| # taz.de -- Bergsteigerdorf Johnsbach im Gesäuse: Blauer Himmel? Nicht bei uns | |
| > Im österreichischen Nationalpark Gesäuse setzt man nicht auf schönes | |
| > Wetter, sondern auf die schroffe Schönheit der Berge – und den Glanz der | |
| > Sterne. | |
| Bild: Großer Ödstein im Gesäuse-Nationalpark bei Johnsbach | |
| Johnsbach im Gesäuse hat viele Hochs und Tiefs erlebt. Das Aufkommen des | |
| Alpinismus vor 140 Jahren. Den Ansturm der „jungen Wilden“ aus Wien und | |
| Graz in der Zeit zwischen den Weltkriegen, als es als heldenhaft galt, sich | |
| so mit den Naturgewalten zu messen, dass es nur zwei Ausgänge geben konnte: | |
| Sieg oder Untergang. Den Kampf um den Nationalpark Ende der 1990er Jahre, | |
| den die Gegner:innen zum Streit „Kultur gegen verwilderte Natur“ | |
| stilisierten. Heute sind es die Coronapandemie und ihre Folgen, die das | |
| Dorf mit seinen 150 Einwohner:innen beschäftigen. | |
| Einerseits hat der Drang, sich zu bewegen und dabei möglichst viel Platz | |
| zwischen sich und andere zu bringen, dazu geführt, dass mehr Menschen in | |
| die Natur flüchten. Andererseits sind darunter auch immer wieder | |
| Städter:innen, die nicht nur ihre leeren Flaschen und Plastiktüten an den | |
| Stationen der Themenwege oder im Geschiebe des Johnsbaches hinterlassen. | |
| Sie stellen auch das sonst meist so gute Miteinander von | |
| Dorfbewohner:innen und Gästen in Fragen. | |
| „Einige glauben, dass Coronaregeln hier nicht gelten“, sagt Ludwig Wolf. | |
| Der mächtige Mann mit den buschigen Augenbrauen und der kleinen Lücke | |
| zwischen den Schneidezähnen – Altbürgermeister des Dorfs, das 2015 in der | |
| Gemeinde Admont aufging – betreibt einen von drei Gasthöfen im Nabel des | |
| Nationalparks. | |
| Auch sein „Kölblwirt“ musste zeitweise schließen, Mitarbeitende gingen in | |
| Kurzarbeit. Erst in diesem Sommer ist das Geschäft wieder einigermaßen | |
| angelaufen. Zugleich muss Wolf mitansehen, wie sein Nachbar, „ein | |
| Zweimetermann, hoch wie breit“ seit Monaten mit Covid-19 im Krankenhaus | |
| dahinschwindet. „Und da wollen die Leute, die mal auf einen Tagesausflug | |
| hier hinkommen, ohne irgendwelche Tests oder Impfungen einfach zu uns rein | |
| und machen Ärger, wenn wir das nicht wollen“, sagt er. | |
| ## Am dünnsten besiedeltes Gebiet im Land | |
| Solche Gäste nerven, und wenn sie abspringen, stört es ihn nicht besonders, | |
| sagt Wolf. Ohnehin entsprechen die anspruchsvollen | |
| Tagesausflügler:innen nicht der Form von Tourismus, die er sich für | |
| das Bergsteigerdorf im jüngsten Nationalpark Österreichs wünscht. Mit einer | |
| Katasterfläche von fast 100 Quadratkilometern ist es das am dünnsten | |
| besiedelte Gebiet im ganzen Land – und macht mehr als die Hälfte der | |
| Nationalparkfläche aus. Das Dorf erstreckt sich vom tiefsten Punkt zwischen | |
| den Gebirgsmassiven der Hochtorkette und der Reichensteinkette, der | |
| Hartelsgrabenbrücke über die Enns auf 521 Metern, bis zum höchsten Gipfel, | |
| dem 2.369 Meter hohen Hochtor. „Hohe Reliefenergie“ nennen Geolog:innen | |
| diese schroffen Höhenunterschiede zwischen Berg und Tal. Zwischen den immer | |
| wieder beinahe senkrechten Kletterwänden ziehen sich steinige Wanderwege, | |
| teils an schäumenden Wildbächen entlang, immer wieder durch Geschiebe, das | |
| die eiszeitlichen Gletscher hinterlassen, und Geröll, das Lawinen oder die | |
| Bäche mit abwärtsgerissen haben. Es ist eine wilde, ursprünglich anmutende | |
| Gegend. | |
| Wolf habe „damals sehr für den Nationalpark gekämpft“, sagt Andi Hollinge… | |
| der das selbst nicht miterlebt hat. Aber als heutiger Leiter der | |
| Kommunikation ist er natürlich firm in der Geschichte des Schutzgebiets und | |
| kennt nicht nur die Berichte, sondern ist auch in regelmäßigem Kontakt mit | |
| den Kooperationspartnern. Nach ersten Anläufen Ende der 1950er Jahre wurde | |
| der Nationalpark 2002 endgültig umgesetzt, als letztes der sechs | |
| österreichischen Schutzgebiete dieser höchsten Kategorie, 2008 bekam die | |
