Introduction
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# taz.de -- Pastor Götz (95) über Gestern und Heute: „Ich pflege meine Spra…
> Rudolf Götz ist 95, arbeitet immer noch als Pastor in Fürstenwalde. Er
> liest die Bibel täglich in vier Sprachen. Ein Gespräch über Gott und die
> Welt.
Bild: Rudolf Götz, hier mit seinen Tomatenpflanzen, man muss ihn sich als glü…
taz: Herr Götz, Sie haben vor drei Wochen Ihre Abschlusspredigt gehalten.
War es wirklich die letzte?
Rudolf Götz: Offiziell schon (lacht). Aber nach meiner Predigt kam gleich
der Gemeindeleiter und sagte: Aber Herr Pastor, wenn wir in Not sind? Ich
sagte, na ja, dann will ich nicht so sein. Wissen Sie, auch Pastoren werden
mal krank.
Und Sie vertreten sie dann?
Ich könnte ja sagen: Pfeif drauf, ich bin Rentner. Aber soll ich hier faul
herumsitzen?
Also hören Sie nicht auf zu arbeiten?
Ich bin lieber in Bewegung und roste nicht. Ich muss kreativ sein, am
Schreibtisch sitzen. Ich lese zum Beispiel täglich in meinen Bibeln. Ich
will Ihnen mal zeigen, was wir lernen mussten. (Holt zwei Bibeln vom
Couchtisch.) Schauen Sie mal: Hier auf der rechten Seite, das ist das
Altgriechische, und links ist das Lateinische. Da kann ich immer
vergleichen. Und in der anderen Bibel habe ich rechts den russischen und
links den englischen Text. Ich pflege meine Sprachen.
Brauchen Sie diese Sprachen noch?
Wenn ich die Predigt vorbereite, dann lese ich zunächst den altgriechischen
Text, denn in dieser Sprache ist das Neue Testament geschrieben worden.
Eine meiner letzten Predigten trug die Überschrift: Ich bin so unglücklich,
was kann ich tun? Das altgriechische Wort für Glück bedeutet auch
Zufriedenheit, dass man sich wohlfühlt, lachen kann und die ganze Welt
umarmen möchte. Das ist alles in diesem einen Wort enthalten. Die Deutsche
Sprache gibt das gar nicht so her.
Ist es schwer, eine Predigt zu schreiben?
Es ist ganz unterschiedlich. Die Überschrift einer anderen Predigt lautete
mal: Ich habe deine Tränen gesehen. Gott schickt den Propheten Jesaja zum
israelischen König Hiskia und sagt ihm, dass er sterben wird. Hiskia wendet
sein Angesicht zur Wand und weint bitterlich – Gott sieht das und sagt ihm:
Ich schenke dir noch 15 Jahre Lebenszeit, weil ich deine Tränen gesehen
habe. Meine Predigt handelte davon, dass jeder Mensch weint. Im
altgriechischen Wort für weinen schwingt mit, dass beim Weinen alles
beteiligt ist: Herz, Lunge, alle Organe, Muskeln, alles. Na ja. Jedenfalls
war ich mit dieser Predigt in einer Stunde fertig. Wenn mich ein Text
ergreift, ja dann geht das schnell. Aber manchmal habe ich mich auch
schwergetan mit Themen. Jede Predigt braucht eine Linie, einen
Grundgedanken. Und: je einfacher, desto besser. Keine hohen Worte.
Hätten Sie in letzter Zeit beispielsweise über Afghanistan gepredigt?
Ja. Ich hätte über Hilfsbereitschaft gesprochen. Zur Zeit der DDR musste
ich oft vorsichtig sein. Unsere Kinder hatten gute Noten, aber die beiden
Söhne durften nicht zur Erweiterten Oberschule, weil sie nicht in der FDJ
waren. Das habe ich denen oft bei der Predigt aufs Brot geschmiert. Darum
gibt es auch eine Akte über mich.
Haben Sie die gelesen?
Ja, das war eigenartig (lacht). Die wussten alles.
Sie sind ja bei einer Freikirche, bei den Siebenten-Tags-Adventisten. Gibt
es da eigentlich große Unterschiede zu den Volkskirchen?
Kaum. Wir halten den Samstag heilig, aber das sind Äußerlichkeiten. Wie bei
den anderen steht bei uns Christus im Mittelpunkt.
