# taz.de -- Kulturort Zentraler Busbahnhof Tel Aviv: Behausung der Unbehausten | |
> Was wird aus dem Zentralen Busbahnhof in Tel Aviv? Seit Jahren beherbergt | |
> er auch bedeutende Alternativ-Kulturorte. Sein Abriss wäre ihr Ende. | |
Bild: Tamar Lehman spielt Akkordeon im Kulturzentrum Yung Jiddish im ZOB von Te… | |
Die Schließung wäre kein großer Verlust, könnte man meinen, wenn man seinen | |
Fuß in den Zentralen Busbahnhof im ärmlichen Süden [1][Tel Avivs] setzt. In | |
dieses siebenstöckige Monstrum aus Beton fällt kaum Licht und der | |
Sauerstoffgehalt ist gering. Zudem ist es schwierig, sich in dem Labyrinth | |
auf einer Fläche von 230.000 Quadratmetern zurechtzufinden. | |
In den vielen dunklen Gängen und Betonrampen, zwischen 29 Rolltreppen und | |
13 Aufzügen, rollen im Fünfminutentakt Busse über die Auffahrrampen hoch in | |
den sechsten und siebten Stock. Am 5. Dezember soll der Busbahnhof | |
dichtgemacht werden, so hat es die Tel Aviver Stadtverwaltung verkündet, | |
Grund seien fehlende Brandschutzlizenzen. | |
Doch in den Untiefen des Gebäudes haben sich kulturelle Nischenprojekte ihr | |
Zuhause erschaffen, von denen jedes einzelne ein Kaninchenloch in eine | |
andere Welt ist. Sie könnten für immer verloren gehen. | |
## Am Ende des langen Flurs | |
Dorit Nitai Naman sitzt mit ihren schulterlangen grauschwarzen Haaren in | |
den Büroräumen des Karov-Theaters, versteckt hinter einer blau gestrichenen | |
Eisentür am Ende eines langen Flurs im fünften Stock. „Niemals“, habe sie | |
gerufen, als ihr Vater, der prominente Schauspieler Niko Nitai, ihr vor | |
achtzehn Jahren vorschlug, mit ihrem Theater hierher zu ziehen. | |
Ihr Vater hatte eine Vision: Dem brutalistischen Gebäude seinen Schrecken | |
zu nehmen und etwas Gutes daraus zu machen. Und Naman ließ sich überzeugen. | |
Seitdem ist das Karov-Theater zu einer Institution geworden. Karov heißt | |
übersetzt „In der Nähe“. Der Name ist Programm. Nitai Naman hat dort | |
gemeinsam mit ihrem 2020 verstorbenen Vater professionelles | |
Qualitätstheater aufgebaut und einen Treffpunkt für Anwohner:innen. | |
Kinder aus den umliegenden Vierteln, deren Eltern aus Äthiopien und Eritrea | |
geflohen sind, erhalten hier die Möglichkeit, sich auszudrücken. Gefährdete | |
Jugendliche aus der Nachbarschaft erlernen Bühnenberufe und nehmen an | |
Empowerment-Workshops teil. „Es passiert so viel Gutes hier“, sagt die | |
57-jährige Theaterdirektorin und bricht in Tränen aus: „Ich weiß nicht, ob | |
wir das anderswo fortsetzen können.“ | |
## Aus den Medien erfahren | |
Von der geplanten Schließung hat Nitai Naman erst aus den Medien erfahren. | |
Niemand hat sie vorab informiert, sie hat keine schriftliche Kündigung | |
erhalten. Wie ihr ergeht es vielen, die ein Atelier oder einen kulturellen | |
Ort betreiben. | |
Die Umgehensweise bei der Abwicklung des Betonkastens ist ähnlich kafkaesk | |
wie die Anmutung des Gebäudes. Zur Verwaltung der Central Bus Station ist | |
kaum durchzudringen. Ein Sicherheitsangestellter sagt, soweit er weiß, | |
sollen zuerst die Läden geschlossen werden. Busse werden noch bis 2023 von | |
hier abfahren. Andere behaupten das Gegenteil. Die Stadtverwaltung | |
beantwortet Anfragen der taz nicht. | |
Auch die Eigentümer, die Nitsba-Immobilien-Gruppe, weigern sich, Auskunft | |
zu geben. Die Geschichte des Unortes begann Mitte der 1960er, dem Zeitgeist | |
entsprechend wurde der Zentrale Omnibusbahnhof damals als riesiges | |
Mehrzweckgebäude konzipiert. Doch die beauftragte Baufirma ging während der | |
Wirtschaftskrise nach dem Jom-Kippur-Krieg in Konkurs. | |
## Veraltetes Verkehrskonzept | |
Eröffnet wurde der ZOB erst dreißig Jahre nach seiner Konzeption, 1993, mit | |
einem denkwürdig veralteten Verkehrskonzept. 5.500 Busse schieben sich | |
täglich durch die engen Straßen im Viertel Neve Shaanan zum Betonriesen – | |
eine enorme Lärm- und Umweltbelastung für Anwohner*innen. | |
Sein Ruf ist katastrophal, Drogenumschlagplatz soll er sein, Hort von | |
Prostitution. Dementsprechend schwer ist es auch, Menschen dazu zu bringen, | |
zu einer Aufführung des Karov-Theaters zu kommen – vor allem diejenigen aus | |
dem Zentrum und Norden Tel Avivs und aus anderen Regionen. | |
„Viele Menschen haben Angst hierherzukommen“, erzählt Nitai Naman, dann | |
weist sie auf die Räumlichkeiten um sie herum, auf den Theatersaal und das | |
Foyer mit der großen Bibliothek, auf die schweren Samtvorhänge und die | |
