# taz.de -- Pastor Götz (95) über Gestern und Heute: „Ich pflege meine Spra… | |
> Rudolf Götz ist 95, arbeitet immer noch als Pastor in Fürstenwalde. Er | |
> liest die Bibel täglich in vier Sprachen. Ein Gespräch über Gott und die | |
> Welt. | |
Bild: Rudolf Götz, hier mit seinen Tomatenpflanzen, man muss ihn sich als glü… | |
taz: Herr Götz, Sie haben vor drei Wochen Ihre Abschlusspredigt gehalten. | |
War es wirklich die letzte? | |
Rudolf Götz: Offiziell schon (lacht). Aber nach meiner Predigt kam gleich | |
der Gemeindeleiter und sagte: Aber Herr Pastor, wenn wir in Not sind? Ich | |
sagte, na ja, dann will ich nicht so sein. Wissen Sie, auch Pastoren werden | |
mal krank. | |
Und Sie vertreten sie dann? | |
Ich könnte ja sagen: Pfeif drauf, ich bin Rentner. Aber soll ich hier faul | |
herumsitzen? | |
Also hören Sie nicht auf zu arbeiten? | |
Ich bin lieber in Bewegung und roste nicht. Ich muss kreativ sein, am | |
Schreibtisch sitzen. Ich lese zum Beispiel täglich in meinen Bibeln. Ich | |
will Ihnen mal zeigen, was wir lernen mussten. (Holt zwei Bibeln vom | |
Couchtisch.) Schauen Sie mal: Hier auf der rechten Seite, das ist das | |
Altgriechische, und links ist das Lateinische. Da kann ich immer | |
vergleichen. Und in der anderen Bibel habe ich rechts den russischen und | |
links den englischen Text. Ich pflege meine Sprachen. | |
Brauchen Sie diese Sprachen noch? | |
Wenn ich die Predigt vorbereite, dann lese ich zunächst den altgriechischen | |
Text, denn in dieser Sprache ist das Neue Testament geschrieben worden. | |
Eine meiner letzten Predigten trug die Überschrift: Ich bin so unglücklich, | |
was kann ich tun? Das altgriechische Wort für Glück bedeutet auch | |
Zufriedenheit, dass man sich wohlfühlt, lachen kann und die ganze Welt | |
umarmen möchte. Das ist alles in diesem einen Wort enthalten. Die Deutsche | |
Sprache gibt das gar nicht so her. | |
Ist es schwer, eine Predigt zu schreiben? | |
Es ist ganz unterschiedlich. Die Überschrift einer anderen Predigt lautete | |
mal: Ich habe deine Tränen gesehen. Gott schickt den Propheten Jesaja zum | |
israelischen König Hiskia und sagt ihm, dass er sterben wird. Hiskia wendet | |
sein Angesicht zur Wand und weint bitterlich – Gott sieht das und sagt ihm: | |
Ich schenke dir noch 15 Jahre Lebenszeit, weil ich deine Tränen gesehen | |
habe. Meine Predigt handelte davon, dass jeder Mensch weint. Im | |
altgriechischen Wort für weinen schwingt mit, dass beim Weinen alles | |
beteiligt ist: Herz, Lunge, alle Organe, Muskeln, alles. Na ja. Jedenfalls | |
war ich mit dieser Predigt in einer Stunde fertig. Wenn mich ein Text | |
ergreift, ja dann geht das schnell. Aber manchmal habe ich mich auch | |
schwergetan mit Themen. Jede Predigt braucht eine Linie, einen | |
Grundgedanken. Und: je einfacher, desto besser. Keine hohen Worte. | |
Hätten Sie in letzter Zeit beispielsweise über Afghanistan gepredigt? | |
Ja. Ich hätte über Hilfsbereitschaft gesprochen. Zur Zeit der DDR musste | |
ich oft vorsichtig sein. Unsere Kinder hatten gute Noten, aber die beiden | |
Söhne durften nicht zur Erweiterten Oberschule, weil sie nicht in der FDJ | |
