# taz.de -- Grüne brauchen neuen Landesvorstand: Noch mehr zu wählen | |
> Die Grünen bestimmen am Sonntag eine neue Doppelspitze, denn Nina Stahr | |
> und Werner Graf hören auf. Für die zwei Plätze gibt es drei Bewerbungen. | |
Bild: Nina Stahr (l.) und Werner Graf (r.) machen am Sonntag Platz für neue Gr… | |
BERLIN taz | Nach der Wahl ist vor der Wahl. Jedenfalls für Susanne | |
Mertens. Die hat am Mittwoch mit ihren 13 Grünen-Kolleginnen im | |
Zehlendorfer Bezirksparlament sowie SPD und FDP erstmals eine Grüne zur | |
Bürgermeisterin im Südwesten Berlins gewählt. Es könnte eine ihrer letzten | |
Handlungen als dortige Fraktionsvorsitzende sein. Denn vier Tage später | |
steht Mertens selbst zur Wahl für einen Full-Time-Job: Sie tritt beim | |
Grünen-Landesparteitag am Sonntag gegen Anja Engelmohr, bisher Beisitzerin | |
im Parteivorstand, für einen Platz in der neuen Berliner Doppelspitze an. | |
Gesetzt für den zweiten Platz gilt der Neuköllner Kreisvorsitzende Philmon | |
Ghirmai – er wäre in der 43-jährigen Geschichte der Berliner Grünen der | |
erste nicht-weiße Landeschef. | |
Die Neubesetzung der Parteispitze ist ein Nebeneffekt der Wahlen zum | |
Bundestag und zum Abgeordnetenhaus am 26. September. Denn dabei gewannen | |
die bisherigen Landesvorsitzenden Nina Stahr und Werner Graf, eigentlich | |
bis Ende 2022 gewählt, Parlamentssitze – Stahr im Bundestag, Graf im | |
Abgeordnetenhaus. Beides zusammen geht aber [1][laut Grünen-Satzung] nicht: | |
Die sieht die Trennung von Amt und Mandat vor. Andere Parteien haben diese | |
Regel nicht: Dort dienen die Parlamentsmandate inoffiziell der finanziellen | |
Absicherung der ehrenamtlich für die Partei arbeitenden Vorsitzenden. Die | |
Grünen hingegen bezahlen ihre Chefinnen und Chefs. | |
Während aber etwa die Nachfolge an der Spitze der Bundes-CDU über Wochen | |
bis zur gegenwärtigen Mitgliederbefragung ein großes öffentliches Thema | |
war, steht die Neuwahl bei den Grünen zumindest außerhalb der Partei im | |
Schatten anderer Ereignisse: dem Aushandeln des Koalitionsvertrags, der | |
Besetzung der drei Senatsposten und der gleichfalls am Sonntag beim | |
Parteitag anstehenden Abstimmung über [2][das rot-grün-rote Vertragswerk]. | |
Die hat auch auf der Tagesordnung Vorrang vor der Vorstandswahl – was | |
allerdings logisch ist, weil sich an die Wahl der Parteispitze noch fünf | |
Wahlen zu weiteren Parteigremien anschließen. | |
Die Situation beim Parteitag am Sonntag im Neuköllner Hotel Estrel ist | |
dabei deutlich anders als Ende 2016, als Stahr und Graf – ebenfalls nach | |
Zustimmung zum Koalitionsvertrag – ins Amt kamen. Nicht nur, weil die | |
Delegierten damals gemeinsam im Saal des Tagungswerk Jerusalemkirche in | |
Kreuzberg saßen und nicht wie jetzt coronabedingt zuhause vor dem Computer. | |
Sondern auch, weil es damals keine Gegenkandidaturen gab. Diesmal aber | |
kandidieren sowohl Mertens, in Zehlendorf nicht nur Fraktions-, sondern | |
zudem Kreisvorsitzende, als auch Engelmohr, die mit Stahr und Graf 2016 in | |
den Landesvorstand kam, für jenen Platz in der Doppelspitze, der bei den | |
Grünen für Frauen reserviert ist. | |
Die Unterlegene könnte sich theoretisch dann im Wettstreit mit Ghirmai auch | |
für den zweiten Platz bewerben, der für Männern offen, ihnen aber nicht | |
vorbehalten ist. Das ist jedoch nicht zu erwarten: Die Grünen hatten sich | |
im Sommer 2020 vom türkeistämmigen früheren Parlamentarier Özcan Mutlu | |
anhören müssen, sie seien [3][„Bündnis90/Die Weißen“], weil auf die | |
vorderen Plätzen der Bundestagskandidatenliste niemand mit | |
Migrationshintergrund kam. Ghirmais Wahl würde ein deutlich anderes Signal | |
aussenden und die Entwicklung der neuen Fraktion im Landesparlament | |
verstärken, der seit der Wahl mehr Mitglieder mit Migrationshintergrund | |
angehören. | |
Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Mertens Antwort auf die Frage der | |
taz nach der Rolle des Vorstands neben mächtiger gewordenen | |
Senatsmitgliedern und der Führung einer Fraktion, die ebenfalls so groß ist | |
