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# taz.de -- Die Musikpädagogin: Mein Rolemodel
> Die Pianistin Grete Wehmeyer konnte den klassischen Musikbetrieb nicht
> leiden. Für unsere Autorin war sie Lehrerin am Klavier – und fürs Leben.
Bild: Im Unterricht entwickelte Grete Wehmeyer das Format der Gesprächskonzerte
Klavierlehrerin – das klingt beiläufig, funktional. „Klavierpädagogin“
macht eindeutig mehr her. Das klingt nach einer, die eine Idee propagiert,
eine Schule vertritt, Schüler:innen um sich schart. Grete Wehmeyer (1924
bis 2011) vertrat keine Schule, sie vertrat nur sich selbst. Ich hatte das
Glück, ihre Schülerin zu sein. Am 18. Oktober ist ihr zehnter Todestag.
Die Frau fiel auf. Helle Stimme, helles Lachen. Groß und kräftig für eine
Frau ihrer Generation, Jahrgang 1924. Sie lebte im Haus ihrer Eltern in
Köln-Lindenthal, und wer den Stadtteil kennt, kennt auch das Haus in der
Geibelstraße. Als sie 1983 nach Japan ging, um in Tokio an der
Musikakademie zu unterrichten, ließ sie dem Haus durch zwei befreundete
Künstler einen neuen Anstrich verpassen. Es sah nun aus wie eine
verrammelte Bretterbude, ein Statement. Grete Wehmeyer war jetzt mal weg.
Sie kam nach anderthalb Jahren wieder, die Bretterbude blieb, bis heute.
Sie war mehr als Klavierlehrerin: promovierte Musikwissenschaftlerin und
ausgebildete Pianistin, nur zu nervös für Konzerte. Vielleicht nicht gut
genug für eine Solokarriere, darüber sprach sie nicht. Der klassische
Musikbetrieb wurde ihr mehr und mehr zuwider, mit seinem Streben nach
glatter Rasanz, dem zeremoniellen Getue. Mit spöttischer Vehemenz
galoppierte sie in 90 Minuten am [1][Klavier] durch Wagners „Ring der
Nibelungen“ – keine Kurzfassung für Kinder, sondern ein Vergnügen für La…
und ein Ärgernis für Wagner-Fans.
Und Grete Wehmeyer schrieb Bücher – über die Komponisten Erik Satie, Edgar
Varèse, Jacques Offenbach – und machte Rundfunksendungen, kleine und große.
Wenn sie im Radio eines ihrer vielen „Zeitzeichen“ sprach, klang ihr
kölsches Idiom angenehm durch.
Beim Unterrichten entwickelte sie das, was später ihre Kernkompetenz wurde:
das Format der Gesprächskonzerte, mit denen sie in den 1960er und 70er
Jahren für das Goethe-Institut durch afrikanische und asiatische Länder
tourte – mit Neugier und Offenheit für musikalische Traditionen
nichteuropäischer Länder. Keine Botschafterin westlicher Überlegenheit,
sondern Kundschafterin, Übersetzerin, eine Diplomatin der Musik. Eine
Vertreterin der Weltkulturen, würde man heute sagen.
## Die erste Stunde fiel aus
Bei ihr roch es stets nach Kaffee und Hund. Ihr Schäferhund war tagsüber
draußen, im Garten der Erdgeschosswohnung, die sie bewohnte. In der großen
gekachelten Wohnküche brühte sie frischen Kaffee auf. Die oberen Etagen des
Hauses waren an Studierende und Künstler:innen vermietet.
Meine erste Klavierstunde fiel aus, weil ich mich nicht am Hund
vorbeitraute. Ich war acht und wohnte nicht weit. Später, als ich
pubertierend, revoltierend, oft ungeübt in ihre Klavierstunde kam, weil mir
das Leben, wie ich fand, zu viel abverlangte, bekam ich immer eine Tasse
Kaffee auf das Pult ihres Bechstein-Flügels gestellt. Es war eine
vertrauensvolle Versicherung: Wir reden erst mal, dann kannst du Klavier
spielen. Sie war mütterlich, ohne bemutternd zu sein.
