# taz.de -- Die Stimmung vor der Wahl: Sind wir eigentlich bescheuert? | |
> Der Wahlkampf ist vorbei, und das vorherrschende Gefühl ist Ernüchterung. | |
> Immerhin ist es jetzt wieder erlaubt, auf den Wähler zu schimpfen. | |
Bild: Ein Wahllokal in Wiesbaden bei der Bundestagswahl 2017 | |
Es ist vorbei. Alles ist gesagt, von jeder, nicht nur einmal. Und man | |
könnte sich jetzt freuen: Auf Jörg Schönenborn, auf die Grundschule um die | |
Ecke, die man nur alle vier Jahre zum Wählen betritt. Überhaupt aufs | |
Wählen, diesen Akt der Mitbestimmung, in der besten aller Welten, der | |
repräsentativen Demokratie. Deine Stimme zählt! Du hast die Wahl! | |
Trotzdem spüre ich an diesem Wochenende nicht Euphorie. Das vorherrschende | |
Gefühl bei vielen ist eher Erleichterung, und vorauseilende Ernüchterung. | |
Ich weiß, Wählerbeschimpfung ist keine gute Idee. Aber ich bin kein | |
Politiker, und das hier ist keine demokratisch gewählte [1][Kolumne]. Sie | |
können mich am Sonntag nicht abwählen, wenn Ihnen nicht passt, was ich | |
schreibe. Deswegen habe ich eine simple Frage: | |
Sind Sie, sind wir eigentlich bescheuert? | |
Die Wahl ist offen – und doch stehen vier Ergebnisse schon fest: | |
1. Im Kern ist Deutschland eine Erbmonarchie. Anders lässt sich nicht | |
erklären, dass [2][ein Mann in den Umfragen führt], dessen zentrale | |
Qualifikation ist, dass er schon da ist. Die Deutschen werden am liebsten | |
von dem regiert, der ihnen sagt, dass sich nichts ändern darf, und das 16 | |
Jahre am Stück. Das ist okay, aber trotzdem sollte die Frage erlaubt sein, | |
warum man sich vor 100 Jahren die Mühe gemacht hat, den Kaiser zu verjagen. | |
2. Nicht genug, dass die Deutschen ihren König Olaf freiwillig wählen. Zum | |
Mangel an Demokratie gehört auch, dass eine von zehn im Land nicht wählen | |
darf, weil sie den falschen Pass hat. Und zwei weitere nicht zur Wahl | |
gehen, weil sie arm sind und den Glauben daran verloren haben. | |
3. Wer doch wählt, ist die Mittelschicht. Und die ist so stolz, bei den | |
Großen mitspielen zu dürfen, dass sie brav Parteien wählt, die sie selbst | |
am stärksten belasten. Sehr viele WählerInnen werden wieder gegen ihre | |
eigenen materiellen Interessen wählen. Das gilt etwa für Kleinbürgerinnen, | |
die CDU wählen, deren Steuerprogramm eine Umverteilung von unten nach oben | |
bedeutet. Warum? Vielleicht ist es christliche Nächstenliebe mit den | |
Reichen, vielleicht Unwissenheit, Ressentiment und Abstiegsangst. | |
Aber auch die Wählerinnen von Grünen und SPD haben wenig Grund zur | |
Hoffnung, dass die Versprechen aus den Wahlprogrammen umgesetzt werden: Mit | |
wem sollte das passieren? Mit der FDP? Den Wählern der Liberalen kann man | |
an dieser Stelle nur Respekt zollen: Die haben wenigstens | |
Klassenbewusstsein. | |
4. Ein Ergebnis der Wahl dürfte sein, dass drei Mitte-links-Parteien wieder | |
eine Mehrheit haben könnten, deren gemeinsames Programm das Leben vieler | |
Menschen verbessern würde. Es geht um drei Parteien, deren Farbkombination | |
hier nicht genannt werden muss, die einige Ziele teilen: Umverteilung von | |
Reichtum, eine bessere Gesundheitsversorgung, das Ende von Hartz IV. Und | |
trotzdem weiß jeder, dass es dazu nicht kommen wird. Nicht nur wegen ein | |
paar Sektierern. Sondern weil der Widerstand zu groß sein dürfte. Ein | |
linkes Bündnis würde eine massive Kampagne von Rechts auslösen, dieses | |
Risiko gehen Scholz und Baerbock sicher nicht ein. | |
Es ist eine komische Stimmung, zwischen Spannung und Desillusionierung. | |
Gewählt wird nicht, wer den überzeugendsten Plan für die Zukunft hat, | |
sondern wer am wenigsten Fehler macht. | |
Selten war für die Wählerin so unklar, was mit ihrer Stimme passiert. Sie | |
gibt sie ab und bekommt sie in vier Jahren wieder. Was dazwischen mit ihr | |
passiert, ob jemand gut auf sie aufpasst? Ich habe leise Zweifel. | |
25 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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