Bilder von vergangenen Theateraufführungen an der Wand: „Wenn sie uns erst | |
einmal entdeckt haben, dann kehren sie immer wieder zurück.“ | |
Diese Erfahrung machte auch Yoram Karmi. Vor fünf Jahren ist der Tänzer | |
direkt neben dem Karov-Theater auf einen leerstehenden Supermarkt gestoßen, | |
hat Spinnweben und Bretterhaufen beseitigt und gleich einen Spielort für | |
die frisch gegründete Fresco Dance Company eröffnet. Auf 800 Quadratmetern | |
ohne Fenster finden dort seitdem professionelle Tanzperformances statt. | |
Zugleich sind enge Bande zur Nachbarschaft gewachsen. Wenn es regnet und | |
die Straße zum Tanzen nicht zur Verfügung steht, klopfen ehemalige | |
Workshopteilnehmer*innen, Kinder eritreischer Eltern aus den | |
umliegenden Straßen, an die Eingangstür aus Glas und finden Unterschlupf | |
zum Proben in einem freistehenden Studio. Der Zentrale Busbahnhof bietet | |
Behausung innerhalb des Unbehausten. | |
Philippinische Christ*innen, in Israel zumeist prekäre Careworker, beten | |
mit Keyboard und E-Gitarre zwischen ausrangierten Karussellen und | |
verstaubten Bretterwänden zu Gott. Anfang Dezember bauen sie einen Stock | |
weiter unten ihren kleinen Weihnachtsmarkt auf. | |
Im alternativen jiddischen Buchmuseum und Kulturzentrum Yung Yidish hält | |
Gründer Mendy Cahan mit Konzerten, Lesungen, Arak und Zigaretten jiddische | |
Sprachtraditionen wach – es ist eine in der israelischen Gesellschaft | |
zumindest vernachlässigte, mitunter auch verachtete Ausdrucksform. Das | |
Fanzine-Festival bringt seit zehn Jahren in den Fluren die [2][Subkulturen | |
des Landes] zusammen: [3][Punks] und politische Aktivist*innen, | |
Künstler*innen und Buchliebhaber*innen. | |
## Schmales Fenster mit Tageslicht | |
Auch Gili Godiano verbringt viel Zeit im ZOB. Die freischaffende | |
Bühnenbildnerin sortiert in ihrem Atelier im fünften Stock die Stränge | |
einer Puppe. Ihre Brille ist am Nasenbügel mit einem Tesastreifen geklebt. | |
Sie hat den seltenen Luxus eines schmalen Fensters, das, weit oben | |
angebracht, ein wenig Tageslicht in den Raum fallen lässt. „Die | |
Arbeitsbedingungen sind alles andere als ideal“, sagt Godiano und zeigt auf | |
den Fußboden. „Wenn es regnet, bilden sich hier kleine Pfützen. Anrufe | |
bringen kaum Abhilfe.“ Für gewöhnlich kommt nach einigen Tagen jemand | |
vorbei und macht es weg. | |
So wie alle, die die Central Bus Station verlassen müssen, geht sie davon | |
aus, dass Nitsba das Gebäude mit Absicht verfallen lässt und sich auch | |
nicht um die Brandschutzbestimmungen kümmert. Wenn das Gebäude abgerissen | |
werden muss, können sie dort Hochhäuser bauen – angesichts der gigantischen | |
Immobilienpreise in Tel Aviv eine Goldgrube. | |
Zugleich wird sich die Abwicklung wohl über einen langen Zeitraum | |
hinziehen. „Wie soll man dieses Ding abreißen?“, lacht Godiano und | |
schüttelt in Gedanken daran den Kopf: Der siebenstöckige Betonriese | |
beherbergt neben den Bussen außerdem einen Atombunker für 16.000 Menschen. | |
## Astronomische Mietpreise | |
Ganz vorstellbar ist noch nicht, dass der ZOB am kommenden Sonntag für | |
immer schließt. Das Karov-Theater und die Fresco Dance Company haben längst | |
die kommende Saison geplant. Das Yung Yidish muss ein neues Zuhause für | |
Zehntausende jiddische Bücher finden. Und für alle gilt: Angesichts der | |
hohen Mieten ist es quasi unmöglich, auch nur annähernd vergleichbare | |
Räumlichkeiten wie im Zentralen Busbahnhof in Tel Aviv zu finden. | |
Immobilien sind knapp in diesem Land, der Markt ist ungeregelt und die | |
meisten Mietverträge werden nur für ein Jahr abgeschlossen. Und doch, die | |
Menschen, die hier ihren kulturellen Ort geschaffen haben, haben ein dickes | |
Fell. | |
„Mein Vater lebte fürs Theater“, erzählt Nitai Naban: „Als er ein klein… | |
Junge war, brannte das Haus der Eltern in Rumänien nieder, er überlebte als | |
Siebenjähriger die Shoah.“ Dann lächelt sie: „Wenn er mir etwas mitgegeben | |
hat, dann das: Kreativität und Kunst bleiben, sie lassen sich nicht | |
ausradieren. Sie können uns rausschmeißen. Aber wir hören nicht auf.“ | |
Auch Karmi hat sich seinen Optimismus bewahrt: „Wir haben keine Wahl. Wir | |
werden etwas Neues finden.“ Und dann, mit einem kleinen Grinsen, setzt er | |
hinzu: „Vielleicht ja diesmal sogar mit Fenstern.“ | |
2 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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