waren. Das habe ich denen oft bei der Predigt aufs Brot geschmiert. Darum | |
gibt es auch eine Akte über mich. | |
Haben Sie die gelesen? | |
Ja, das war eigenartig (lacht). Die wussten alles. | |
Sie sind ja bei einer Freikirche, bei den Siebenten-Tags-Adventisten. Gibt | |
es da eigentlich große Unterschiede zu den Volkskirchen? | |
Kaum. Wir halten den Samstag heilig, aber das sind Äußerlichkeiten. Wie bei | |
den anderen steht bei uns Christus im Mittelpunkt. | |
Waren Sie vor der Wende am kirchlichen Widerstand beteiligt? | |
Ja, ich habe friedlich gestreikt. Tausende waren auf der Straße, und die | |
Pastoren immer vorneweg. Aber als die jungen Leute Fenster einschmeißen | |
wollten, haben wir das nicht zugelassen. Wenn man Kerzen in der Hand hat, | |
kann man keine Steine werfen. | |
Haben Sie als Pastor auch mit Geflüchteten gearbeitet? | |
Wir sind alle Flüchtlinge auf dieser Erde. Es gab so viele Kriege und | |
Verpflanzungen. Nach dem Mauerfall habe ich in einem Asylheim als | |
Dolmetscher gearbeitet. Ich hatte dort auch Ärger, manchmal wollten sie | |
mich sogar verhauen, aber ich habe immer alle gut behandelt. Menschen aus | |
33 Nationen, das hat meinen Horizont erweitert. | |
Sicher war es hilfreich, dass Sie viele Sprachen sprechen? | |
Ich hatte beim Studium das Englische liegen gelassen und dann viel | |
vergessen. Also musste ich mich mit 56 Jahren noch mal auf den Hosenboden | |
setzen und am Abend an der Hochschule das Englisch-Abitur machen. Wir haben | |
aber auch viele Russendeutsche in den Gemeinden. (Das Telefon klingelt, | |
Rudolf Götz entschuldigt sich kurz.) | |
Sie bekommen wohl noch viele Anrufe aus Ihrer Gemeinde? | |
Ja, sie rufen alle an, vor allem die Russendeutschen. Pastor Götz, können | |
Sie mir helfen? Pastor Götz, wir haben Probleme! Pastor Götz, können wir zu | |
Ihnen kommen? Ja, und dann sitze ich hier mit ihnen (lacht). | |
Wie kam es denn dazu, dass Sie so gut Russisch können? | |
Wir hatten während des Studiums einen tollen Dozenten. Er hat uns ein gutes | |
Fundament gelegt. (Er beginnt, ein Verb auf Russisch zu deklinieren.) | |
Später habe ich bewusst versucht, die Sprache weiterzuentwickeln. Und hier, | |
in der DDR, waren ja so viele russische Soldaten. Manchmal habe ich sie zu | |
uns nach Hause eingeladen. Wenn ich in einem Geschäft war und Soldaten | |
getroffen habe, habe ich sofort meine Hilfe angeboten. Einmal um zu lernen, | |
und zweitens, um Menschlichkeit zu zeigen. Hier ging es auch im Werte. Sie | |
konnten ja nichts dafür, dass sie als Soldaten hier waren.Wissen Sie, ich | |
war ja auch als junger Soldat allein in Frankreich. | |
Möchten Sie von dieser Zeit auch ein wenig erzählen? | |
Wissen Sie, meine Dame: Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen. Aber ich | |
höre immer wieder Menschen sagen, meine Generation sterbe aus. Das macht | |
mir Mut zu erzählen. | |
Vielleicht fangen Sie einfach am Anfang an? | |
Gern. Ich bin Bauernkind, Wolhyniendeutscher. Deshalb liebe ich bis heute | |
die Gartenarbeit, baue immer noch selbst meine Tomaten und Kartoffeln an. | |
