# taz.de -- Annäherung von Grünen und FDP: Das Trennende überwiegt | |
> WählerInnen von Grünen und FDP sind sich materiell ähnlich, bilden aber | |
> zwei völlig konträre Milieus. Für eine Koalition kann das Sprengstoff | |
> bedeuten. | |
Bild: Gemeinsame Schnittmengen suchen oder Reviere abstecken? Habeck, Baerbock … | |
Es ist die Zeit der Brücken-Metapher. Robert Habeck will „Brücken | |
ausloten“, Christian Lindner will sie erst einmal bauen. Keine Frage: Die | |
beiden Vorsitzenden von FDP und Grünen und die grüne Co-Vorsitzende | |
Annalena Baerbock [1][wollen zusammen regieren]. | |
Am Ende werden im Vorwort eines wahrscheinlichen Ampel-Koalitionsvertrags | |
wohl die Schlüsselwörter stehen, die bei einem Bündnis von Grünen und FDP | |
eben nötig sind: „Nachhaltigkeit“ wird grüne Bedürfnisse stillen, | |
„Innovation“ jene der FDP. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass als | |
gelb-grünes Bindeglied von der „ökologisch-technologischen Transformation“ | |
die Rede sein wird, ein Wort, in dem sich sowohl die Biobäuerin als auch | |
der FDP-nahe Freund von Wasserstoffantrieben wiederfindet. | |
Wobei offen ist, wie die Kompromisse eigentlich aussehen werden. Werden die | |
berühmten gemeinsamen Schnittmengen gesucht oder werden Reviere abgesteckt: | |
Ihr habt freie Hand in der Umweltpolitik, wir dagegen in der Steuerpolitik? | |
Es sind zwei unterschiedliche Ansätze, und es wird nicht ganz unwichtig | |
sein für die Politik in den nächsten vier Jahren, wie die Kompromisse | |
ausgestaltet sein werden. | |
Mit einer Partnerschaft von FDP und Grünen werden zwei unterschiedliche | |
politische Kulturen und Milieus zusammenfinden, die eigentlich nicht | |
zusammengehören. Eindrücklich ist der [2][Berliner Wahlkreis | |
Friedrichshain-Kreuzberg]: Hier haben die Grünen bei der Wahl bundesweit | |
die meisten Zweitstimmen geholt – die FDP aber die wenigsten. Ein Blick auf | |
die [3][bundesweiten Wählerwanderungen] zeigt, dass es zwischen FDP und | |
Grünen bemerkenswert wenig Austausch gibt; so hat die FDP an die SPD mehr | |
Stimmen abgegeben als an die Grünen. Das Zusammengehen der beiden Parteien | |
hat etwas Antagonistisches. | |
Dabei sind sich FDP- und Grünen-WählerInnen, wie häufig analysiert worden | |
ist, auf den ersten Blick durchaus ähnlich. Sie gehören im Schnitt zu den | |
Besserverdienenden und sind formal überdurchschnittlich gebildet. Die | |
Grünen allerdings werden besonders häufig von Frauen gewählt, die FDP eher | |
von Männern. Für beide Milieus spielen – ganz bürgerlich – Selbstbestimm… | |
und Selbstoptimierung eine wichtige Rolle, aber diese Werte werden | |
unterschiedlich umgesetzt. | |
## Grüner Trekking-Urlaub | |
Die klassische Grünen-Wählerin ist [4][eher postmateriell orientiert]. | |
Zugespitzt gesagt: Sie investiert ihr Geld lieber in einen individuellen | |
Trekking-Urlaub oder in ein Achtsamkeits-Seminar, um einmal „für sich etwas | |
zu tun“, während der FDP-Wähler sein Geld lieber in materiell handfeste | |
Statussymbole umsetzt. Distinktion und Geschmack sind eben nicht nur | |
Oberflächlichkeiten, sondern markieren Abgrenzungen. Wahrscheinlich würde | |
eine Grünen-Wählerin aus der Wohnung eines FDP-Stammwählers schreiend | |
herauslaufen – und umgekehrt. | |
Die Unterschiede gehen weiter. Teile der beiden Milieus hegen zwar | |
Sympathien für Privatschulen, aber die Grünen schicken ihren Nachwuchs eher | |
in anthroposophisch orientierte Schulen, wo die Kinder ihre Persönlichkeit | |
entfalten sollen, während die Liberalen Privatschulen mit modern klingenden | |