Waren Sie vor der Wende am kirchlichen Widerstand beteiligt?
Ja, ich habe friedlich gestreikt. Tausende waren auf der Straße, und die
Pastoren immer vorneweg. Aber als die jungen Leute Fenster einschmeißen
wollten, haben wir das nicht zugelassen. Wenn man Kerzen in der Hand hat,
kann man keine Steine werfen.
Haben Sie als Pastor auch mit Geflüchteten gearbeitet?
Wir sind alle Flüchtlinge auf dieser Erde. Es gab so viele Kriege und
Verpflanzungen. Nach dem Mauerfall habe ich in einem Asylheim als
Dolmetscher gearbeitet. Ich hatte dort auch Ärger, manchmal wollten sie
mich sogar verhauen, aber ich habe immer alle gut behandelt. Menschen aus
33 Nationen, das hat meinen Horizont erweitert.
Sicher war es hilfreich, dass Sie viele Sprachen sprechen?
Ich hatte beim Studium das Englische liegen gelassen und dann viel
vergessen. Also musste ich mich mit 56 Jahren noch mal auf den Hosenboden
setzen und am Abend an der Hochschule das Englisch-Abitur machen. Wir haben
aber auch viele Russendeutsche in den Gemeinden. (Das Telefon klingelt,
Rudolf Götz entschuldigt sich kurz.)
Sie bekommen wohl noch viele Anrufe aus Ihrer Gemeinde?
Ja, sie rufen alle an, vor allem die Russendeutschen. Pastor Götz, können
Sie mir helfen? Pastor Götz, wir haben Probleme! Pastor Götz, können wir zu
Ihnen kommen? Ja, und dann sitze ich hier mit ihnen (lacht).
Wie kam es denn dazu, dass Sie so gut Russisch können?
Wir hatten während des Studiums einen tollen Dozenten. Er hat uns ein gutes
Fundament gelegt. (Er beginnt, ein Verb auf Russisch zu deklinieren.)
Später habe ich bewusst versucht, die Sprache weiterzuentwickeln. Und hier,
in der DDR, waren ja so viele russische Soldaten. Manchmal habe ich sie zu
uns nach Hause eingeladen. Wenn ich in einem Geschäft war und Soldaten
getroffen habe, habe ich sofort meine Hilfe angeboten. Einmal um zu lernen,
und zweitens, um Menschlichkeit zu zeigen. Hier ging es auch im Werte. Sie
konnten ja nichts dafür, dass sie als Soldaten hier waren.Wissen Sie, ich
war ja auch als junger Soldat allein in Frankreich.
Möchten Sie von dieser Zeit auch ein wenig erzählen?
Wissen Sie, meine Dame: Ich möchte nicht im Mittelpunkt stehen. Aber ich
höre immer wieder Menschen sagen, meine Generation sterbe aus. Das macht
mir Mut zu erzählen.
Vielleicht fangen Sie einfach am Anfang an?
Gern. Ich bin Bauernkind, Wolhyniendeutscher. Deshalb liebe ich bis heute
die Gartenarbeit, baue immer noch selbst meine Tomaten und Kartoffeln an.
Meine Großeltern sind aus Süddeutschland nach Wolhynien ausgewandert, also
in die heutige Ukraine. Im Ersten Weltkrieg sind die Wolhyniendeutschen
nach Sibirien verbannt worden. Meine Familie auch. Meine Großeltern sind in
der sibirischen Stadt Orenburg an Hunger gestorben, auch andere
Familienmitglieder haben es nicht überlebt. 1920 ist Wolhynien zwischen
Polen und Russland aufgeteilt worden. Im polnischen Teil hatten die
polnischen Freiheitskämpfer die Landwirtschaften der Wolhyniendeutschen
besetzt. Mein Vater, der bei seiner Rückkehr Anfang zwanzig war, musste von
vorn beginnen. Als Kinder mussten wir in den Schulen Polnisch lernen. Das
war für uns anfangs schwer, aber Kinder lernen schnell und nach zwei Jahren
konnten wir so gut sprechen wie die polnischen Kinder.
Können Sie etwa auch noch Polnisch?
