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# taz.de -- Terrorgefahr in Westafrika: Angst vor dem Schulbesuch
> In Burkina Faso sind aktuell mehr als 2.600 Schulen geschlossen. Nicht
> wegen Corona, sondern wegen Terrorgruppen im Land.
Bild: Ali, Mohamed und Saïdou Konfé würden gerne wieder in die Schule gehen
Ouagadougou/Ouahigouya taz | Ali, Mohamed und Saïdou Konfé toben über einen
Hinterhof in Rimkieta, einem Viertel im Nordwesten von Ouagadougou.
Eigentlich sollten die drei Jungs an diesem Dienstagnachmittag die
Schulbank drücken. Doch eine Schule haben sie seit zwei Jahren nicht mehr
von innen gesehen.
Damals flüchteten die drei sechs- und siebenjährigen Cousins mit ihren
Familien aus der Provinz Soum im Norden von Burkina Faso in die
Hauptstadtregion. Grund dafür waren schwere Angriffe von Dschihadisten,
sagt ihre Großmutter Zarra Zawadogo.
Gemeinsam mit anderen Frauen und Kleinkindern sitzt sie im Schatten eines
großen Baumes und beobachtet die Kinder. Der Platz ist begrenzt, die
einzelnen Räume, in denen die große Familie lebt, sind klein. „30 Personen
waren wir, als wir hier angekommen sind. Wir konnten nichts mitnehmen,
keine Nahrungsmittel, keine Kleidung.“ Über die Details ihrer Flucht möchte
sie nicht sprechen.
In Burkina Faso operieren in mehreren Landesteilen Terrorgruppen. Im Norden
vor allem die Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime
(JNIM), im Osten an der Grenze zu Niger der „Islamische Staat der größeren
Sahara“ (EIGS), dazu Banditen in verschiedenen Regionen.
Nach Informationen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR)
haben mehr als 1,4 Millionen Menschen ihre Dörfer verlassen. Viele fliehen
zunächst in die Provinzhauptstädte und manche von dort aus bis in die
Hauptstadt. Für die Familie um Großmutter Zarra Zawadogo jedoch hat sich
die Situation in Ouagadougou kaum verbessert. Vor allem an einen
Schulbesuch ist für die Vertriebenen nicht zu denken.
Der sechsjährige Saïdou sagt: „Ich würde gerne mal zur Schule gehen.“ Se…
Großmutter verdreht die Augen: „Die Kinder sind dabei, ihre Zukunft zu
verlieren.“ Denn als Binnenflüchtlinge haben sie kaum eine Chance auf einen
Schulplatz. Hier in Rimkieta gibt es in erreichbarer Nähe nicht einmal
staatliche Schulen. Auch andere Vorstädte haben ähnliche Probleme. Noch
schwieriger ist die Situation auf dem Land. Findet sich eine staatliche
Schule, quetschen sich oft 60 bis 80 Kinder in eine Klasse.
## Kein Geld, keine Schule
Privatschulen verlangen hingegen eine Gebühr. „Und die können wir uns nicht
leisten. Ich habe kein Startkapital für den petit commerce“, sagt Zarra
Zawadogo. Damit meint sie kleine Holzstände in Wohnvierteln, an denen
Frauen Seife, Waschpulver, Tomaten oder Streichhölzer verkaufen. Die
Gewinnspanne ist minimal. Die 65-Jährige geht trotzdem davon aus, dass ein
solcher das Leben der Familie verbessern könnte.
Ali, Mohamed und Saïdou Konfé sind nicht die Einzigen, die zurzeit nicht
zur Schule gehen können. Ende Oktober hat Bildungsminister Stanislas Ouaro
bekannt gegeben, dass im laufenden Schuljahr 2.682 der rund 20.000 Schulen
im Land geschlossen bleiben. Das sind rund 400 mehr als noch vor den großen
Ferien. Die meisten liegen in den Regionen Zentrum-Nord und Sahel im Norden
von Burkina Faso.
Zunehmend betroffen ist auch der Südwesten, wo in zwei Regionen ebenfalls
gut 100 Schulen nicht mehr öffnen. Allerdings konnten 404
Bildungseinrichtungen in Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften und
Selbstverteidigungsmilizen wieder eröffnet werden. Das bedeute immerhin,
dass 87.000 Schüler*innen wieder regelmäßig Unterricht erhalten, so
Ouaro.
Mehr als 300.000 Mädchen und Jungen stehen jedoch weiterhin vor
verschlossenen Türen. Mitunter ist von 350.000 die Rede. Im Zentralsahel –
er umfasst Burkina Faso sowie die Nachbarländer Mali und Niger – gingen
nach Schätzungen des Norwegischen Flüchtlingsrates (NRC) vergangenes Jahr
allein aus Sicherheitsgründen mehr als eine Dreiviertelmillion nicht zur
Schule. Nicht eingerechnet sind zahlreiche temporäre Schließungen wegen der
Coronapandemie. In Burkina Faso waren die Schulen vergangenes Jahr sechs
Monate lang komplett geschlossen.