Meine Großeltern sind aus Süddeutschland nach Wolhynien ausgewandert, also | |
in die heutige Ukraine. Im Ersten Weltkrieg sind die Wolhyniendeutschen | |
nach Sibirien verbannt worden. Meine Familie auch. Meine Großeltern sind in | |
der sibirischen Stadt Orenburg an Hunger gestorben, auch andere | |
Familienmitglieder haben es nicht überlebt. 1920 ist Wolhynien zwischen | |
Polen und Russland aufgeteilt worden. Im polnischen Teil hatten die | |
polnischen Freiheitskämpfer die Landwirtschaften der Wolhyniendeutschen | |
besetzt. Mein Vater, der bei seiner Rückkehr Anfang zwanzig war, musste von | |
vorn beginnen. Als Kinder mussten wir in den Schulen Polnisch lernen. Das | |
war für uns anfangs schwer, aber Kinder lernen schnell und nach zwei Jahren | |
konnten wir so gut sprechen wie die polnischen Kinder. | |
Können Sie etwa auch noch Polnisch? | |
Die junge Frau, die mir im Haushalt hilft, bat mich kürzlich, sie in Polen | |
auf Polnisch zu trauen. Da waren 70 Gäste, alle schön gekleidet, in einem | |
herrlichen Park. Ich habe auf Polnisch gepredigt. Und ich wurde verstanden, | |
zumindest haben sie das behauptet. (lacht). Aber ich musste mich natürlich | |
sehr gut vorbereiten. | |
Glauben Sie, dass Ihr guter Draht zu den Menschen, die aus Russland kamen, | |
auch daher kam? Dass es Parallelen zwischen deren Geschichten und Ihrer | |
Geschichte als Wolhyniendeutscher gibt? | |
Es ging mir eher darum zu helfen, entgegen zu kommen. Meine eigene | |
Geschichte habe ich längst vergessen. (lächelt verschmitzt) | |
Sind Sie noch einmal in Wolhynien gewesen? | |
Ja, und ich wusste noch ganz genau, wo alles gestanden hatte: das Haus, der | |
Stall, die Scheune. Ich war ein Teenager, als wir Wolhynien verlassen und | |
uns rund ums heutige Łódź ansiedeln mussten. Als mein Zwillingsbruder und | |
ich 17 Jahre alt waren, hat der Vater uns dann in die Agrarfachschule | |
geschickt. Und mit 19 bin ich Soldat geworden. 1943 war das. Ja. | |
Zwei Jahre vor Kriegsende. | |
Es war ein schrecklicher Krieg. Mein Cousin und ich, wir haben in Marburg | |
an der Lahn eine harte Ausbildung bekommen, immer an den Waffen, an der | |
Vierlingsflak zur Abwehr von Tieffliegern. Dann ging es über Fulda nach | |
Frankreich, zunächst an die spanische Grenze, an den Golf von Biskaya, um | |
Bunker auszubauen. Wir haben in Zelten geschlafen, wir hatten immer Hunger. | |
Wir waren Besatzungsmacht und nicht beliebt, wenn wir mal Ausgang hatten, | |
sagten die Franzosen „Allemand! Boche!“ zu uns. Wir haben ihnen das aber | |
nicht übel genommen, denn natürlich haben sich die deutschen Soldaten | |
überall furchtbar verhalten, haben Dörfer angezündet und Frauen | |
vergewaltigt. Da ist viel Unrecht geschehen. Ich schäme mich als Christ bis | |
heute sehr dafür. | |
Wie ging es weiter für Sie? | |
Als die Amerikaner in Frankreich landeten, mussten wir Tag und Nacht bis in | |
die Vogesen marschieren und dann Wochen und Monate im Schützengraben | |
kämpfen. Wir haben jede Minute gedacht, jetzt ist es aus. Ich konnte leider | |
gut schießen, also musste ich einen Lehrgang zum Scharfschützen machen, als | |