Die junge Frau, die mir im Haushalt hilft, bat mich kürzlich, sie in Polen
auf Polnisch zu trauen. Da waren 70 Gäste, alle schön gekleidet, in einem
herrlichen Park. Ich habe auf Polnisch gepredigt. Und ich wurde verstanden,
zumindest haben sie das behauptet. (lacht). Aber ich musste mich natürlich
sehr gut vorbereiten.
Glauben Sie, dass Ihr guter Draht zu den Menschen, die aus Russland kamen,
auch daher kam? Dass es Parallelen zwischen deren Geschichten und Ihrer
Geschichte als Wolhyniendeutscher gibt?
Es ging mir eher darum zu helfen, entgegen zu kommen. Meine eigene
Geschichte habe ich längst vergessen. (lächelt verschmitzt)
Sind Sie noch einmal in Wolhynien gewesen?
Ja, und ich wusste noch ganz genau, wo alles gestanden hatte: das Haus, der
Stall, die Scheune. Ich war ein Teenager, als wir Wolhynien verlassen und
uns rund ums heutige Łódź ansiedeln mussten. Als mein Zwillingsbruder und
ich 17 Jahre alt waren, hat der Vater uns dann in die Agrarfachschule
geschickt. Und mit 19 bin ich Soldat geworden. 1943 war das. Ja.
Zwei Jahre vor Kriegsende.
Es war ein schrecklicher Krieg. Mein Cousin und ich, wir haben in Marburg
an der Lahn eine harte Ausbildung bekommen, immer an den Waffen, an der
Vierlingsflak zur Abwehr von Tieffliegern. Dann ging es über Fulda nach
Frankreich, zunächst an die spanische Grenze, an den Golf von Biskaya, um
Bunker auszubauen. Wir haben in Zelten geschlafen, wir hatten immer Hunger.
Wir waren Besatzungsmacht und nicht beliebt, wenn wir mal Ausgang hatten,
sagten die Franzosen „Allemand! Boche!“ zu uns. Wir haben ihnen das aber
nicht übel genommen, denn natürlich haben sich die deutschen Soldaten
überall furchtbar verhalten, haben Dörfer angezündet und Frauen
vergewaltigt. Da ist viel Unrecht geschehen. Ich schäme mich als Christ bis
heute sehr dafür.
Wie ging es weiter für Sie?
Als die Amerikaner in Frankreich landeten, mussten wir Tag und Nacht bis in
die Vogesen marschieren und dann Wochen und Monate im Schützengraben
kämpfen. Wir haben jede Minute gedacht, jetzt ist es aus. Ich konnte leider
gut schießen, also musste ich einen Lehrgang zum Scharfschützen machen, als
Christ! Sie wollten meinen Cousin und mich sogar bei der SS haben. Da sind
wir weggelaufen. Das waren brutale Soldaten.
Haben Sie jemanden getötet?
Ich hätte an der Front viele Menschen erschießen können, Sie können mir
glauben. Ich hatte ein Schnellfeuergewehr. Einmal hat der Feldwebel einen
Schuss durchs Handgelenk bekommen und geschrien: „Götz, schießen Sie!“ Da
war eine Wiese vor uns, und da kamen sie ungedeckt. Ich habe geschrien:
„Ich schieße ja!“ Aber ich habe immer danebengeschossen. Bei diesem
Wirrwarr konnte das niemand sehen. Ich kann mit gutem Wissen sagen, dass
ich niemanden bewusst erschossen habe. Allerdings war ich auch kurze Zeit
bei den Panzern, da mussten wir auf amerikanische Panzer schießen. Ich
hoffe bis heute, dass die Soldaten heil rausgekommen sind.
Haben Sie nie an Gott gezweifelt?
Nie. Wenn die Bomben schwiegen, habe ich immer in der Bibel gelesen. Das
hat mich getröstet.
Wie ist der Krieg für Sie ausgegangen?
Mein Cousin ist von einer Granate getroffen worden, er war etwa vier Meter
von mir entfernt. Er war gleich tot. Ich habe ein daumenlanges Geschoss in
die Wange und einen weiteren Splitter in den Hinterkopf bekommen. Der eine
hat den Kiefer verletzt und zwei Zähne weggeschlagen, der andere die
Schädeldecke durchschlagen, aber das Gehirn blieb unverletzt. Ich musste
ins Lazarett in Bad Nauheim. Im März 1945 kam ich in Kriegsgefangenschaft.
Wohin kamen Sie?
