# taz.de -- Corona bei australischen Aborigenes: „Niemand hat auf uns gehört… | |
> In Australien sind vor allem Aborigenes von Corona betroffen. Die | |
> Indigene Monica Kerwin sieht darin strukturelle Diskriminierung. | |
Bild: Wohnwägen zur Isolation für Covid-Infizierte kamen erst spät | |
Canberra taz | Monica Kerwin ist eine stolze Aboriginalfrau. Kein bisschen | |
schüchtern oder zurückhaltend, wie in ihrer Kultur oftmals üblich. Sie | |
sagt, was sie denkt – offen und direkt. „Die australische Regierung ist | |
eine rassistische Regierung“, platzt es aus ihr heraus, als sie per Handy | |
mit der taz spricht. Kerwin befindet sich in ihrem Wohnort Wilcannia, rund | |
zehn Stunden Autofahrt westlich von Sydney. Die Mutter von sechs Kindern | |
ist die Gemeindesprecherin von Wilcannia. Sie ist aufgebracht, wütend und | |
vor allem traurig. „Es bricht mir das Herz“, sagt sie, den Tränen nahe. Im | |
Hintergrund das heisere Geschrei von Krähen. Ein starker Wind stört die | |
Übertragung des Gesprächs vom „Outback“, einer kaum besiedelten Gegend im | |
Westen des Kontinents, in die Zivilisation. | |
Zum Zeitpunkt dieses Telefonats, Anfang September, war jede:r zehnte der | |
rund 700 Bewohner:innen des Dorfes mit dem Covid-Virus infiziert. Zehn | |
Prozent einer Bevölkerung, die praktisch nur aus Aborigines besteht. Kerwin | |
klagt darüber, dass den zum Teil bitterarmen Menschen hier kaum Hilfe | |
geboten werde. Das kleine Krankenhaus des Dorfes habe Kranke abgewiesen. | |
In ihrem Frust griff die Frau zum Smartphone. In einem [1][Video, das sie | |
Ende August auf Facebook veröffentlichte], klagt sie über die Zustände in | |
Wilcannia. Ihr emotionaler Hilferuf lief daraufhin im Internet viral: Das | |
Video wurde Tausende Male geteilt. Monica Kerwin kam ins Fernsehen, sprach | |
im Rundfunk. Endlich begannen die Politiker:innen, sich für Wilcannia zu | |
interessieren. | |
Den [2][rund 800.000 Indigenen Australiens] droht wegen ihres generell | |
schlechteren Gesundheitszustandes ganz besonders, nach einer Infektion mit | |
dem Covid-Virus schwer zu erkranken oder an den Folgen zu sterben. Das | |
hatten zwar sowohl die australische Bundesregierung in Canberra als auch | |
die Regierung des Bundesstaates New South Wales in Sydney bereits im | |
letzten Jahr erkannt. | |
Kurz nach Ausbruch der Pandemie im März 2020 hatte eine Delegation von | |
Aborigines gewarnt, dem indigenen Australien drohe ein Massensterben, falls | |
sich das Virus in seinen Gemeinden verbreiten könne. Die Bittsteller baten | |
um Möglichkeiten zur Isolation von Infizierten. Kerwin sagt: „Wir wollten | |
nur ein paar Zelte.“ Doch geschehen sei nichts, erzählt sie. „Unsere | |
Meinung wurde am Tisch der Mächtigen nicht geschätzt. Niemand hat auf uns | |
gehört. Wir glauben, dass das so ist, weil wir Aboriginal sind.“ | |
Dabei war die Gefahr offensichtlich. Wie in anderen von Armut geprägten | |
Aboriginal-Gemeinden, wo sozialer Wohnungsbau fast die einzige Form von | |
Unterkunft ist, leiden in Wilcannia viele Menschen unter Wohnungsnot. Oft | |
wohnen viele Menschen auf sehr engem Raum zusammen. „Das ist eine fatale | |
Situation in einer Pandemie“, sagt der Epidemiologe und Arzt Jason Agostino | |
von der australischen Nationaluniversität ANU im Gespräch mit der taz. | |
„Jeder positive Fall und jeder Kontakt zu den infizierten Personen muss vom | |
Rest der Bevölkerung isoliert werden“, mahnt der Mediziner. Wenn das nicht | |
möglich sei, „wird die Zahl der Ansteckungen nur steigen“. | |
Genau das ist inzwischen geschehen. In den vergangenen Wochen ist die | |
