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# taz.de -- Schweizer Künstlerin Heidi Bucher: Befreiungsrituale im Raum
> Textil als Medium, patriarchalen Strukturen zu entwachsen: Das Haus der
> Kunst in München widmet der Künstlerin Heidi Bucher eine Retrospektive.
Bild: Heidi Bucher, Kleines Glasportal, 1988
Über lange Jahre schien ihr Lebensweg wie der einer typischen Künstlerin im
20. Jahrhundert, die eine eigene Karriere zugunsten des Ehepartners
zurückstellte: Heidi Bucher (1926–1993), in ein großbürgerliches Elternhaus
im schweizerischen Winterthur geboren, wandte sich nach einer
Schneiderlehre den angewandten statt den schönen Künsten zu.
An der Zürcher Kunstgewerbeschule erlernte sie bei dem ehemaligen
Bauhauspädagogen Johannes Itten eine disziplinierte Farb- und Formtheorie,
bei der Textilkünstlerin Elsi Giauque aber auch den freien, konstruktiv
dreidimensionalen Umgang mit dem Material. Frühe Modeskizzen Buchers
beschäftigten sich mit dem Verhüllen des Körpers, oft in vielen Schichten,
er erfährt so geometrische Umformungen statt anatomischer Akzentuierung.
Dieses bildhauerische Abstraktionsprogramm bringt sie in die eheliche
Zusammenarbeit mit dem Schweizer Laien-Künstler Carl Bucher ein. Der
allerdings weiß die „Landing“ titulierten aufblasbaren oder mit Schaumstoff
gefüllten, manchmal fluoreszierenden Großformen oder in Aktion gesetzten
Objekt-Kostüme in der Pop-Art-Szene der ausgehenden 1960er Jahre geschickt
unter seinem Namen zu vermarkten. Heidi Bucher firmiert allenfalls als
künstlerische Gehilfin, oft wird nur ihr Vorname erwähnt.
## Die feministische Kunstszene Kaliforniens
Während gemeinsamer Aufenthalte in den USA lernte Heidi Bucher die
feministische Kunstszene in Kalifornien kennen. Lehrende wie Judy Chicago
oder Miriam Schapiro exerzierten dort 24 Stunden Feminismus, oft als
performative Erkundung des weiblichen Körpers. Das Womanhouse und ähnliche
Formate zeigten Kunst von Frauen, Heidi Bucher beteiligte sich 1972 mit
zwei Bodyshells: überdimensionierte tragbare Schaumstoffobjekte, die den
Körper vollständig verdecken.
Die Rückkehr in die Schweiz bedeutete 1973 auch die Trennung vom Ehemann,
Heidi Bucher war nun eine, [1][wohl nur Insidern bekannte Künstlerin von
knapp 50 Jahren.] Aber sie fand zu einer sehr individuellen künstlerischen
Thematik in einem neuerlich textilen Medium, das sie als Befreiungsrituale
aus patriarchalen Hierarchien und familiärer Konditionierung einzusetzen
wusste.
Sie begann ihre „Häutung“ genannten, realgroßen Abformungen existenter
Räume. Dafür wählte sie ihr erstes eigenes Atelier in Zürich, eine alte
Metzgerei mit Kühlraum, das sie „Borg“ für Geborgenheit nannte, das
Elternhaus, später das Ahnenhaus ihrer Großeltern, die Obermühle.
## Eine Art überdimensionierte Totenmasken
Stets in filmisch dokumentierten Aktionen trug sie in Flüssigkautschuk
getränktes Textil auf Wände und Böden der Räume auf und gab dann noch
weiteres, manchmal mit Pigment oder Perlmutt angereichertes Latex auf die
bekleideten Flächen. Nach der Verfestigung wurden diese Häute,
überdimensionierten Totenmasken gleich, in theatralischen Kraftakten, die
großen körperlichen Einsatz verlangten, von den Wänden und den Böden
gerissen, auch das stets filmisch erfasst.
Mitunter versinkt Bucher in den Häuten, wie sie es in ihren Modezeichnungen
oder Körperhüllen vorweggenommen hat. Aber hinter diesen performativen,
ungemein spektakulären Bildgewalten entstanden fragile, semitransparente
düstere Raumkunstwerke. Wie moribunde Wesen lassen sie die in den Räumen
gelebten und praktizierten sozialen wie körperlichen Machtkonstellationen
erahnen.
Nur folgerichtig, dass Bucher diese psychologische Dimension des Raumes ab
den 1980er Jahren auch in öffentlichen Häusern aufspürte. So suchte sie
1987 die Ruine des Grande Albergo in Brissago am Lago Maggiore auf. Die
vormalige Sommerfrische der europäischen Intelligenz war während des
Faschismus staatliches Internierungsheim jüdischer Frauen und Kinder, die
herrschaftliche Fassade Zeugin einer kollektiven, weitgehend verdrängten
Schuld.
## Der heruntergekommene Nazibau
Oder die psychiatrische Privatklinik der Ärztedynastie Binswanger in
Kreuzlingen: sie therapierte dort ihre prominenten, vom Normverhalten
abweichenden, aber „heilfähigen“ Patient:innen, indem sie deren Körper und
Geist strikt kontrollierte.
Im Münchner Haus der Kunst sind derzeit, neben 150 Exponaten, wesentliche
Häutungen Buchers, so wie von der Künstlerin konzipiert, frei aufgehängt in
ihrer ganzen Aussagedichte zu erfahren. Und man wünschte sich, dieser
heruntergekommene Nazi-Bau möge nie saniert, sondern weiterhin derart
kongenial kritisch aktiviert werden.
7 Oct 2021
## LINKS
[1] /57-Internationale-Biennale-von-Venedig/!5405718
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
zeitgenössische Kunst
Feministische Kunst
Haus der Kunst München
Installation
Feministische Kunst
Kunstausstellung
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