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# taz.de -- Kunsttipps der Woche: Mit taxonomischer Beflissenheit
> Kunst inspiriert von feministischen Vorreiter:innen, Kunst inspiriert vom
> biographischen Gedächtnis und Kunst inspiriert von der Industrie.
Bild: Markues und Michaela Meise, „Your Horizon Has Limits Even Holes“, 202…
Mit der Gewissheit ohne Gewissheit zu sein, bewegen wir uns derzeit durch
den pandemischen Alltag. Solch ein Zustand der Diffusität kommt auch im
neuen Projektraum [1][Scherben] auf. Nicht nur, weil sich ab und an ganz
unbemerkt ein Nebel zwischen die Arbeiten von Markues und Michaela Meise
verteilt, so dass zwischenzeitig der Boden unter den Füßen zu verschwinden
scheint.
Michaela Meise kehrt ein architektonisches und gleichsam patriarchales
Sinnbild für Stabilität, die Säule, in ein fragiles Arrangement aus
Holzstangen um. Mit den „Trans Columns“ arbeitete Meise bereits 2009 auf
ihre so eigene, konzentrierte Art ein Symbol für die damalige Finanzkrise
heraus. Markues hingegen zeigt eine Reihe Aquarelle der letzten Jahre, auf
denen Zitate aus Liedern, Slogans und Theorie zwischen dünn mäandernden
Farbflächen zerfließen, unklar ob sie Worte oder Bilder sind.
Darunter auch jenes metaphorische Zitat der Psychoanalytikerin und
Philosophin Luce Irigaray „Your horizon has limits even holes“, das zum
Titel der Ausstellung geworden ist. Luce Irigaray – auch auf einem kleinen
Portrait Meises im Raum zu entdecken – vertritt aus feministischer
Perspektive die Besonderheit jedes Individuums, das sie aber nicht als
vereinzelt versteht, sondern als stets in gemeinschaftlicher Verbindung zu
anderen.
Und so rücken Markues und Michaela Meise ihre jeweilige Hinterfragung von
Gewissheiten nicht nur unter das nebulöse Licht der jetzigen Pandemie,
sondern appellieren auch mit Irigaray, dass in der Vieldeutigkeit die
Möglichkeit von Gemeinschaft liegt.
## Im biographischen Gedächtnis
Warum schauen wir uns immer wieder Filme, Bücher und Bilder von der
Kindheit anderer an? Vielleicht weil sie das eigene biografische Gedächtnis
wachrufen können und das Nachdenken darüber, wie wir als Subjekte
entstehen.
Matthew Krishanu malt Erinnerungen aus seiner Kindheit. Als öffnete er ein
verstaubtes Familienalbum, breitet er auf seinen Malereien in der
[2][Galerie Tanya Leighton] Ausschnitte aus seinem Leben als kleiner Junge
aus: auf Reisen mit dem Onkel, im Türrahmen stehend mit seinem Bruder,
reitend auf einem Esel und spielend mit Pfeil und Bogen. Diese Szenen
übersetzte er aus dem Gedächtnis und von tatsächlichen Fotografien in eine
flächige, farbintensive, geradezu schablonenhafte Figürlichkeit, sodass
letztlich die subjektive Erinnerung zu einer distanzierten Abbildung wird.
Und so erzählt er, der Sohn einer bengalisch-indischen Mutter und eines
englischen Priesters, mit dieser entpersonalisierten Darstellung die
Geschichte seiner Ich-Werdung. Einer Ich-Werdung in Südasien, in einer
streng christlichen Umgebung, wo über dem Bett ein Gemälde vom Abendmahl
wacht und der Alltag einem strikten Ritual folgt.
Eine schön anzusehende und doch verstummte Malerei über die Suche nach der
eigenen Kindheit. Eine, die derart reduziert ist, dass Personen und Objekte
den gleichen Rang einnehmen. Dabei sind diese christlichen Objekte, dort in
Südasien, zugleich Hinterlassenschaften eines europäischen Imperialismus.
## Industrie-Paintings und die eigene Hand
Metallene Industrieprodukte hängt Nadim Vardag in einem strengen Raster an
die Wände des Projektraum [3][Stations]. Gebürstet, poliert und geschliffen
arrangiert er die Gegenstände aus Aluminium oder Eisen in einer Art
taxonomischen Beflissenheit. Zumeist sind es Rahmen für Werbeplakate an
Bushaltestellen oder in Cafés, die er aufmontiert und mit neuen komplexen
Schrauben versieht. Manchmal legt er Bilder hinein, so etwas wie
Industrie-Paintings aus Metalltextilien, aber auch mühselig von eigener
Hand gefertigte Kaltnadelradierungen mit filigranen Mustern.
Und bei beiden Gegenstandsarten, dem Industrieprodukt und dem vom Künstler
selber ausgeführten Bild, kann man sich für die Präzision des Materials und
die geistige Verdichtung, die sich hinter einem Objekt wie einer Schraube
verbirgt, begeistern. Da befindet man sich aber auch schon an der etwas
beängstigenden Schwelle, von der Arbeit der Maschine und der des Künstlers
gleichsam ästhetisch berührt zu sein.
23 Nov 2021
## LINKS
[1] https://scherben.in/
[2] https://www.tanyaleighton.com/
[3] https://www.stations.zone/
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
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