Ich wurde auf die andere Seite des Rheins geschafft. In meinem Lager waren
120.000 gefangene Soldaten, ja, Sie hören richtig. Die meisten hatten keine
Zelte und lagen bei Frost und Schnee unter freiem Himmel auf der blanken
Erde, Mann an Mann, damit es ein bisschen wärmer war. Und ich war noch
nicht ganz gesund, das war schlimm. Nach zwei, drei Tagen hatten wir Läuse,
Läuse, Läuse. Am Anfang haben wir vier kleine Konservenbüchsen am Tag
bekommen, vielleicht interessiert Sie das, in einer war ein bisschen Ei mit
Kartoffeln, wie Kartoffelsalat, so etwas, oder Reis mit Tomaten,
Limonadenpulver, das war ja gut, und Bohnenkaffee, aber wir konnten ja
nicht kochen, wie denn, dann haben wir das runter gekaut. Nach dem
Waffenstillstand haben wir am Tag manchmal vier rohe Kartoffeln bekommen,
manchmal drei, und am Abend ein Stückchen schneeweißes Kommissbrot. Und
dann mussten zehn Mann ein Stück Teilen. Da ist eine Decke ausgebreitet
worden, und dann wurden mit dem Messer Zeichen gemacht, dann war eine
Scheibe zu breit und man musste von vorn anfangen, man hat mit Andacht
gegessen, kein Krümelchen durfte runter fallen, und wenn, dann hat man es
von der Erde aufgehoben. Ich schäme mich zu erzählen, wie egoistisch der
Mensch ist, wenn er Hunger hat. Erst im Mai wurden die ersten Gefangenen
entlassen. Zuerst waren die Eisenbahner, die Grubenleute und die Landwirte
dran, wegen der Infrastruktur.
Und weil Sie, bevor Sie in den Krieg mussten, Landwirt waren, sind Sie
relativ bald freigekommen?
Ja, und zwar ist da immer am Abend durch die Lautsprecher aufgerufen
worden. Und da hörte ich eines Tages im Juli meinen Namen. „Grenadier
Rudolf Götz, morgen zur Baracke soundso.“ Das war eine große Freude. Ein
Tag des Glücks.
Was passierte dann?
Ich musste vor Ort ein Jahr lang in Bad Nauheim in der Landwirtschaft
arbeiten.
Wann haben Sie Ihre Familie wiedergefunden?
Ich habe ja nie aufgehört, zu Gottesdiensten zu gehen. Dort hat man sich
immer ausgetauscht, über die Flucht, woher man kommt und, und, und. So
hatte ich mich mit zwei Krankenschwestern bekannt gemacht. Die kamen dann
beim Gottesdienst in ihrem Heimatort mit einer anderen Krankenschwester ins
Gespräch. Das war meine Schwester. Meinen Zwillingsbruder, der in den USA
in Kriegsgefangenschaft war und nach seiner Rückkehr in Bottrop in der
Zeche gearbeitet hat, habe ich durch das Rote Kreuz gefunden. Wir vier
Geschwister haben uns immer gut vertragen.
Und Ihre Eltern?
Meine Schwester hatte inzwischen herausbekommen, dass sie mit meiner
kleinsten Schwester geflüchtet waren und nach Oberthau bei Schkeuditz
gekommen sind. 1946 sind wir zu ihnen gefahren. Und ich habe da zunächst in
der Landwirtschaft mitgearbeitet. Aber eines Tages hat uns mal ein Pfarrer
besucht und gesagt: Hei, Rudi Götz, ich will dich nach Friedensau schicken.
Da ist eine theologische Hochschule der Siebenten-Tags-Adventisten. Da habe
ich dann eine Schnupperwoche gemacht und gesehen, wie die Studenten
Sprachen und Geschichte lernten. Das hat mich so interessiert! Also habe
ich 1950 angefangen, Theologie zu studieren. Da war ich 24 Jahre alt.
Haben Sie auch wegen des Kriegs Theologie studiert?
Wohl weniger, aber vielleicht zum Teil. Ich habe gesehen, wie die Menschen
sterben, und das hat mir so weh getan. Aber nein. Das war es nicht nur.
Gott und die Welt, das hat mich interessiert. Ich war neugierig. Ich wollte
lernen.
War es für einen Landwirt eine Art sozialer Aufstieg, Theologie zu
studieren?
