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# taz.de -- Fotoausstellung in Braunschweig: Chile in New York
> Der Fotograf Camilo Vergara dokumentiert seit über 40 Jahren den
> postindustriellen Umbruch in den USA. In Braunschweig werden erstmals in
> Deutschland seine Arbeiten gezeigt.
Bild: Vergara zeigt den Verfall alter Größe wie beim Detroiter Bahnhof
BRAUNSCHWEIG taz | Der Fotograf Camilo José Vergara scheint sich schnell in
neue Umgebungen einfühlen zu können. Zum Rundgang im Braunschweiger Museum
für Photographie erscheint er mit blau-gelbem Eintracht-Schal, den er am
Vortag entdeckt hatte, und neuer Brille, auch sie von einem lokalen
Optiker. Der 1944 in Santiago, Chile, Geborene ist dem Alltag auf der Spur
und interessiert sich auch für trivialkulturelle Äußerungen.
In seinen Fotos sucht Vergara nicht das spektakuläre ästhetische Ereignis.
Seit vier Jahrzehnten verfolgt er in Bildserien die Veränderungen
US-amerikanischer Städte – dem Land, in das er 1965 zog. Als er mit einem
Stipendium nach New York kam, war er erstaunt, dort so viel Chile
anzutreffen, wie er es nennt: die Armut in einigen Vierteln hatte er so
nicht erwartet. Selbst die Straßenkreuzer, in seiner Heimat Inbegriff
amerikanischen Reichtums, standen als Schrott auf Brachflächen herum,
dienten Kindern zum Spielen.
Seine ersten Bildserien zum alten New York entstanden in Harlem, der Bronx
oder auch Manhattan. Sie fangen flüchtige Situationen ein, zumeist sind
Menschen im Blickpunkt – Kinder, Farbige, unterprivilegierte Weiße – und
Bauten im beginnenden Verfallsstadium. Vergara merkte, dass er nicht sozial
Pittoreskem auf der Spur war, sondern immensen gesellschaftlichen
Umwälzungsprozessen und ihren sichtbaren Phänomenen, die in absehbarer Zeit
verschwunden sein werden.
Der studierte Soziologe entwickelte in der Folge eine Systematik der
Dokumentation, die sich an wissenschaftlichen Langzeitbeobachtungen, etwa
der Kartierung ökologischer Gefüge, orientiert. Seine Methode führt ihn
seitdem mitunter über Jahrzehnte immer wieder an einen als exemplarisch
ausgemachten Ort zurück. Aus identischem Standpunkt, mit konstanter
35-mm-Fotooptik legt er so seine Bildarchive an, registriert nüchtern die
Veränderungen.
Im Boom industrieller Produktion, vor allem der Automobilbranche, hatten
sich die amerikanischen Städte im 20. Jahrhundert grundlegend gewandelt.
Eine besser situierte weiße Bevölkerung konnte es sich leisten, in die
Peripherie zu ziehen, längere Fahrten zur Arbeit schienen kein Problem. Mit
dem Einbruch traditioneller Großgewerbe begannen wirtschaftliche und
soziale Probleme der Städte, verstärkt durch verdrängte „Rassenkonflikte�…
Für Camilo Vergara wurden Architekturen und städtebauliche Situationen in
verödenden amerikanischen Innenstädten zu Zeugen dieser postindustriellen
Umbrüche, aber auch ein Spiegel des menschlichen Beharrungsvermögens, sich
noch in unzuträglichen Gegebenheiten einzurichten.
Da ist etwa eine ärmliche Straße in Camden, New Jersey, beidseitig mit
zweigeschossigen Wohnhäusern bebaut. Die mittlerweile nur noch 80.000
Einwohner zählende, ehemals prosperierende Mittelstadt der Musiklabels und
Campbell-Dosensuppen erodiert förmlich, Zahnlücken gleich fehlen von Jahr
zu Jahr mehr Häuser in der Straßenfront. Aber unterdessen bricht sich auch
ein pragmatisches Überlebensmodell Raum: Bäume schießen in den Lücken auf,
die verbliebenen Anlieger gönnen ihren Häusern bescheidenste Renovierungen.
Ultimativer scheint der Verfall, wenn er Einrichtungen des Gemeinwesens
ergreift. Die Bibliothek in Camden, ein imposanter Bau in Neorenaissance,
wurde einst von industriellen Mäzenen gestiftet. Ihr Bildungsauftrag ist
aufgegeben, die Bestände sind längst aufgelöst. Der schwache staatliche
Denkmalschutz kann lediglich einen Bauzaun spendieren – und die Natur
erobert sich langsam die Ruine.
Seine visuellen Bestandsaufnahmen ergänzt Vergara um Interviews und
Notizen, vergleicht sie mit ähnlichen Serien aus anderen Nachbarschaften
und Städten. Nachdem zuerst Architekten und Städteplaner Vergaras
fotografische Dokumentationen wertschätzten, verhalfen ihm ab 1989 sieben
Buchpublikationen zu breiterer Öffentlichkeit. Vergara brach mit einem
nationalen Tabu: Ruinen widersprachen dem Fortschrittsglauben der USA.
So ist die Anerkennung, die ihm inzwischen entgegengebracht wird, ein
interessanter Gradmesser für Mentalitätsverschiebungen im Land: 2013
erhielt Camilo Vergara von Präsident Obama die National Humanities Medal
für seine Sequenzen, die eine sich verändernde Gesellschaft dokumentieren
und zugleich die ausdauernde Energie, die im Verfall aufscheint.
2014 ist sein Werk in die Library of Congress, Washington, aufgenommen
worden, um es für das nationale Gedächtnis zu bewahren. Es befindet sich
dort in so guter Gesellschaft wie der von Walker Evans und Dorothea Lange,
die in den 1930er-Jahren die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf eine
verarmende Landbevölkerung der amerikanischen Südstaaten dokumentierten.
Das Museum für Photographie tat gut daran, dieses fundamentale Werk über
180 Fotografien erstmals in Deutschland zu präsentieren. Es würdigt damit
eine fotografische Praxis, die sich in die lange Tradition
sozialhistorischer Dokumentation einreiht, diese aber nicht mehr vorrangig
am menschlichen Porträt festmacht.
Indem Vergara seinen Blick auf die Großstadt richtet, auf Formen ihres
Verfalls und auch der selbstautorisierten Inbesitznahme, schreibt er hoch
aktuelle globale Gleichnisse humaner wie urbaner Verfasstheit. Und er gibt
der Fotografie eine Ernsthaftigkeit jenseits artistischer Selbstreferenzen
zurück.
## Camilo José Vergara, „Tracking Time. Documenting America’s
Post-Industrial Cities“: bis 11. Dezember, Museum für Photographie
Braunschweig, Ausstellungshalle Hamburger Straße 267; bis 28. Dezember,
Museum für Photographie, Helmstedter Straße 1
28 Oct 2014
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
zeitgenössische Kunst
Fotografie
Fotografie
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