindler behaupten das … | |
oder Psychoanalytiker. | |
Glauben Sie, die subjektive Berichterstattung, die Sie gemacht haben, war | |
letztlich ehrlicher als die vermeintlich objektive, die gefordert war? | |
Es muss beides da sein. Aber ich stehe für [7][meine Art des Filmemachens]. | |
Es kommen halt andere Wahrheiten dabei heraus. Aber es sind ja auch | |
Wahrheiten, nur nicht Meinungen. Es ist eben nicht Meinungsjournalismus. | |
Das hat mich nie interessiert, was einer meint, ist eigentlich wurscht. | |
Erst einmal muss ich wissen, warum er das meint, warum er diese | |
Überzeugungen hat, woher die kommen. | |
Wenn Sie wirklich etwas verstanden haben, wenn Sie einen Menschen voll und | |
ganz verstehen, dann geht damit einher, dass Sie einem Menschen verzeihen? | |
Glauben Sie das? Es gibt einen berühmten französischen Satz dazu. „Tout | |
comprendre c’est tout pardonner“, lautet er. Alles verstehen heißt alles | |
verzeihen. Ich bin nicht der Auffassung, nein. Ich hatte als Nietzscheaner | |
immer sehr viel Verständnis für die Nazis. Ja, was da dahinter war, konnte | |
ich nachvollziehen. Aber verzeihen … Nein. Das Misstrauen gegenüber dem | |
menschlichen Drang, sich einer Ideologie anheimzugeben und zu glauben, dass | |
man auf diese Weise ein erfülltes Leben führt. Und darum geht es letztlich. | |
Ideologieglauben heißt, sich einzureden, man lebt ein richtiges Leben, und | |
das kann ich nicht nachvollziehen und auch nicht verzeihen. | |
Also haben Sie die Nazis auch nicht verstanden? | |
Doch, verstanden habe ich es. Es kommt ja jetzt wieder auf uns zu. Die | |
Sehnsucht nach Erlösung … von was? Ein Übermensch wie [8][Trump muss uns in | |
die Erlösung leiten]? Was heißt denn das? Was wollen die Leute? Sie sind | |
irgendwie unzufrieden mit dem modernen Leben. Das System kann sie nicht | |
erfüllen, da fehlt etwas und das, was fehlt, ist der Glaube. Es ist ja | |
heute alles auf Intellekt abgestellt. Der Glaube ist jenseits dessen. Indem | |
man glaubte, konnte man sich als ein erfüllter Mensch empfinden, der | |
richtig lebt und so weiter. Das ist uns mehr oder weniger überall verloren | |
gegangen und ersetzt worden durch materielle Güter, durch Ehrgeiz, durch | |
Geschäft, durch Geld, durch Sport, Sexualität, was immer einen heute | |
befriedigt. Aber irgendwo bleibt ein tiefer Drang nach Glaube. | |
Und woran glauben Sie? | |
Ich bin gottgläubig und ich glaube, dass der Mensch – obwohl es manchmal so | |
aussieht – nicht verloren ist, dass er sich immer wieder finden wird und | |
auf seinem Weg voranschreiten. | |
10 Dec 2021 | |
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