Ansteckungsrate in Wilcannia weiter gestiegen – jede:r sechste | |
Bewohner:in des Dorfes ist heute infiziert. Und das, obwohl die | |
Regierung nach Kerwins Video medizinische Fachkräfte nach Wilcannia | |
delegiert und ein Impfprogramm beschleunigt hatte. Sydney schickte außerdem | |
– einer modernen Karawane gleich – 30 Wohnmobile in das abgelegene Dorf. In | |
diesen können sich Covidinfizierte vom Rest ihrer Familie isolieren und | |
damit, so die Hoffnung, eine weitere Ausbreitung des Virus verhindern. | |
Für einige Betroffene könnte diese Hilfe aber zu spät kommen, fürchten | |
Expert:innen. Mindestens sechs indigene Bewohner:innen isolierter | |
Gemeinden im Westen des Bundesstaates New South Wales sind bereits | |
gestorben. | |
Für den Arzt Agostino kann nur die Bekämpfung des Grundproblems langfristig | |
Verbesserung bringen. „Die Wohnsituation ist mit Abstand die größte | |
Herausforderung, wenn es um die Verbesserung der Gesundheit der Ureinwohner | |
geht“, sagt er der taz. Indigene Australier:innen leben traditionell | |
eng zusammen – nicht selten drei, vier Generationen unter einem Dach, dazu | |
Besucher:innen und Verwandte. | |
„Das wäre kein Problem, wenn Infrastruktur solide gebaut und dann auch | |
unterhalten würde“, meint der Epidemiologe, der eine Aboriginalgemeinde | |
medizinisch betreut. Die Realität aber sei: Die vom Staat zur Verfügung | |
gestellten Häuser sind in vielen Fällen schlecht gebaut. Die mangelhafte | |
Qualität zeige sich unter anderem in defekten Wasser- und Abwassersystemen. | |
Diese mit Hygiene unvereinbaren Mängel würden von der öffentlichen Hand | |
oftmals jahrelang nicht repariert. | |
Diese Wohnsituation in Kombination mit anderen Faktoren wie schlechter | |
Gesundheitsversorgung in abgelegenen Gemeinden, Arbeitslosigkeit, | |
Drogenkonsum und Armut – sie führen dazu, dass die indigenen | |
Bewohner:innen Australiens im Durchschnitt deutlich häufiger unter | |
verhinderbaren Krankheiten leiden als Nichtindigene. Covid sei nur die | |
letzte auf einer langen Liste von Infektionen, „die Aboriginalgemeinden | |
verwüsten“, sagt Agostino. Einige dieser Krankheiten seien klassische | |
Symptome endemischer Armut: rheumatisches Fieber etwa und dadurch | |
verursachte Herzkrankheiten. Sie sind eine Folge verschleppter | |
Bakterieninfektionen. | |
So sterben in einem der reichsten Länder der Welt Aborigines im | |
Durchschnitt zehn Jahre früher als nicht indigene Australier:innen. Deshalb | |
wird von einigen gefordert, dass Aborigines ihre Altersrente früher | |
beziehen können sollten als Nichtindigene. | |
Dabei, so der Arzt Agostino, wäre zumindest das Problem der ungenügenden | |
Unterkünfte lösbar. Es brauche mehr Geld. „Ganz einfach: Verschiedenste | |
Regierungen haben es unterlassen, in den sozialen Wohnungsbau zu | |
investieren“, sagt er im Gespräch mit der taz. Dazu würden Entscheidungen | |
über den Bau von Infrastruktur für isolierte Aboriginalgemeinden oftmals | |
von Beamt:innen in einer Großstadt getroffen und nicht von den | |
Menschen, die in den Häusern leben werden. | |
Menschen wie Monica Kerwin. Das Gefühl, vom Staat nicht ernst genommen zu | |
werden, frustriert sie. Die wenigen indigenen Politiker:innen in | |
Canberra seien auch keine Hilfe, meint sie. „Sie setzen sich zu wenig für | |
ihre eigenen Leute ein. Sie sind nur Puppen der Regierung“. | |
Solche Vorwürfe werden von Ken Wyatt bestritten, dem ersten indigenen | |
Minister für Aboriginal-Angelegenheiten. Es sei viel erreicht worden in den | |
letzten Jahren, um die Lebensbedingungen der indigenen Australier:innen | |