Meine Klavierlehrerin war keine normale Klavierlehrerin, das lernte ich im
Laufe der Zeit. Sie überzeugte mit Charme, Fröhlichkeit und
Experimentierlaune. Ein geheimnisvolles Flair von Anderssein, Weltoffenheit
umgab sie.
Missionierend war sie nie. Ich nahm als Jugendliche Witterung auf. Einmal
habe ich bei einem Schülerkonzert ein Stück für präpariertes Klavier
aufgeführt. Den Komponistennamen weiß ich nicht mehr, in die Saiten des
Flügels wurden Schlegel gesteckt, sodass sie völlig dumpf klangen. Ich kann
nicht behaupten, dass es mir Spaß gemacht hätte. Aber ich habe das
Experiment angenommen.
Ansonsten blieb es beim Repertoire: Bach, [2][Beethoven], Bartók, später
Debussy und Satie. Sie gab Unterricht, um ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Bei den Schülerkonzerten in ihrer großen Wohnung mit den zwei
Flügeln und den geöffneten Flügeltüren saßen hinterher die Herren und Damen
Eltern auf dem Sofa, tranken Wein und qualmten, was das Zeug hielt. Das war
der Wehmeyer-Salon, das konnte sie auch. Gutbürgerlich.
Sie war locker, pragmatisch. Keine Triezerei mit Etüden, keine Triller –
statt Tonleitern rauf- und runterzujagen, ließ sie mich Lockerungsübungen
für die Körperhaltung machen (die heute zu jeder Stimmbildung gehören) und
die Handgelenke auf dem zugeklappten Klavierdeckel kreisen. Sie war
überzeugt davon, dass man die natürliche Stellung der Hände berücksichtigen
solle. Gegenläufigkeit statt Schnellläufigkeit.
Grete Wehmeyer war mein Rolemodel. Unangepasst, immer unverschämt gut
gelaunt. Sie liebte Jacques Offenbach und den rheinischen Humor. Habe ich
schon erwähnt, dass sie unverheiratet und kinderlos war? Männer (oder
Frauen) an ihrer Seite blieben, wenn es sie gab, unsichtbar. Sie füllte den
Raum allein. Ihre Schülerschaft war ihre Familie, umgekehrt gehörte sie
selbstverständlich zur Familie, wenn sie Weihnachten zum Essen kam. Auf der
Beerdigung meiner Mutter irrlichterte sie zwischen den Trauergästen. Beim
Essen überspielte sie charmant beschwipst ihre beginnende Demenz.
Ich lebte schon nicht mehr in Köln, als sie das Thema zu bearbeiten begann,
mit dem sie Musikwelt und Feuilletons aufscheuchte. „Carl Czerny und die
Einzelhaft am Klavier“ hieß das Buch aus dem Jahr 1983, in dem Wehmeyer die
industrielle Arbeitsgesellschaft und das Ideal des Virtuosentums, der
Rasanz, der kunstfertigen Fingerfertigkeit zueinander in Beziehung setzte.
1989 folgte „Prestißißimo“, das die „Wiederentdeckung der Langsamkeit in
der Musik“ verkündete.
## Sie wurde nicht nervös
Ziemlich „spinnert“, sagte mein Vater, der Musikwissenschaftler war. Die
Fachwelt nähme sie nicht ernst wegen ihrer kruden Pendeltheorie, die die
Metronomzahlen im Tempo halbierte. „Spinnert, aber interessant“, sagte die
Tochter und interviewte die ehemalige Lehrerin 1987 für die taz.
