# taz.de -- Krieg im Jemen: Vom Zufluchtsort zur Riesenstadt | |
> Im Jemen sind Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht. Vor | |
> allem die Stadt Marib ist derzeit umkämpft. | |
Bild: Verteidigen die Stadt Marib gegen eine Offensive der Huthis: Kämpfer sü… | |
KAIRO taz | Für europäische Verhältnisse, wo einige tausend Flüchtlinge an | |
der belarussischen Grenze zum EU-Land Polen zu einem Aufschrei führen, ist | |
es eine Dimension, die kaum vorstellbar ist: Die Stadt Marib im Jemen ist | |
von einst wenigen hunderttausend Einwohnern zu einer Millionenstadt | |
angewachsen. Einige Schätzungen gehen gar von fast drei Millionen Menschen | |
aus, die sich dorthin geflüchtet haben. In dem seit sieben Jahren | |
andauernden jemenitischen Bürgerkrieg hat sich die Stadt zur wichtigsten | |
Zufluchtsstätte der im Land Vertriebenen entwickelt. | |
Marib ist die letzte Bastion der jemenitischen Regierung im Nordes des | |
Landes, nachdem diese schon 2014 die Hauptstadt Sanaa und weite Teile des | |
Staatsgebiets an die vom Iran unterstützten Huthis verloren hatte. Seit | |
Monaten nun versuchen die Huthis, auch Marib einzunehmen, denn die Stadt | |
ist strategisch wichtig. Eine Schnellstraße ins Nachbarland Saudi-Arabien | |
führt durch Marib. Außerdem gibt es in der Umgebung Gasvorkommen. | |
War [1][Marib bis Anfang des Jahres noch ein Ruhepol im jemenitischen | |
Bürgerkrieg] und daher als Fluchtort beliebt, ist die Stadt inzwischen der | |
am heftigsten umkämpfte Ort in diesem Krieg. Die Huthi-Rebellen versuchen | |
derzeit, zunächst das Umland von Marib zu erobern. Die Stadt selbst | |
kontrollieren noch die jemenitischen Regierungstruppen, die von | |
Saudi-Arabien unterstützt werden. Bisher ist es vor allem die saudische | |
Luftwaffe, die die Rebellen mit ihrem Bombardement noch abhält, sich bis an | |
den Stadtrand vorzukämpfen. | |
Allein seit Beginn dieser Woche hat Saudi-Arabien nach eigenen Angaben fast | |
fünfzig Angriffe gegen Huthi-Stellungen geflogen. Während die | |
Huthi-Propaganda behauptet, die Eroberung Maribs sei eine Frage der Zeit, | |
schwören die Regierungstruppen und die Saudis, den Ort bis zum letzten | |
Blutstropfen zu verteidigen. | |
## 45.000 Vertriebene seit September | |
Mit der Verschärfung der Kämpfe haben sich in den letzten Wochen noch mehr | |
Menschen in Richtung Marib aufgemacht, um sich vor der vorrückenden Front | |
in Sicherheit zu bringen. „Seit September sind 45.000 zusätzliche | |
Vertriebene in der Stadt angekommen“, schildert Christa Rottensteiner im | |
Gespräch mit der taz die dramatische Lage am Telefon. | |
Sie leitet von der jemenitischen Küstenstadt Aden aus die Internationale | |
Organisation für Migration (IOM) im Jemen, die größte humanitäre | |
Organisation, die in Marib aktiv ist. „Die Zahl der Menschen, die jeden Tag | |
in den 130 Lagern der Vertriebenen rund um die Stadt ankommen, ist um ein | |
Zehnfaches gestiegen“, sagt Rottensteiner, die vor wenigen Tagen von Marib | |
nach Aden zurückgekehrt ist. | |
Für die humanitären Hilfsorganisationen im Jemen ist das eine riesige | |
Herausforderung. „Wir bringen Nahrungsmittel, wir verteilen Zelte und | |
Decken. Wir kümmern uns um die medizinische Versorgung“, sagt die | |
IOM-Leiterin, „aber wir können nur einem Bruchteil derer helfen, denen es | |
am schlimmsten geht. Unser großes Problem ist, dass wir nicht genug Geld | |
und Personal haben.“ Ein weiteres Problem sei der Zugang zu den Lagern. | |
„Die Menschen, die uns brauchen, leben oft zu nahe an der Front, und die | |
Lager ändern sich auch ständig. Ständig tauchen neue Zelte auf und es ist | |
sehr schwierig, damit Schritt zu halten“, beschreibt Rottensteiner die | |
