# taz.de -- Schwedens Coronastrategie: Alle sollen, niemand muss | |
> Seit Pandemiebeginn geht Schweden einen Sonderweg: Statt auf strenge | |
> Maßnahmen setzt das Land auf Selbstverantwortung. | |
Bild: Ohne Maske und Abstand: Menschen feiern im September das Ende der Coronam… | |
Stockholm taz | Dass Schweden jetzt relativ gut dasteht, überrascht selbst | |
Virologen in Schweden: „Ich will nicht spekulieren, woran das liegt“, sagte | |
etwa Niklas Arnberg, Professor für Virologie an der Universität Umeå, am | |
Dienstag gegenüber der Tageszeitung Aftonbladet: „Vielleicht weil wir am | |
Anfang der Pandemie so hart getroffen wurden. Es könnte sein, dass wir | |
deshalb eine weiter verbreitete Immunität in der Bevölkerung haben.“ Was | |
ihn aber noch mehr überrascht habe: „Dass es in vielen anderen Ländern so | |
schlecht läuft.“ | |
Die vierte Coronawelle rollt über Europa, und Schweden fällt deutlich aus | |
dem Rahmen. Mit einer 7-Tage-Inzidenz von 115 pro 100.000 EinwohnerInnen | |
gehört es laut der [1][aktuellen Statistik] vom 2. Dezember des | |
Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten | |
zu den europäischen Ländern mit der niedrigsten Inzidenz. Man hat auch die | |
niedrigste 7-Tage-Coronatodesrate aller EU-Länder. | |
Der Impffortschritt kann nicht der Grund für diese relativ entspannte | |
Situation sein. Da liegt man mit derzeit 70,5 Prozent für die | |
Gesamtbevölkerung und 82 Prozent für die über 16-Jährigen im europäischen | |
Mittelfeld – Platz 12 von 37 Ländern – und etwa auf gleichem Niveau wie | |
Deutschland. Auch in Schweden hätte die Gesundheitsbehörde gerne ein paar | |
Prozentpunkte mehr und fährt deshalb derzeit gezielte Impfkampagnen mit | |
lokalen Impfangeboten vor allem in Gegenden mit unterdurchschnittlicher | |
Impfquote. In Stadtteilen Göteborgs mit hohem Migrationsanteil war | |
beispielsweise Ende November noch mehr als über die Hälfte der Bevölkerung | |
ungeimpft. | |
Eine landesweite Impfpflicht für Gesundheits- und Altenpflegeberufe gibt es | |
nicht. In einigen Regionen haben die Träger einzelner Einrichtungen sie | |
aber aufgrund arbeitsrechtlicher Vorschriften für ihr Personal eingeführt. | |
Eine allgemeine Impfpflicht wird fast gar nicht diskutiert. Auf eine | |
entsprechende Interviewanfrage antwortete der ehemalige Staatsepidemiologie | |
und Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Johan Giesecke vor | |
einigen Tagen: „Man kann die Leute nicht zwingen.“ Schweden habe „das sch… | |
mal mit wenig Erfolg versucht“, das sei aber „einhundert Jahre her“. | |
Es sei wichtig, die demokratischen Werte und Menschenrechte auch während | |
einer Pandemie aufrechtzuerhalten. Deshalb habe Schweden bei „nahezu allen | |
unseren Maßnahmen auf Freiwilligkeit gesetzt, und ich finde, dieser Weg war | |
richtig“, sagt Giesecke. „Wir haben keine Polizisten, die Leute bestrafen, | |
weil sie nicht auf sich aufpassen.“ Schweden verfolgte von Anfang an eine | |
etwas andere Strategie als die meisten europäischen Länder. Die staatliche | |
Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten, auf deren Empfehlungen sich die | |
Politik bei ihren Maßnahmen stützt, geht von einem ganzheitlichen und nicht | |
isoliert auf die bloße Epidemiebekämpfung gerichteten Gesundheitsbegriff | |
aus. | |
Der Infektion sollte mit gezielten Maßnahmen begegnet werden, von denen man | |