englischen Namen bevorzugen, die die Kinder „fit“ für den Arbeitsmarkt | |
machen sollen. | |
In einem Merkmal unterscheiden sich die WählerInnen von Grünen und FDP | |
besonders eklatant. Die Grünen sind zu einer Partei des öffentlichen | |
Dienstes geworden, was sich bei der Bundestagswahl noch deutlicher als bei | |
der Wahl 2017 gezeigt hat. [5][24 Prozent der Beamten haben laut Infratest | |
dimap grün gewählt]; die CDU liegt bei Beamten nur noch knapp vorn. Auch | |
Grünen-WählerInnen geben ihre Stimme nicht nur aufgrund höherer Ideale ab, | |
sondern von konkreten Interessen motiviert. Wenn sie sich für höhere | |
Steuern aussprechen, unterstützen sie damit im Grunde ihren eigenen | |
Arbeitgeber und damit auch sich selbst. | |
Unter Beamten gibt es, wenn sie nicht geerbt haben, kaum richtig Reiche, | |
somit wären sie auch nicht von den moderaten Steuererhöhungen für | |
SpitzenverdienerInnen betroffen, die die eigene Partei will. Und selbst | |
wenn: Wegen ihrer soliden Pensionserwartungen müssen sie nicht sorgenvoll | |
ans Alter denken und während des Berufsleben Geld für später zurücklegen. | |
Der FDP-Wähler wiederum schon: Überdurchschnittlich viele Selbstständige | |
haben die FDP gewählt. | |
Der Staat ist für die Grünen-Wählerin eher ein guter Freund, für den | |
FDP-Wähler dagegen ein potenzieller Gegner, der ihm etwas wegnehmen will. | |
Es ist ein Rätsel, wie diese beiden unterschiedlichen Staatsverständnisse | |
zusammengehen sollen, wenn es in den Koalitionsverhandlungen um Steuern und | |
die Rolle des Staates bei der Klimafrage geht. | |
Der zentrale politische Unterschied liegt aber in der Haltung zum | |
Wirtschaftswachstum und dem Umgang mit natürlichen Ressourcen. Die grüne | |
Stammwählerschaft ist geprägt von dem Wahlspruch der Grünen von 1983: | |
[6][Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.] Bei den jungen | |
Klima-AktivistInnen heißt es „Save the Planet“, aber es meint dasselbe. Das | |
grüne Kernmilieu ist skeptisch gegenüber Wachstum und ständig steigendem | |
Energieverbrauch eingestellt, auch wenn dieser „klimaneutral“ und „sauber… | |
sein soll. Hier liegen Differenzen zur grünen Parteiführung, die von einem | |
„grünen Wachstum“ überzeugt ist – und damit anschlussfähig an die FDP. | |
Ein Ampel-Koalitionsvertrag dürfte in schönen Worten das vermeintlich | |
Gemeinsame betonen. Aber die unterschwelligen Konflikte, die sich aus den | |
unterschiedlichen Mentalitäten der Wählerschaften speisen, werden ungelöst | |
bleiben und dürften bei konkreten Streitthemen in der Koalition aufbrechen | |
– wenn die grüne Mitgliederbasis, die in den vergangenen Jahren rasant | |
gewachsen und jünger und radikaler geworden ist, gegen die eigene | |
Parteiführung rebelliert. | |
Es kann gut sein, dass dann die Partei als solide Regierungspartei dasteht, | |
über die derzeit kaum geredet wird: die SPD. | |
5 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Selfie-von-Gruenen-und-FDP/!5800695 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahlkreis_Berlin-Friedrichshain_%E2… | |
[3] https://www.tagesschau.de/inland/btw21/waehlerwanderung-bundestagswahl-103.… | |
[4] https://www.sinus-institut.de/media-center/presse/sonntagsfrage-april-2021 | |
[5] https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/wahlen/bundestagswahl/wahlergebn… | |
[6] https://gruene-kv-stade.de/aktuelles/aktuelles-volltext/article/1983-wir-ha… | |
## AUTOREN | |
Gunnar Hinck | |
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