| damals noch eigenständige Gemeinde als eine der ersten den Titel | |
| „Bergsteigerdorf“. | |
| 35 Dörfer in Österreich, der Schweiz, Slowenien, Italien und Südtirol | |
| umfasst die Bergsteigerdorf-Initiative derzeit. Getragen wird sie von den | |
| Alpenvereinen dieser Länder. Die Idee war und ist, die sogenannte | |
| Alpenkonvention fassbar zu machen, jenen völkerrechtlichen Vertrag der acht | |
| Alpenstaaten, der die nachhaltige Entwicklung im höchsten innereuropäischen | |
| Gebirges voranbringen soll. Weil man sich in zu vielen Dörfern seit den | |
| Anfangsjahren des Alpintourismus immer stärker dem Wintertourismus | |
| verschrieben hatte, sind vielerorts die Hänge planiert und entwässert, | |
| Speicherseen in den Berg gesprengt, Seilbahnen und Hotels gebaut worden. | |
| Zugleich blieb dabei die ansässige Bevölkerung auf der Strecke, wurde in | |
| einen „Erschließungs-Kapital-Kreisel“ hineingesogen, wie es Wolf nennt. Um | |
| die Marke Bergsteigerdorf können sich nur Orte mit alpinistisch besonders | |
| interessanen Gebieten bewerben, die eine sanftere Entwicklung genommen | |
| haben und eine Bevölkerung aufweisen, die nicht nur bereit ist, sich für | |
| einen nachhaltigen Tourismus zu engagieren, sondern auch etwa die | |
| Berglandwirtschaft entsprechend auszurichten. | |
| ## Im Gasthaus rennt der Schmäh | |
| In Johnsbach vermischen sich in guten Zeiten Einheimische und Gäste in den | |
| drei Gasthöfen, essen und trinken zusammen, und dann „rennt der Schmäh“, | |
| wie man hier sagt. Man trifft Bekannte, Menschen, die man bei früheren | |
| Touren kennengelernt, mit denen man schon zusammengesessen hat, oder auch | |
| einfach Menschen, mit denen man zunächst nur die Begeisterung für das | |
| Gesäuse teilt. | |
| Naturfotograf:innen und Sternegucker:innen beispielsweise. Denn | |
| Johnsbach ist ganz offiziell der dunkelste Ort in Österreich – und die | |
| nicht vorhandene Lichtverschmutzung ist nicht nur gut für nachtaktive | |
| Insekten und Zugvögel. Sie bedeutet auch, dass nachts bei klarem Himmel so | |
| viel Sterne zu sehen sind wie kaum irgendwo anders. Allerdings braucht es | |
| dafür auch ein wenig Glück. Denn richtiges Gesäusewetter kommt eher bedeckt | |
| daher, weshalb selbst auf den Werbeprospekten des Nationalparks statt | |
| blauem Himmel spektakuläre Wolkenformationen zu sehen sind, die dem | |
| schroffen Zickzack der Gipfel einen sich ständig wandelnden Rahmen geben. | |
| Ohnehin ist die Hauptattraktion des Bergsteigerdorfes sein Netz an | |
| Kletterrouten. Denn obwohl es durchaus zahme, wenn auch selten ganz | |
| anspruchslose Wege gibt, ist doch der größte Teil Bergsteiger:innen | |
| vorbehalten, die Alpinerfahrung mitbringen. Nicht umsonst gilt das Gesäuse | |
| als die „Universität des Kletterns“. | |
| Was Neue deshalb nicht versäumen dürfen, ist ein Besuch des Johnsbacher | |
| Friedhofs. Dort erzählen die Aufschriften auf den Grabsteinen einen | |
| besonderen Teil der Geschichte – nicht nur des Dorfs, sondern auch des | |
| Alpinismus. Es genügt, sich die Kreuze genauer anzuschauen, um zu ahnen, | |
| wie grimmig die Hochtor Nordwand, die Rosskuppenkante, das Reichensteiner | |
| Totenköpfl sein können. Dort liest man, dass Franz Mudra, den die Plakette | |
| auf einem Kreuz mit ernstem Blick in Uniform zeigt, 1938 mit gerade mal 22 | |
| Jahren am Peterschartenkopf abstürzte. Oder was Fritz Schmids Eltern ihrem | |
| Sohn auf den Stein schrieben: „Es gibt viele Wege zu Gott. Seiner führte | |
| über die Berge.“ Schmid erfror „am 2. Juni 1936 nach einem elementaren | |
| Wettersturz am Ödstein“. 524 Tote verzeichnet die Gemeindestatistik, die | |
| bis 2014 reicht, jüngere Fälle sind noch nicht erfasst. 83 der | |
| Verunglückten sind hier begraben, 49 Gräber noch erhalten. | |
| „Man kann das Gesäuse leicht unterschätzen“, sagt Wolf. Aber mit der | |
| richtigen Einstellung sei es der schönste Ort der Welt. | |
| 8 Dec 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Willms | |
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