## Aufstiegschance Terrorgruppe
Die Folgen sind gravierend für das westafrikanische Land. Nach Angaben der
Weltbank konnten im Jahr 2018 nur knapp 40 Prozent der über 15-Jährigen
lesen und schreiben. Da der Staat mit einer Bevölkerung von gut 21
Millionen sehr jung ist – das Durchschnittsalter liegt bei knapp 18 Jahren
–, steigt der Druck auf den Arbeitsmarkt ständig. Im Entwicklungsindex der
Vereinten Nationen belegt er Platz 182 von 189. Expert*innen warnen seit
Jahren davor, dass schlechte Bildungsbedingungen und [1][die damit
verbundene Perspektivlosigkeit] auch dazu beitragen, dass sich Jugendliche
von Terrorgruppen anwerben lassen. Diese sprechen gezielt Nachwuchs an und
bieten ihm – so zynisch das klingt – Aufstiegschancen, die es in der
Gesellschaft nicht gibt.
Dass Schulen geschlossen bleiben, liegt am Zusammenbruch der staatlichen
Strukturen. Anders als im Nachbarland Mali gibt es aus Burkina Faso bisher
keine Berichte darüber, dass Dschihadisten Dörfer besetzen und dort eine
besonders rigide Form des Islams einführen. Doch die Angst vor Überfällen
ist groß, und staatliche Sicherheitskräfte sind auf dem Land selten
präsent. Zivilist*innen sind Angriffen deshalb schutzlos ausgeliefert.
Schulen werden gezielt für Anschläge ausgesucht. Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat von 2017 bis 2020
insgesamt 126 Angriffe auf Schüler*innen, Lehrer*innen und Schulen in
Burkina Faso dokumentiert. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher
liegen. Es ist die Ausnahme, dass Täter gefasst werden und ihnen der
Prozess gemacht wird. Das geschah allerdings im August, als zwei Mitglieder
der burkinischen Gruppierung Ansarul Islam zu 20 Jahren Gefängnis
verurteilt wurden, weil sie 2018 einen Angriff auf eine Grundschule verübt
hatten. Die Bewegung ist Teil der [2][al-Qaida im Islamischen Maghreb]
(AQMI).
Die Terrorgruppen schüren große Ängste bei Lehrerkräften. Eine Lehrerin,
die in Mani unterrichtet, sagt zuerst ein Gespräch zu, dann aber wieder ab.
Mani liegt in der Nähe der Hauptverkehrsstraße zwischen Kaya und Dori, wo
es in den vergangenen Monaten immer wieder Überfälle gegeben hat. „Ich muss
vorsichtig sein und äußere mich lieber nicht“, begründet sie die Absage und
ergänzt: „Es gibt eine große Unsicherheit in der Schule. Man weiß nicht,
was passiert.“
## Unterricht per Radio
Manchmal nehmen Koranschulen Flüchtlingskinder auf. Anders als die
sogenannten frankoarabischen Schulen, die eine Mischform aus religiöser und
staatlicher Bildung sind, stehen dort aber weder Französisch noch
Mathematik auf dem Stundenplan. Für das Kinderhilfswerk Unicef und das
burkinische Bildungsministerium hat das Radio Notre Dame du Sahel, das zur
katholischen Diözese von Ouahigouya gehört, deshalb ein Programm umgesetzt,
um Kindern zumindest ein bisschen Unterricht zu bieten. „PER“ heißt es, was
für Bildung über das Radio steht.
Verantwortlich dafür ist in Ouahigouya, Hauptstadt der Region Nord, die gut
128.000 Binnenvertriebene zählt, Priester Victor Ouedraogo. „Seit 2015
haben wir gesehen, dass die Terroristen alle Institutionen angreifen, die
den Staat symbolisieren“, sagt er. Toleriert hätten die Terroristen nur
Schulen, die den Koran lehren. Gerade für Kinder sei die Situation
katastrophal, obwohl sie ein Recht auf Bildung hätten.
Deshalb haben Journalist*innen 144 Texte zu Mathematik, Französisch,
Menschen- und Kinderrechten in mittlerweile sieben lokalen Sprachen
eingesprochen. Zu hören sind sie landesweit bei mehr als 15 lokalen
Radiosendern. Ouedraogo schätzt, dass damit 500.000 Schüler*innen
erreicht werden, die so nicht komplett den Anschluss verlieren.
Gegründet wurden zudem Zuhörer*innen-Clubs. Zwei- bis dreimal pro Woche
treffen sich bis zu 40 Kinder mit ihren Eltern sowie einem*r Betreuer*in.
Auch hier wird zusammen gehört und anschließend über den Inhalt gesprochen.
Daran nehmen rund 2.000 Mädchen und Jungen teil. Ausgestattet sind die
Clubs mit einem Radio und USB-Stick, auf dem alle Lehreinheiten gespeichert
sind. Darüber hinaus gibt es Radiofamilien, die ebenfalls gemeinsam die
Lektionen hören.
„Das ersetzt die Schule natürlich nicht“, sagt Priester Victor Ouedraogo,
„aber die Kinder vergessen nicht, was sie einst gelernt haben. Die Rückkehr
zur Schule wird für sie einfacher sein.“ Eins bleibt jedoch unklar: Niemand
weiß, wann die 2.600 Schulen in Burkina Faso wieder öffnen.
29 Nov 2021
## LINKS
[1] /Protestbewegung-in-Burkina-Faso/!5812513
[2] /Al-Qaida/!t5019855
## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Burkina Faso
Schwerpunkt Flucht
Terror
Bildung
Podcast „Vorgelesen“
Sahel
Schule und Corona
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