# taz.de -- Vom Sorgenkind zum Impfweltmeister: Brasilien spritzt sich frei | |
> In den Metropolen des südamerikanischen Landes sind bereits über 90 | |
> Prozent geimpft. Die Menschen feiern – und blicken verwundert gen | |
> Deutschland. | |
Bild: Impfgegner findet man hier eher wenige, im Gegenteil: Impfen gilt in Bras… | |
SãO PAULO taz | An vielen Straßenkreuzungen São Paulos stehen elektronische | |
Werbetafeln. Zeit, Temperatur und der Grad der Luftverschmutzung werden | |
darauf im Wechsel angezeigt. Seit Neuestem ist dort auch ein Schriftzug zu | |
sehen: „São Paulo Welthauptstadt der Impfung.“ | |
Die Anzeige drückt den Stolz aus über das, was Brasiliens Megametropole | |
erreicht hat: 93 Prozent der Erwachsenen sind zweifach geimpft. In den | |
meisten anderen Regionen ist die Impfquote ähnlich hoch. Das einstige | |
Corona-Sorgenkind spritzt sich aus der Krise. | |
Die Nachrichten über das Chaos in Europa werden in Brasilien kopfschüttelnd | |
zur Kenntnis genommen. Im Juli gaben in einer Umfrage nur fünf Prozent der | |
Brasilianer*innen an, sich nicht impfen zu lassen. Die Zahl dürfte | |
jetzt noch niedriger liegen. „Brasilien hat eine sehr lange Impftradition“, | |
sagt Esper Kallás der taz. Er ist Infektologe und Kolumnist der Folha de | |
São Paulo, der größten Tageszeitung des Landes. | |
Bereits in den 1920er Jahren impfte Brasilien gegen die Pocken. In den | |
1970er Jahren startete das Land Massenimpfungen gegen Krankheiten wie | |
Tuberkulose und Masern. Die Folge: Die Kindersterblichkeit konnte um die | |
Hälfte reduziert werden. Und in der Bevölkerung schaffte man Vertrauen, | |
dass Impfungen sicher sind und schützen. | |
## In Brasilien gilt es als cool, sich impfen zu lassen | |
Zudem gibt es ein flächendeckendes und gut organisiertes öffentliches | |
Gesundheitssystem. Jede*r Brasilianer*in kann kostenfrei einen Arzt | |
aufsuchen. Die Impfkampagne ist in den meisten Bundesstaaten unbürokratisch | |
organisiert. Brasilien ist bereits fleißig am Boostern, selbst Kinder ab 12 | |
Jahren werden längst geimpft. Gespritzt wird von mobilen Impfteams, ebenso | |
von Ärzt*innen in rund 40.000 Gesundheitszentren im ganzen Land. | |
Ein solches befindet sich auf einer abschüssigen Straße im Stadtteil | |
Bexiga, unweit des historischen Zentrums von São Paulo. Mit der Presse | |
dürfe man hier nicht ohne Genehmigung der Stadtverwaltung sprechen, sagt | |
die leitende Ärztin der taz. Was man jedoch sagen kann: Die Kampagne laufe | |
gut. | |
Mehrere Menschen sitzen auf Plastikstühlen und warten. Einzeln werden sie | |
aufgerufen: Spritze in den Arm, Stempel in den Impfpass, fertig. Viele | |
lassen sich dabei filmen und laden das Video in den sozialen Medien hoch. | |
In Brasilien ist es cool, sich impfen zu lassen. Mit Zé Gotinha (zu deutsch | |
etwa: Sepp Tröpfchen) hat die Impfkampagne sogar ein Maskottchen: Der | |
grinsende Tropfen, seit Corona Schutzmaske tragend, wurde in den 1980er | |
Jahren erschaffen, um Werbung für die Polio-Schluckimpfung zu machen. Er | |
ist längst Teil der brasilianischen Popkultur. | |
Das größte Land Lateinamerikas ist durch die Erfahrungen mit anderen | |
Epidemien krisenerprobt. Laut Expert*innen kann Brasilien 10 Millionen | |
Menschen an einem Tag impfen – so viel wie kein anderes Land der Welt. Das | |
Land produziert zwei eigene Impfstoffe, die bald auf den Markt gehen | |
könnten. Ebenso soll bald der Biontech-Impfstoff in Brasilien hergestellt | |
werden. Die Bundesstaaten liefern sich mittlerweile einen regelrechten | |
Wettkampf, wer schneller impft. | |
## Bolsonaro steht sogar unter seinen Anhängern allein | |
Dabei lief die Impfkampagne zunächst schleppend an. Das lag zum einen | |
daran, dass die Industrienationen Anfang des Jahres viele Impfstoffe für | |
sich horteten. Zum anderen schlug der rechtsradikale [1][Präsident Jair | |
Bolsonaro] Angebote für den Erwerb von Pfizer-Impfstoffen aus. Bolsonaro | |
sagte, dass man sich durch die Impfung in einen Kaiman verwandeln könne und | |
erklärte, sich nicht impfen zu lassen. | |
Unlängst brachte der Staatschef in einem Livevideo auch noch | |
HIV-Infektionen mit Covid-Impfungen in Verbindung. Mit seinem Diskurs | |
versucht Bolsonaro laut Expert*innen vor allem, an die internationale, | |
rechtsradikale Anti-Impfszene anzuknüpfen. In Brasilien steht er mit seiner | |
Ablehnung selbst unter seinen Anhängern [2][weitestgehend alleine]. | |
Corona hat das Land schwer getroffen. Mehr als 600.000 Menschen starben an | |
dem Virus. Die Bilder von Massengräbern, schluchzenden Bürgermeistern und | |
verzweifelten Verwandten, die Sauerstoffflaschen in Krankenhäuser | |
schleppten, gingen um die Welt. Doch nun scheint die Lage unter Kontrolle | |
zu sein. Das führen Expert*innen auf die Impfkampagne zurück. | |
Die Infektionszahlen sind stark zurückgegangen, der Alltag kehrt Stück für | |
Stück zurück. Partys finden wieder statt, die Fußballstadien sind komplett | |
gefüllt und Strände so voll wie vor der Pandemie. Einige Städte wollen im | |
nächsten Jahr mit einer großen Karnevalsparty das Ende der Pandemie feiern. | |
Andere Gemeinden sind vorsichtiger und haben den Karneval bereits abgesagt. | |
Dem Infektiologen Kallas bereiten vor allem die Weihnachts- und | |
Neujahrstage Sorgen, die viele Brasilianer*innen traditionell im | |
Familienkreis verbringen. Die Situation müsse danach genau beobachtet | |
werden. Was für ihn jedoch klar ist: „Das Impfen ist der Ausweg aus der | |
Pandemie. Für uns ist es deshalb auch so schwer zu begreifen, was gerade in | |
Deutschland passiert.“ | |
28 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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