Christ! Sie wollten meinen Cousin und mich sogar bei der SS haben. Da sind | |
wir weggelaufen. Das waren brutale Soldaten. | |
Haben Sie jemanden getötet? | |
Ich hätte an der Front viele Menschen erschießen können, Sie können mir | |
glauben. Ich hatte ein Schnellfeuergewehr. Einmal hat der Feldwebel einen | |
Schuss durchs Handgelenk bekommen und geschrien: „Götz, schießen Sie!“ Da | |
war eine Wiese vor uns, und da kamen sie ungedeckt. Ich habe geschrien: | |
„Ich schieße ja!“ Aber ich habe immer danebengeschossen. Bei diesem | |
Wirrwarr konnte das niemand sehen. Ich kann mit gutem Wissen sagen, dass | |
ich niemanden bewusst erschossen habe. Allerdings war ich auch kurze Zeit | |
bei den Panzern, da mussten wir auf amerikanische Panzer schießen. Ich | |
hoffe bis heute, dass die Soldaten heil rausgekommen sind. | |
Haben Sie nie an Gott gezweifelt? | |
Nie. Wenn die Bomben schwiegen, habe ich immer in der Bibel gelesen. Das | |
hat mich getröstet. | |
Wie ist der Krieg für Sie ausgegangen? | |
Mein Cousin ist von einer Granate getroffen worden, er war etwa vier Meter | |
von mir entfernt. Er war gleich tot. Ich habe ein daumenlanges Geschoss in | |
die Wange und einen weiteren Splitter in den Hinterkopf bekommen. Der eine | |
hat den Kiefer verletzt und zwei Zähne weggeschlagen, der andere die | |
Schädeldecke durchschlagen, aber das Gehirn blieb unverletzt. Ich musste | |
ins Lazarett in Bad Nauheim. Im März 1945 kam ich in Kriegsgefangenschaft. | |
Wohin kamen Sie? | |
Ich wurde auf die andere Seite des Rheins geschafft. In meinem Lager waren | |
120.000 gefangene Soldaten, ja, Sie hören richtig. Die meisten hatten keine | |
Zelte und lagen bei Frost und Schnee unter freiem Himmel auf der blanken | |
Erde, Mann an Mann, damit es ein bisschen wärmer war. Und ich war noch | |
nicht ganz gesund, das war schlimm. Nach zwei, drei Tagen hatten wir Läuse, | |
Läuse, Läuse. Am Anfang haben wir vier kleine Konservenbüchsen am Tag | |
bekommen, vielleicht interessiert Sie das, in einer war ein bisschen Ei mit | |
Kartoffeln, wie Kartoffelsalat, so etwas, oder Reis mit Tomaten, | |
Limonadenpulver, das war ja gut, und Bohnenkaffee, aber wir konnten ja | |
nicht kochen, wie denn, dann haben wir das runter gekaut. Nach dem | |
Waffenstillstand haben wir am Tag manchmal vier rohe Kartoffeln bekommen, | |
manchmal drei, und am Abend ein Stückchen schneeweißes Kommissbrot. Und | |
dann mussten zehn Mann ein Stück Teilen. Da ist eine Decke ausgebreitet | |
worden, und dann wurden mit dem Messer Zeichen gemacht, dann war eine | |
Scheibe zu breit und man musste von vorn anfangen, man hat mit Andacht | |
gegessen, kein Krümelchen durfte runter fallen, und wenn, dann hat man es | |
von der Erde aufgehoben. Ich schäme mich zu erzählen, wie egoistisch der | |
Mensch ist, wenn er Hunger hat. Erst im Mai wurden die ersten Gefangenen | |
entlassen. Zuerst waren die Eisenbahner, die Grubenleute und die Landwirte | |
dran, wegen der Infrastruktur. | |
Und weil Sie, bevor Sie in den Krieg mussten, Landwirt waren, sind Sie | |
relativ bald freigekommen? | |
Ja, und zwar ist da immer am Abend durch die Lautsprecher aufgerufen | |