Es war die Zeit der kritischen Theorien über das Zeitalter der
Beschleunigung: Peter Sloterdijk schrieb über „Mobilmachung“, Paul Virilio
reflektierte den Geschwindigkeitsrausch. All das fand Widerhall in
Wehmeyers Büchern, aber niemand brachte es mit Musiktheorie und der
künstlerischen Praxis in Zusammenhang. „Bach zügig, Mozart äußerst frisch,
Beethoven geduckt dahinsausend, Chopin und Liszt rasant“, so entspreche
klassische Musik unserem Lebensgefühl, konstatierte Wehmeyer. „Schnell muss
Musik gespielt werden, wie Autos und Züge schnell fahren müssen, damit wir
nicht nervös werden.“
Sie wurde nicht nervös, zumindest wirkte es nicht so. Sie machte weiter,
ihr letztes Buch hieß „Langsam leben“. Heute reden wir nicht mehr von
Beschleunigung, sondern mit Hartmut Rosa über notwendige Entschleunigung,
Resonanz, Reduktion. Einfach mal langsam machen reiche nicht, sagt der
Soziologe Rosa, es gehe darum, innehalten zu können, sich in Beziehung zur
Welt, zu sich selbst zu setzen.
Mein Resonanzraum ist die Musik. Grete Wehmeyer hat dafür gesorgt, dass die
Verbindungen nicht gekappt wurden. Sie hat mir die Einzelhaft am Klavier
erspart: stundenlanges Üben ohne Sinn und Verstand, Perfektionismus, ohne
je perfekt sein zu können. Einzelkämpferin am Klavier ist man ohnehin. Den
Einzelkampf habe ich später gegen das Singen im Chor eingetauscht.
Das letzte Mal gesehen habe ich Wehmeyer 2010, ein Jahr vor ihrem Tod. Mit
einem gemeinsamen Freund besuchte ich sie, er hatte uns telefonisch
angekündigt. Nach mehrmaligem Klingeln öffnete sie und ließ uns ein, obwohl
sie sich offensichtlich weder an unsere Verabredung noch an uns erinnerte.
Die Demenz hatte sich in den anderthalb Jahren seit der Beerdigung meiner
Mutter rasant verschlechtert.
Wir machten uns den Kaffee in der Küche selbst, nahmen auf ihrem Sofa im
Salon Platz. Sie überspielte die Situation furchtlos, elegant und charmant,
wie man es von ihr gewohnt war, indem sie immer wieder geschickt etwas
nachfragte, den Faden hier aufnahm und dort verlor, mehr verlor als
aufnahm, bis ein junger Mann vom ambulanten Pflegedienst auftauchte.
Die zwei Flügel standen da, und auf die Frage, ob sie denn noch Klavier
spiele, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken: „Aber natürlich.“ Ein
Leben ohne Klavier, ohne Musik, das hätte ihr nicht gefallen. Musik war
Kommunikation, Spaß, Genuss, kein Drill, ein Leben nicht in Einzelhaft,
sondern eines in Gemeinschaft.
Grete Wehmeyer liegt neben ihren Eltern auf dem Kölner Melatenfriedhof
begraben, unter einem schlichten Holzkreuz mit QR-Code, der von ihrem Leben
berichtet. An ihrem Wohnhaus in der Geibelstraße 5 kann man der dadaesken
„Geschichte der Verbretterung eines Hauses“ lauschen. Ihre Bücher lassen
sich antiquarisch erwerben. Es gibt einen Eintrag auf der [3][Webseite
Fembio] mit Links und Hörbeispielen.
Das Stadtarchiv Köln und die Musikhochschule Hannover mit einem Schwerpunkt
auf Lebenswegen von Musikerinnen haben ihren Nachlass nicht übernehmen
wollen. Das ist schade, aber passt – weil sich Wehmeyer nicht
kategorisieren lässt. Sie war keine verkannte Komponistin, keine berühmte
Pianistin, sie war eine Hypnotiseurin und Klavierpädagogin. Und meine
Lehrerin fürs Leben.
17 Oct 2021
## LINKS
[1] /Liebe-zur-Musik/!5736067
[2] /Neue-Musik-aus-Berlin/!5747538
[3] https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/grete-wehmeyer/
## AUTOREN
Sabine Seifert
## TAGS
Kammermusik
Klavier
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wochentaz
Dokumentarfilm
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Alina Bronsky
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