sicher sein konnte, dass sie funktionieren, Einschränkungen des | |
gesellschaftlichen Lebens und der persönlichen Freiheit sollten Ultima | |
Ratio sein. | |
Staatsepidemiologe Anders Tegnell hatte den Kurs gleich zu Beginn der | |
ersten Welle abgesteckt: Covid-19 werde keine Pandemie sein, die nach | |
wenigen Monaten ausgestanden sein würde. Man könne von den Menschen deshalb | |
nur Maßnahmen verlangen, die diese auch ein, zwei Jahre durchhalten | |
könnten. Und das funktioniere am besten mit dem Prinzip „Freiheit in | |
Selbstverantwortung“. | |
Man empfahl den SchwedInnen vor allem grundlegende Abstands- und | |
Hygieneregeln einzuhalten. Das Tragen von Masken wurde als zuwenig effektiv | |
eingeschätzt und gehörte erst gar nicht und dann nur in | |
Ausnahmesituationen, beispielsweise im öffentlichen Nahverkehr während der | |
Rushhour, zum Empfehlungskatalog. | |
Auf Schulschließungen bis zur neunten Klasse wurde wegen der damit | |
verbundenen Belastungen für SchülerInnen und Familien ebenso verzichtet wie | |
auf generelle Lockdowns. Die bislang höchste 7-Tage-Inzidenz hatte man im | |
Januar 2021 mit 515 verzeichnet. Die höchste Belastung hatten die | |
Intensivstationen im April 2020 mit über 500 CoronapatientInnen. Derzeit | |
sind es im Vergleich dazu weniger als ein Zehntel. | |
Seit Herbstbeginn ist die Zahl der Neuinfektionen nicht so massiv | |
angestiegen wie in nahezu allen anderen europäischen Ländern. Ein Grund | |
dafür könnte sein, dass die Gesundheitsbehörde auch nach der ersten | |
Impfwelle allen Geimpften empfohlen hatte, sich prinzipiell weiterhin | |
vorsichtig zu verhalten: Der Impfschutz werde zwar schwere Erkrankungen | |
verhindern, sei voraussichtlich aber weder vollständig noch dauerhaft, | |
mahnte der Staatsepidemiologe. | |
Nach einem im September veröffentlichten [2][Zwischenbericht] einer noch | |
laufenden Studie mehrerer schwedischer Universitäten zur Wirksamkeit von | |
Corona-Impfstoffen halbierte sich das Antikörperniveau bei zweifach mit dem | |
Pfizer-Impfstoff Geimpften binnen drei Monaten und war nach 6 Monaten auf | |
15 Prozent gesunken. | |
Der schwindende Impfschutz macht sich auch auf den Intensivstationen | |
bemerkbar. Nach wie vor werden dort zwar relativ zu ihrem | |
Bevölkerungsanteil mehr Ungeimpfte als Geimpfte behandelt. Doch stieg der | |
Anteil Geimpfter unter diesen PatientInnen von 23 Prozent im September auf | |
nun 43 Prozent, in der Altersgruppe der über 60-Jährigen von 42 auf 76 | |
Prozent. Sei Anfang November wird allen über 65-Jährigen eine dritte | |
Impfdosis empfohlen. | |
Schwedens Gesamtbilanz beim Umgang mit der Pandemie ist durchwachsen. In | |
der ersten Pandemiephase scheiterte das Land massiv beim Schutz der älteren | |
Bevölkerung, konstatierte schon im Dezember 2020 ein von der Regierung | |
bestellter [3][Untersuchungsbericht]. Eine in der vergangenen Woche | |
veröffentlichte Studie einer Expertengruppe der Königlichen | |
Wissenschaftsakademie in Stockholm vertieft das. Schweden sei schlecht | |
vorbereitet gewesen, es habe anfänglich schwerwiegende Mängel in der | |
Gesundheits- und Altenvorsorge gegeben, was Personal, Kompetenz, die | |
Versorgung mit Masken, | |
Schutzkleidung, aber auch Testmöglichkeiten und Laborkapazitäten anging. | |
Ein kaputt gesparter und weitflächig ohne ausreichende öffentliche | |
Kontrolle privatisierter Sektor der Altersvorsorge verschärfte die Lage | |