worden. Und da hörte ich eines Tages im Juli meinen Namen. „Grenadier | |
Rudolf Götz, morgen zur Baracke soundso.“ Das war eine große Freude. Ein | |
Tag des Glücks. | |
Was passierte dann? | |
Ich musste vor Ort ein Jahr lang in Bad Nauheim in der Landwirtschaft | |
arbeiten. | |
Wann haben Sie Ihre Familie wiedergefunden? | |
Ich habe ja nie aufgehört, zu Gottesdiensten zu gehen. Dort hat man sich | |
immer ausgetauscht, über die Flucht, woher man kommt und, und, und. So | |
hatte ich mich mit zwei Krankenschwestern bekannt gemacht. Die kamen dann | |
beim Gottesdienst in ihrem Heimatort mit einer anderen Krankenschwester ins | |
Gespräch. Das war meine Schwester. Meinen Zwillingsbruder, der in den USA | |
in Kriegsgefangenschaft war und nach seiner Rückkehr in Bottrop in der | |
Zeche gearbeitet hat, habe ich durch das Rote Kreuz gefunden. Wir vier | |
Geschwister haben uns immer gut vertragen. | |
Und Ihre Eltern? | |
Meine Schwester hatte inzwischen herausbekommen, dass sie mit meiner | |
kleinsten Schwester geflüchtet waren und nach Oberthau bei Schkeuditz | |
gekommen sind. 1946 sind wir zu ihnen gefahren. Und ich habe da zunächst in | |
der Landwirtschaft mitgearbeitet. Aber eines Tages hat uns mal ein Pfarrer | |
besucht und gesagt: Hei, Rudi Götz, ich will dich nach Friedensau schicken. | |
Da ist eine theologische Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten. Da habe | |
ich dann eine Schnupperwoche gemacht und gesehen, wie die Studenten | |
Sprachen und Geschichte lernten. Das hat mich so interessiert! Also habe | |
ich 1950 angefangen, Theologie zu studieren. Da war ich 24 Jahre alt. | |
Haben Sie auch wegen des Kriegs Theologie studiert? | |
Wohl weniger, aber vielleicht zum Teil. Ich habe gesehen, wie die Menschen | |
sterben, und das hat mir so weh getan. Aber nein. Das war es nicht nur. | |
Gott und die Welt, das hat mich interessiert. Ich war neugierig. Ich wollte | |
lernen. | |
War es für einen Landwirt eine Art sozialer Aufstieg, Theologie zu | |
studieren? | |
Ich hätte als Landwirt in der DDR keine Perspektiven gehabt, denn die | |
Landwirtschaften wurden dann ja alle kollektiviert, die meiner Eltern auch. | |
Aber daran habe ich gar nicht gedacht, als ich mit dem Studium begann. | |
Hatten Sie ein Stipendium? | |
Ja, aber das war wenig. Auf dem Campus gab es Landwirtschaft eine große | |
Gärtnerei. Man hat gern Studenten genommen, die schon einen Beruf hatten, | |
mit der Begründung, wer einen Beruf hat, der versteht die Kirchenleute | |
besser. Nun ja, ich war ja ausgebildeter Landwirt und habe in der Gärtnerei | |
gearbeitet. Man musste sehr fleißig sein. Der Tag begann mit dem Wecken um | |
kurz vor sechs und endete um dreiviertel zehn am Abend. | |
Sie waren sicher begabt? | |
Ach, das will ich gar nicht sagen (lacht). Viele sind mit den Sprachen | |
nicht zurechtgekommen. Ich habe mich für die Sprachen sehr interessiert, | |
das hat mich wohl gerettet. | |
Bis wann haben Sie Theologie studiert? | |
Bis 1955. Und dann habe ich meine erste Stelle in Erfurt bekommen. Eine | |
wunderbare Stadt. Aber kurz zuvor – Sie werden lachen … | |