wie noch nie: Sie sehe ihre Aufgabe darin, „sowohl gemeinsam mit dem | |
Covorsitzenden (also nicht: mit der Co-Vorsitzenden, d. taz) die Partei | |
einig zu führen als auch konstruktiv die Arbeit der Regierung und der | |
Fraktion zu begleiten.“ Inwiefern es eine Rolle spielt, dass auch die | |
Noch-Parteichefin Stahr aus Zehlendorf kommt und dort zuvor wie sie selbst | |
Fraktionsvorsitzende war und ob die sie zur Nachfolge-Bewerbung ermunterte, | |
lässt Mertens offen. Auch Stahrs Vor-Vorgängerin war Fraktonschefin in | |
Zehlendorf. | |
Mertens und ihre Gegenkandidatin Engelmohr haben unterschiedliche | |
Schwerpunkte. Die Politologin Engelmohr, geboren in Kassel und seit 1994 | |
bei den Grünen, engagiert sich seit langem in der Klima- und | |
Energiepolitik, war unter anderem Referentin des Staatssekretärs in der | |
auch für Energie zuständigen Senatsverwaltung für Wirtschaft. Derzeit ist | |
sie für die Berliner Stadtwerke tätig, die sich vor allem auf grünen Druck | |
hin stark dem Klimaschutz verschrieben haben. „Die wichtigste Grundlage für | |
unser soziales und wirtschaftliches Wohlergehen bleibt für mich eine | |
gesunde Umwelt“, hat Engelmohr in ihrer Bewerbung für den Parteitag | |
geschrieben. | |
Mertens, geborene Münchnerin, was noch zu hören ist, erst Bankkaufrau, dann | |
als Betriebswirtin im Bereich Finanzen tätig und seit 2007 bei den Grünen, | |
präsentiert sich in ihrer Bewerbung eher als Generalistin. Sie verweist | |
darauf, dass ihr Kreisverband im Bezirksparlament, wo sie bislang den | |
Schulausschuss leitete, zur führenden Kraft der gerade vereinbarten | |
Ampel-Koalition geworden ist. Grüne Politik definiert sie selbst so: | |
„Anpackend, lösungsorientiert und im Dialog mit der Gesellschaft.“ | |
Ghirmai, in Tübingen geboren, promovierter Historiker und im | |
Abgeordnetenhaus wissenschaftlicher Mitarbeiter des Parteilinken und | |
designierten Senators Daniel Wesener, geht in seiner Bewerbung eingangs | |
vorrangig auf marginalisierte Gruppen und die Situation schwarzer Menschen | |
ein. Dieser thematische Aufbau des Bewerbungsschreibens sei aber nicht | |
gleichbedeutend mit einer Gewichtung der Politikfelder, antwortete Ghirmai | |
auf eine entsprechende taz-Frage: „Im Gegenteil: Ich habe mich in den | |
vergangenen Jahren intensiv in allen genannten Bereichen engagiert.“ In der | |
Gesellschaftspolitik sei er insbesondere auf Landesebene, bei der | |
Verkehrswende und Mietenpolitik auf Bezirksebene eingebunden gewesen. | |
Glaubt man führenden Kreisen, läuft die Wahl auf das Duo Mertens-Ghirmai | |
hinaus. Das entspräche der klassischen Flügelarithmetik der Partei: ein | |
Posten für das neben Kreuzberg vor allem in Neukölln dominierende linke | |
Lager, der zweite für die Realos in Zehlendorf, die 2006 für die erste | |
schwarz-grüne Koalition auf Bezirksebene sorgten. | |
Die Wahl in Zehlendorf am Mittwoch – coronabedingt nicht im Rathaus, | |
sondern in der luftigeren Paulus-Kirche gegenüber, bringt Mertens | |
jedenfalls reibungslos hinter sich: Die Ampel-Fraktionen wählen wie geplant | |
ihre Parteifreundin Maren Schellenberg zur Bezirksbürgermeisterin. Auch | |
Sebastian Czaja ist in der Kirche, hier mal nicht als liberaler | |
Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, sondern als Kreisvorsitzender des | |
Grünen-Partners FDP, der sich merklich gut mit Mertens versteht. | |
Engelmohr wiederum hält das Rennen nicht für vorentschieden: Über die | |
Bewerbungen entscheide der Parteitag. „Ich blicke weder auf Unterschiede | |
noch auf Prognosen“, sagt sie der taz, „der Landesverband kennt mich als | |
aktuelles Vorstands- und Parteimitglied und Mitgründerin der Grünen Jugend | |
gut – ich bin guter Dinge.“ | |
9 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://gruene.berlin/fileadmin/BE/lv_berlin/Satzung_Gruene_Berlin_-_10_202… | |
[2] https://gruene.berlin/wahl-2021/koalitionsvertrag#c3650 | |
[3] /Gruenen-Politiker-will-in-den-Bundestag/!5704301 | |
## AUTOREN | |
Stefan Alberti | |
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