zusätzlich. Ende Juni 2020 hatte Schweden bereits über 5.300 Coronatote zu | |
beklagen. Das war im Verhältnis zur Bevölkerungszahl das 4,75-Fache | |
Deutschlands mit damals rund 9.000 Coronatoten. | |
Zieht man jetzt einen entsprechenden Vergleich seit Pandemiebeginn, hat | |
sich dieses Verhältnis auf weniger als das 1,2-Fache reduziert. Das | |
schwedische Gesundheitssystem hat die Pandemie zwischenzeitlich | |
offensichtlich wesentlich besser in den Griff bekommen. Die aktuellen | |
ECDC-Zahlen melden eine „7-Tage-Todesrate“ von 0,4 pro Millionen | |
EinwohnerInnen für Schweden, aber 14 für Deutschland. | |
Länder, die auf harte Lockdowns gesetzt hätten, seien nicht besser | |
gefahren, das Virus kam immer wieder zurück, sagt Giesecke. Mit dem | |
Verzicht auf harte Lockdowns schaffte es die Wirtschaft des Landes besser | |
durch die erste Phase der Coronakrise als die meisten anderen EU-Länder. | |
Neben Dänemark ist Schweden das einzige EU-Land, das sein Defizit im | |
Staatsbudget mit 2,8 Prozent des Bruttonationalprodukts (BNP) unterhalb der | |
– während der Pandemie suspendierten – 3-Prozent-Grenze halten konnte. | |
Schweden hat die insgesamt fünftniedrigste Schuldenlast in der EU. Während | |
die Schuldenrate gegenüber 2020 in Deutschland 2021 weiter steigt, sinkt | |
sie in Schweden bereits wieder und liegt bei 37,3 Prozent des BNP | |
(Deutschland 71,4). | |
Die Steigerung der Arbeitslosenrate liegt in Schweden seit Pandemiebeginn | |
unter dem EU-Schnitt. Für eine endgültige Bilanz ist es natürlich zu früh. | |
Aber Umfragen zeigen ein hohes Vertrauen der SchwedInnen und überwiegende | |
Zufriedenheit mit der Handhabung der Coronapandemie durch ihre Regierung. | |
In einer vergleichenden Untersuchung des „[4][YouGov-Cambridge Globalism | |
Project“] in 26 Ländern liegt Schweden mit einer Positivrate von 54 Prozent | |
an der Spitze. | |
Für Deutschland ist dieser Zufriedenheitswert im Vergleich zu einer | |
entsprechenden Untersuchung vor einem Jahr von 67 auf 44 Prozent gesunken. | |
19 Prozent der befragten SchwedInnen hielten die Corona-Einschränkungen für | |
zu weitreichend – der niedrigste Wert aller untersuchten Länder. Nach einem | |
im September veröffentlichten [5][Eurobarometer] haben SchwedInnen mit 80 | |
Prozent auch das höchste Vertrauen in WissenschaftlerInnen, Deutschland ist | |
dabei mit 46 Prozent das EU-Schlusslicht. | |
Schwedens Gesundheitsbehörde erwartet den Höhepunkt der jetzigen | |
Infektionswelle für Mitte Dezember. Um die Spitze möglichst flach zu | |
halten, gelten seit dem 1. Dezember neue Kontaktbeschränkungen. Zum Besuch | |
von öffentlichen Veranstaltungen in Innenräumen mit mehr als 100 | |
BesucherInnen können Veranstalter einen Impfnachweis verlangen. Sie können | |
aber auch zu anderen Vorsichtsmaßnahmen wie Abstandsregelungen greifen. Die | |
Ausgestaltung bleibt ihnen überlassen. Schweden versucht auch in der | |
vierten Welle bei seinem Prinzip der „Freiheit in Selbstverantwortung“ zu | |
bleiben. | |
8 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://covid19-country-overviews.ecdc.europa.eu/index.html | |
[2] https://communitystudien.com/fas-5/ | |
[3] /Schwedens-Versaeumnisse-in-Coronapandemie/!5739500 | |
[4] https://yougov.co.uk/ | |
[5] https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2237 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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