… ja? | |
An unserem Campus haben ja auch junge Damen studiert. Und viele haben sich | |
auch während des Studiums verliebt, sind dann aber auf der Strecke | |
geblieben. Also dachte ich, dass ich mich besser nicht verliebe. Aber dann, | |
als ich nur noch ein halbes Jahr zu studieren hatte, da sah ich ein junges | |
Mädchen und dachte sofort: Oh, ist das ein schickes Mädchen, die gefällt | |
mir! In der Mensa kamen wir ins Plaudern. Und da fragten mich meine | |
Kameraden: Hei Rudi, du bist wohl verliebt? Und ich sage: Ja, ich bin | |
verliebt. Und da sagt mein Freund zu mir, der, der Chef in der Bibliothek | |
war: Ich gebe dir den Schlüssel, dann könnt ihr euch da mal richtig treffen | |
und euch erzählen. Da habe ich mich gut angezogen (lacht). Wir hatten ja | |
als Studenten nicht viel, aber einen Anzug hatte ich doch. Und ich habe ihr | |
einen Brief geschrieben, wann und wo wir uns treffen können. Und ich sitze | |
also in der Bibliothek und schaue aus dem Fenster und denke, sie kommt | |
nicht. Ich bin böse geworden. Aber nach zehn Minuten sehe ich sie über den | |
Hof laufen, schön angezogen. Und so haben wir uns verliebt und sie ist | |
meine Frau geworden. 2014 ist sie gestorben. Ich weine noch immer jeden Tag | |
um sie. | |
Was hat Ihre Frau in Friedensau gemacht? | |
Sie wollte Krankenschwester werden, hat das aber aufgegeben. Und wir haben | |
in Erfurt mit wenig angefangen. Die Gehälter der Pastoren in der DDR waren | |
schlecht, gleich welcher Couleur, katholisch, evangelisch, freikirchlich. | |
289 Ostmark, das war alles. Aber es war auch gut so. Wir haben in der | |
Kirche den Grundsatz, nicht mehr zu verdienen als ein durchschnittlicher | |
Handwerker. Es soll Gerechtigkeit sein. Wir haben also nicht gemurrt – und | |
meine Frau hat als Schneiderin dazuverdient. Wissen Sie, meine Dame, ich | |
bin gegen diese ganze kapitalistische Ausbeutung. Diese Raffgier der | |
Menschen, mich ärgert das! Ich sage immer in meinen Predigten: Schwestern | |
und Brüder, Teilen ist angesagt! | |
Da haben Sie recht. Wie ging es denn weiter für Sie? | |
Ich wurde oft versetzt. Von Erfurt acht Jahre nach Sondershausen. Dann ging | |
es sechs Jahre nach Arnstadt. Dann acht Jahre Neuruppin, dann zwölf Jahre | |
Finsterwalde. Und schließlich kamen wir hierher, nach Fürstenwalde. | |
Sie wurden immer wieder entwurzelt, fast wie Ihre Eltern. | |
Es war schon schwer, einpacken und auspacken, einpacken und auspacken. Es | |
gab immer Tränen, von uns und auch von den Gemeinden. Und dann die Kinder, | |
die gute Zeugnisse hatten, die hat man dann in den neuen Schulen nicht | |
respektiert, die mussten sich das alles immer wieder neu erobern. Als wir | |
in Fürstenwalde angekommen sind, war ich 64 und kurz davor, in den | |
Ruhestand zu gehen. Da haben wir beschlossen, dieses Haus zu bauen. | |
Aber Sie sind dann gar nicht in den Ruhestand gegangen? | |
Offiziell schon. Aber dann kam die Perestroika, und in Russland sind die | |
Kolchosen und Betriebe zusammengebrochen. Die Kirche bekam von der | |
Bundesregierung 3,5 Millionen, um einzukaufen. Und dann haben die Herren | |