Lage. | |
## Es mangelt an Decken | |
Doch es sind nicht nur die Zahlen und logistische Probleme, die | |
Rottensteiner zu schaffen machen, sondern auch die Einzelschicksale. „Was | |
mich persönlich getroffen hat, waren viele Gespräche mit Frauen, zum | |
Beispiel mit einer jungen Witwe, die nun schon zum fünften Mal mit einem | |
Minimum an Habseligkeiten fliehen musste“, erzählt Rottensteiner. „Ihre | |
vier Kinder können nicht in die Schule gehen und sie leben in einem Zelt | |
mit vierzig Leuten, ohne Wasserversorgung.“ Nun komme zudem der Winter, und | |
es mangele an Decken. | |
Nicht nur die Wasserversorgung in den Lagern, die in der Wüste um die Stadt | |
entstanden sind, ist ein logistischer Albtraum. [2][Zehn von hundert | |
Kindern in Marib sind unterernährt.] Das Problem sei nicht, dass es keine | |
Nahrungsmittel gäbe, erklärt die IOM-Chefin. „Das Problem ist die | |
Inflation. Seit Beginn des Jahres haben sich die Preise verdoppelt. Auch | |
wenn es noch Essen gibt, können sich das die meisten Menschen nicht mehr | |
leisten.“ | |
In Europa könne man sich die Lage im Jemen wahrscheinlich kaum vorstellen, | |
glaubt die Österreicherin Rottensteiner. Aber schon die Zahlen zeigten, wie | |
schrecklich dieser Krieg ist und wie dramatisch die Lage: „Zwanzig | |
Millionen Menschen im Jemen sind abhängig von humanitärer Hilfe, das sind | |
zwei Drittel der Bevölkerung. Viele Millionen Menschen sind intern | |
vertrieben“, fasst Rottensteiner zusammen. | |
Die Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit in den Lagern rund um Marib | |
seien besonders schwer mit anzusehen. Alle wüssten: Solange der Krieg | |
weitergeht, gibt es keinerlei positive Aussichten. Für Rottensteiner gibt | |
es dabei ein persönliches Schreckensdrehbuch: „Wenn der Krieg noch näher an | |
die Stadt rückt, könnten wir wirklich eine Katastrophe erleben, wenn dann | |
eine halbe Million oder ganze Million Menschen sich auf die Flucht macht“, | |
sagt sie. „Das wäre für uns humanitäre Organisationen das schlimmste | |
Szenario.“ | |
## Vertreibungen auch bei Hudaida | |
Doch nicht nur in Marib, auch im Westen des Landes werden Menschen | |
tausendfach in die Flucht geschlagen. Kämpfe zwischen den Regierungstruppen | |
und den Huthi-Rebellen hätten im vergangenen Monat mehr als 25.000 Menschen | |
aus der Umgebung der Hafenstadt Hudaida vertrieben. Wie die Vereinten | |
Nationen in der Nacht auf Mittwoch mitteilten, flohen etwa drei Fünftel der | |
Zivilisten in die von der Regierung gehaltenen Gebiete, der Rest zu den | |
Rebellen. | |
Nach Angaben des Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der | |
UN (OCHA) flammten die Kämpfe in Hudaida auf, als die Rebellen in Gebiete | |
vordrangen, die von den Regierungstruppen verlassen worden waren. Daraufhin | |
starteten die Regierungstruppen einen Gegenangriff. Rund 70 Prozent der | |
Importe des Landes, darunter auch Hilfslieferungen, werden in Hudaida | |
abgewickelt. Die jüngsten Kämpfe in Hudaida waren die schwersten seit einem | |
von der UN vermittelten Waffenstillstand im Dezember 2018, der allerdings | |
nie gänzlich umgesetzt wurde. | |
Der Krieg im Jemen war 2014 ausgebrochen, als die Huthis weite Teile des | |
Landes, darunter die Hauptstadt, überrannten. Seit 2015 versucht eine von | |
Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition, die Huthis mit Luftangriffen | |
zurückzudrängen und die Regierung wiederherzustellen. [3][Beobachter werfen | |
beiden Seiten schwere Verstöße gegen die Menschenrechte vor.] | |
10 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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