Ich hätte als Landwirt in der DDR keine Perspektiven gehabt, denn die
Landwirtschaften wurden dann ja alle kollektiviert, die meiner Eltern auch.
Aber daran habe ich gar nicht gedacht, als ich mit dem Studium begann.
Hatten Sie ein Stipendium?
Ja, aber das war wenig. Auf dem Campus gab es Landwirtschaft eine große
Gärtnerei. Man hat gern Studenten genommen, die schon einen Beruf hatten,
mit der Begründung, wer einen Beruf hat, der versteht die Kirchenleute
besser. Nun ja, ich war ja ausgebildeter Landwirt und habe in der Gärtnerei
gearbeitet. Man musste sehr fleißig sein. Der Tag begann mit dem Wecken um
kurz vor sechs und endete um dreiviertel zehn am Abend.
Sie waren sicher begabt?
Ach, das will ich gar nicht sagen (lacht). Viele sind mit den Sprachen
nicht zurechtgekommen. Ich habe mich für die Sprachen sehr interessiert,
das hat mich wohl gerettet.
Bis wann haben Sie Theologie studiert?
Bis 1955. Und dann habe ich meine erste Stelle in Erfurt bekommen. Eine
wunderbare Stadt. Aber kurz zuvor – Sie werden lachen …
… ja?
An unserem Campus haben ja auch junge Damen studiert. Und viele haben sich
auch während des Studiums verliebt, sind dann aber auf der Strecke
geblieben. Also dachte ich, dass ich mich besser nicht verliebe. Aber dann,
als ich nur noch ein halbes Jahr zu studieren hatte, da sah ich ein junges
Mädchen und dachte sofort: Oh, ist das ein schickes Mädchen, die gefällt
mir! In der Mensa kamen wir ins Plaudern. Und da fragten mich meine
Kameraden: Hei Rudi, du bist wohl verliebt? Und ich sage: Ja, ich bin
verliebt. Und da sagt mein Freund zu mir, der, der Chef in der Bibliothek
war: Ich gebe dir den Schlüssel, dann könnt ihr euch da mal richtig treffen
und euch erzählen. Da habe ich mich gut angezogen (lacht). Wir hatten ja
als Studenten nicht viel, aber einen Anzug hatte ich doch. Und ich habe ihr
einen Brief geschrieben, wann und wo wir uns treffen können. Und ich sitze
also in der Bibliothek und schaue aus dem Fenster und denke, sie kommt
nicht. Ich bin böse geworden. Aber nach zehn Minuten sehe ich sie über den
Hof laufen, schön angezogen. Und so haben wir uns verliebt und sie ist
meine Frau geworden. 2014 ist sie gestorben. Ich weine noch immer jeden Tag
um sie.
Was hat Ihre Frau in Friedensau gemacht?
Sie wollte Krankenschwester werden, hat das aber aufgegeben. Und wir haben
in Erfurt mit wenig angefangen. Die Gehälter der Pastoren in der DDR waren
schlecht, gleich welcher Couleur, katholisch, evangelisch, freikirchlich.
289 Ostmark, das war alles. Aber es war auch gut so. Wir haben in der
Kirche den Grundsatz, nicht mehr zu verdienen als ein durchschnittlicher
Handwerker. Es soll Gerechtigkeit sein. Wir haben also nicht gemurrt – und
meine Frau hat als Schneiderin dazuverdient. Wissen Sie, meine Dame, ich
bin gegen diese ganze kapitalistische Ausbeutung. Diese Raffgier der
Menschen, mich ärgert das! Ich sage immer in meinen Predigten: Schwestern
und Brüder, Teilen ist angesagt!
Da haben Sie recht. Wie ging es denn weiter für Sie?
Ich wurde oft versetzt. Von Erfurt acht Jahre nach Sondershausen. Dann ging
es sechs Jahre nach Arnstadt. Dann acht Jahre Neuruppin, dann zwölf Jahre
Finsterwalde. Und schließlich kamen wir hierher, nach Fürstenwalde.
Sie wurden immer wieder entwurzelt, fast wie Ihre Eltern.