gehört, dass ich mit der russischen Sprache befasst war, und haben mich | |
angesprochen: Herr Pastor, würden Sie die erste Spendenaktion übernehmen? | |
Ich war erschrocken, wusste nicht, ob ich das schaffe. Ich habe das alles | |
mit meiner Frau besprochen und bin dann doch nach Moskau geflogen, um alles | |
vorzubereiten. Und dann hat die Kirche große Lastwagen gechartert und mit | |
Lebensmittelpaketen bepackt, in jedem Paket waren zehn Kilogramm, jedes | |
enthielt Mehl, Zucker, Milchpulver, Bohnen, Margarine, Büchsen und alles, | |
was dazu gehört. Die Lastwagen habe ich dann alle in Brest-Litowsk, heute | |
Brest, abgeholt und an verschiedene Orte begleitet. 1991 war das. | |
Wo haben Sie sie hingebracht? | |
Zum Beispiel nach Gorki, heute Nischni Nowgorod. Das Rote Kreuz hat uns | |
geholfen, die wussten, wo die armen, kinderreichen Familien sind, die | |
Rentner und Studenten, die zuerst Pakete bekommen sollten. Das war | |
natürlich eine große Hilfe. Und in jener Zeit: Was gab es? Ich bin damals | |
viel in Moskau in den Einkaufsläden herumgelaufen. Kraut. Und Möhren. Es | |
hieß immer: Unsere Supermärkte sind leer gefegt. | |
Haben Sie auch selbst Pakete verteilt? | |
Ja. Eines Tages stehe ich am Rande eines Marktplatzes, und da kommt eine | |
alte Frau. Es schneit. Und es ist kalt. Über ihre Schuhe hat sie Strümpfe | |
gezogen, damit sie nicht fällt. Und da spreche ich sie an. Großmutter, | |
wohin? Sie: Ich will ein bisschen Milch und Brot kaufen. So vergrämt, so | |
vergrämt. Ich rufe meinen Leuten zu, sie sollen ein Paket bringen und sage | |
zu ihr, dass der junge Mann es ihr ins Quartier tragen wird. Sie ruft: | |
Gott! Ein Engel ist gekommen! Wissen Sie, meine Dame, so etwas vergisst man | |
nicht. Ich bin dann noch einige Male vond er Kirche nach Russland geschickt | |
worden und habe das Land t kennen gelernt. Und da ist mir erst bewusst | |
geworden, was uns mein Russischdozent damals gesagt hat: Ihr lieben | |
Studenten werden noch erfahren, wie wichtig dir russische Sprache ist. | |
Lernt! Lernt! | |
Würden Sie heute gern noch einmal nach Russland fahren? | |
Das wäre schön. Aber ich würde auch gern noch einmal nach Frankreich | |
fahren. | |
Herr Götz, eine Frage hätte ich am Ende noch: Würden Sie in Ihrem Leben | |
alles noch mal genauso machen? | |
Musik hat mich interessiert, aber vielleicht hätte es nicht ganz gereicht. | |
Ich denke, ich würde wieder Pastor werden, obwohl es eine harte Arbeit ist. | |
Wissen Sie: Trauungen habe ich sehr gern gemacht, wenn eine Frau schön | |
geschmückt in die Kirche kommt, die kleinen Mädchen vorneweg und so weiter, | |
und ich bin ihnen entgegengekommen, habe sie in die Kirche geführt, habe | |
gepredigt, sie gesegnet, das war immer schön. Aber ich habe in meinem Leben | |
auch viele Menschen beerdigen müssen. Es war mir immer schwer. Ich musste | |
bei jeder Beerdigung gebetet, Gott gib mir Kraft, dass ich am Grab Trost | |
spenden kann. Auch wenn mir jemand sein Herz ausschüttet, bewegt mich das | |
bis in die Nacht hinein. | |
3 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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