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# taz.de -- Medien und Neutralität: Neutralität gibt es nicht
> Seit vielen Jahren schreibe ich für die taz über Wirtschaftsthemen. Meine
> Mitgliedschaft bei den Grünen war dabei nie ein Problem. Bis jetzt.
Bild: Die Grünen haben 120.000 Mitglieder und die meisten sind Karteileichen
Ich habe immer meine Meinung geschrieben. Dieser Satz ist
selbstverständlich, verliert aber gerade seine Selbstverständlichkeit. Denn
ich bin Mitglied bei den Grünen. Das war nie ein Geheimnis, sondern steht
gleich vorn bei Wikipedia. Lange Zeit hat es jedoch niemanden interessiert,
dass ich einer Partei angehöre. Ich wurde als [1][Journalistin]
wahrgenommen. Doch jetzt wird plötzlich zum Thema, dass ich nicht „neutral“
sein könnte.
Mir scheint daher, dass eine Erklärung nötig ist, wie ich die Rolle einer
Journalistin verstehe. Also werde ich dafür die Meinungsseite nutzen, so
ungewöhnlich dies ist.
Wie gesagt: Ich habe immer geschrieben, was ich richtig fand. Mein Ziel ist
nicht, dass alle LeserInnen meine Meinung übernehmen – sondern ich will
möglichst verständlich erklären, wie [2][Wirtschaft] funktioniert. Diese
Arbeit hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren nicht verändert, aber die
Rolle der Grünen wandelt sich. Sie sind nicht mehr die kleinste
Oppositionspartei, sondern auf dem Weg in die Regierung. Die Grünen gelten
jetzt als Machtfaktor, und dies setzt Fantasien frei. Mir Unbekannte
vermuten plötzlich, dass ich demnächst eine Politkarriere in den
Ministerien anstreben könnte. Offenbar wissen viele Menschen nicht, wie es
in einer Partei zugeht. Sonst kämen sie gar nicht auf die Idee, dass eine
einfache Mitgliedschaft reichen würde, um zu großem Glanz aufzusteigen.
Bei den Grünen bin ich eine Karteileiche. Ich zahle nur meine
Mitgliedsbeiträge und war in den vergangenen zwanzig Jahren auf keiner
einzigen Versammlung. Ich bin nur eines von 120.000 Mitgliedern, die meist
ebenfalls Karteileichen sind.
Diese Erklärung überzeugt häufig nicht, wie ich feststellen musste, sondern
provoziert eine Gegenfrage: Wenn ich als Parteimitglied so unwichtig sei –
warum sei ich dann überhaupt bei den Grünen? Wieder schwingt die Idee mit,
dass sich Engagement nur lohnt, wenn damit eine politische Karriere
verbunden ist.
Dabei ist es ganz schlicht: Ich bin bei den Grünen, weil ich durch das
Waldsterben politisiert wurde. Als 18-Jährige hat es mich schockiert, dass
ein so großes Ökosystem wie der Wald tödlich gefährdet war. Das Thema
Umweltschutz hat mich seither nie wieder losgelassen, und dieses Anliegen
ist bei den Grünen am besten aufgehoben.
(Für alle, die Wikipedia intensiv studieren: Ja, es stimmt, dass ich
zunächst bei der Union war. Denn anfangs dachte ich, dass ausgerechnet die
CDU in Hamburg der ideale Ort wäre, um den Umweltschutz voranzubringen.
Leider fehlt hier der Platz, um diesen Irrtum zu erklären.)
## Eine Grüne, die keine grünen Politiker bejubelt
Ich bin Grüne, doch folgt daraus noch lange nicht, dass ich grüne Politiker
stets bejubeln würde. Trotzdem glauben neuerdings viele, dass ich gehorsam
die Befehle der Parteispitze ausführen würde. Fragt sich nur: welche
Befehle? Bei mir meldet sich nie jemand. Noch nicht einmal eine
Anstecknadel gab es, als ich 25 Jahre grünes Mitglied war. Da ist der
Alpenverein weiter.
Zudem ist es schlicht falsch, dass Parteimitglieder brav ihrer Spitze
folgen würden. Die [3][grüne Basis] ist notorisch selbstbewusst, aber auch
in anderen Parteien geht es hoch her, wie sich derzeit bei der CDU
beobachten lässt.
Jedenfalls habe ich die Grünen nie geschont, die aus meiner Sicht
katastrophale Fehler begangen haben, als sie von 1998 bis 2005 regierten.
In dieser Zeit wurden die Steuern für die Reichen gesenkt, was bis heute
etwa 60 Milliarden Euro pro Jahr kostet – während gleichzeitig die
Langzeitarbeitslosen bestraft wurden, indem sie sich in Hartz IV
wiederfanden. Völlig sinnlos wurde zudem die gesetzliche Rente eingedampft
und die Riester-Rente eingeführt, von der immer klar war, dass sie nicht
funktionieren würde. Das alles habe ich auch damals schon geschrieben.
## Neutralität gibt es nicht
Trotzdem bin ich Grüne geblieben, was ebenfalls viele verwundert. Wie kann
man so enttäuscht sein – und nicht austreten? Ich hoffe eben noch, dass die
Grünen sich besinnen: Es braucht eine Partei, die Umweltschutz und soziale
Gerechtigkeit verbindet.
Das ist jedenfalls meine Perspektive – und auch ein Grund, warum ich bei
den Grünen geblieben bin. Die LeserInnen sollen wissen, dass ich nicht
neutral bin. Denn Neutralität gibt es nicht. Wenn eine objektive Wahrheit
existieren würde, wären Kommentare und Meinungsartikel genauso sinnlos wie
verschiedene Zeitungen, die auf unterschiedliche Lesergruppen zielen. Es
ist ja kein Geheimnis, dass die Welt oder die FAZ eine völlig andere
Weltsicht haben als die taz und ihre GenossInnen.
Als kleines Schlaglicht: Die letzte Umfrage ergab, dass die taz-GenossInnen
zu 57,2 Prozent den Grünen zuneigen, die Linke kommt auf 20,9 Prozent, die
SPD auf 13,2 Prozent, die FDP auf 3,2 Prozent und die Union auf 0,7
Prozent. Bei der FAZ dürfte es umgekehrt sein: viel CDU und keine Linken.
Die Redaktionen spiegeln die Präferenzen ihrer LeserInnen wider und sind
damit alles andere als „neutral“.
Trotzdem hält sich der Fetisch der Neutralität. Jede Nähe zu einer Partei
wird beargwöhnt. Zuletzt traf es Claudia von Brauchitsch, die das dritte
Triell moderiert hat. Sie war nämlich lange Jahre für CDU.TV tätig – und
schon wurde vermutet, dass sie Laschet bevorzugen könnte. Hat sie aber
nicht. Hinterher waren sich alle Kommentatoren einig, dass die
Moderatorinnen des dritten Triells die besten gewesen waren.
Es war sogar hilfreich, dass von Brauchitschs Vergangenheit bekannt war. So
konnte jeder selbst überprüfen, ob sie parteiisch moderierte. Gefährlich
sind nicht die Parteimitglieder, sondern die angeblich „neutralen“
Journalisten, die ganz und gar nicht neutral sind.
Trotzdem: Diese Debatten ermüden. Also habe ich bei den Grünen beantragt,
dass meine Mitgliedschaft ruht. Damit ich endlich wieder ungestört die
Arbeit machen kann, die ich schon seit zwanzig Jahren mache.
14 Oct 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
Bündnis 90/Die Grünen
Journalismus
Parteien
Wirtschaft
Ölpreis
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Grünes Wachstum
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