Es war schon schwer, einpacken und auspacken, einpacken und auspacken. Es
gab immer Tränen, von uns und auch von den Gemeinden. Und dann die Kinder,
die gute Zeugnisse hatten, die hat man dann in den neuen Schulen nicht
respektiert, die mussten sich das alles immer wieder neu erobern. Als wir
in Fürstenwalde angekommen sind, war ich 64 und kurz davor, in den
Ruhestand zu gehen. Da haben wir beschlossen, dieses Haus zu bauen.
Aber Sie sind dann gar nicht in den Ruhestand gegangen?
Offiziell schon. Aber dann kam die Perestroika, und in Russland sind die
Kolchosen und Betriebe zusammengebrochen. Die Kirche bekam von der
Bundesregierung 3,5 Millionen, um einzukaufen. Und dann haben die Herren
gehört, dass ich mit der russischen Sprache befasst war, und haben mich
angesprochen: Herr Pastor, würden Sie die erste Spendenaktion übernehmen?
Ich war erschrocken, wusste nicht, ob ich das schaffe. Ich habe das alles
mit meiner Frau besprochen und bin dann doch nach Moskau geflogen, um alles
vorzubereiten. Und dann hat die Kirche große Lastwagen gechartert und mit
Lebensmittelpaketen bepackt, in jedem Paket waren zehn Kilogramm, jedes
enthielt Mehl, Zucker, Milchpulver, Bohnen, Margarine, Büchsen und alles,
was dazu gehört. Die Lastwagen habe ich dann alle in Brest-Litowsk, heute
Brest, abgeholt und an verschiedene Orte begleitet. 1991 war das.
Wo haben Sie sie hingebracht?
Zum Beispiel nach Gorki, heute Nischni Nowgorod. Das Rote Kreuz hat uns
geholfen, die wussten, wo die armen, kinderreichen Familien sind, die
Rentner und Studenten, die zuerst Pakete bekommen sollten. Das war
natürlich eine große Hilfe. Und in jener Zeit: Was gab es? Ich bin damals
viel in Moskau in den Einkaufsläden herumgelaufen. Kraut. Und Möhren. Es
hieß immer: Unsere Supermärkte sind leer gefegt.
Haben Sie auch selbst Pakete verteilt?
Ja. Eines Tages stehe ich am Rande eines Marktplatzes, und da kommt eine
alte Frau. Es schneit. Und es ist kalt. Über ihre Schuhe hat sie Strümpfe
gezogen, damit sie nicht fällt. Und da spreche ich sie an. Großmutter,
wohin? Sie: Ich will ein bisschen Milch und Brot kaufen. So vergrämt, so
vergrämt. Ich rufe meinen Leuten zu, sie sollen ein Paket bringen und sage
zu ihr, dass der junge Mann es ihr ins Quartier tragen wird. Sie ruft:
Gott! Ein Engel ist gekommen! Wissen Sie, meine Dame, so etwas vergisst man
nicht. Ich bin dann noch einige Male vond er Kirche nach Russland geschickt
worden und habe das Land t kennen gelernt. Und da ist mir erst bewusst
geworden, was uns mein Russischdozent damals gesagt hat: Ihr lieben
Studenten werden noch erfahren, wie wichtig dir russische Sprache ist.
Lernt! Lernt!
Würden Sie heute gern noch einmal nach Russland fahren?
Das wäre schön. Aber ich würde auch gern noch einmal nach Frankreich
fahren.
Herr Götz, eine Frage hätte ich am Ende noch: Würden Sie in Ihrem Leben
alles noch mal genauso machen?
Musik hat mich interessiert, aber vielleicht hätte es nicht ganz gereicht.
Ich denke, ich würde wieder Pastor werden, obwohl es eine harte Arbeit ist.
Wissen Sie: Trauungen habe ich sehr gern gemacht, wenn eine Frau schön
geschmückt in die Kirche kommt, die kleinen Mädchen vorneweg und so weiter,
und ich bin ihnen entgegengekommen, habe sie in die Kirche geführt, habe
gepredigt, sie gesegnet, das war immer schön. Aber ich habe in meinem Leben
auch viele Menschen beerdigen müssen. Es war mir immer schwer. Ich musste
bei jeder Beerdigung gebetet, Gott gib mir Kraft, dass ich am Grab Trost
spenden kann. Auch wenn mir jemand sein Herz ausschüttet, bewegt mich das
bis in die Nacht hinein.
3 Oct 2021
## AUTOREN
Susanne Messmer
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