zu verbessern. Die Krise in Wilcannia und vergleichbaren Orten führt er auf | |
die Impfskepsis unter den Bewohner:innen zurück, nicht auf eine | |
Missachtung der Wünsche und Warnungen der Bevölkerung. | |
Monica Kerwin jedenfalls ist auch nach dem Anlaufen der Hilfsaktion in | |
Wilcannia unzufrieden: „Zu wenig, zu spät“, meint sie. Für die Zukunft – | |
nach der Coronapandemie – wünscht sie sich von den Politiker:innen nur | |
eines: „Lasst uns allein. Wir Aborigines sind ein freies Volk. Und dies ist | |
unser Land.“ | |
Die Flugblätter, die vor ein paar Wochen in einer isolierten | |
Aboriginalgemeinde in Westaustralien auftauchten, versprachen nicht weniger | |
als eine Fahrt in die Hölle. Eine Impfung gegen Covid sei ein Weg, wie sich | |
der „Teufel in den Körper“ einschleiche, so soll es laut Medienberichten | |
auf den Flyern gestanden haben. Facebook-Posts stellen ein ähnliches | |
Schicksal in Aussicht. Ein Verfasser behauptet, Geimpfte seien nach der | |
Spritze mit dem „Malzeichen Luzifers“ gebrandmarkt. Wenn nicht der Teufel, | |
dann sei es die Regierung, die über die Injektionsnadel einen Weg in die | |
Körper indigener Australier:innen suche, mit dem Ziel der „totalen | |
Kontrolle über die Menschheit“ durch eine vermeintliche „Weltregierung“,… | |
einschlägige Kanäle. | |
Die an Indigene gerichteten Verschwörungsmythen scheinen ihr Ziel nicht zu | |
verfehlen. Die Impfrate unter Aborigines und den Bewohner:innen der | |
Torres-Meeresstraße liegt überall deutlich unter dem Landesdurchschnitt. | |
Besonders in isolierten Aboriginalgemeinden in Nordwestaustralien mit | |
begrenztem Kontakt zur Außenwelt dominiert eine panische Angst vor dem | |
Teufel in der Impfspritze. | |
Kritiker:innen glauben, die apokalyptischen Botschaften hätten ihren | |
Ursprung in ultrakonservativen christlichen Freikirchen in den Vereinigten | |
Staaten, die versuchten, auf diesem Weg Aborigines für ihren Glauben zu | |
gewinnen. Aber auch ein von einem Australier geführter sogenannter | |
„Indigener Gebetskreis“ ist laut Meldung des Senders ABC involviert. Durch | |
die Spritzen würden „digitale Geräte“ oder Mikrochips in den Körper | |
injiziert, mit denen Menschen „überwacht“ werden könnten. | |
Der indigene westaustralische Senator Pat Dodson verurteilt die | |
Urheber:innen solcher Botschaften als „Schurkengruppen“. Es handle sich | |
um Menschen, deren „religiöse Lebensaufgabe“ es sei, „Unwahrheiten über… | |
Impfstoff zu verbreiten und Angst zu schüren“. Kirchenführer:innen | |
aller Konfessionen sollten sich zusammentun, damit „diese Art von | |
abtrünnigen Gruppen isoliert oder zumindest identifiziert werden und | |
bekämpft werden kann“, so Dodson. Die Propaganda der „Gottesanbeter“ sei | |
„genauso böse wie das Böse, vor dem sie die Menschen angeblich schützen | |
wollen“, meinte er. | |
Vertreter:innen der Großkirchen zeigen sich willig, den Kampf gegen die | |
Falschinformationen aufzunehmen. „Covid-19 ist eine nationale | |
Gesundheitskrise, die nichts mit Religion zu tun hat“, meint Ray Minniecon, | |
Aboriginal und Pfarrer der Anglikanischen Kirche. Seine Botschaft an die | |
Gläubigen ist, dass Impfen „ein Akt der Liebe“ sei. „Wir sagen: Wer seine | |
Familie liebt, wer sogar seine Feinde liebt, wer seine Gemeinde liebt, muss | |
sich impfen lassen. Denn nur so kann die Ausbreitung des Virus gestoppt | |
werden.“ | |
Doch die Aborigines lehnen die Impfung nicht nur aus religiösen Gründen ab. | |
In Wilcannia, rund 900 Kilometer westlich von Sydney, wo sich das Virus so | |
rasch verbreitet wie in keinem anderen indigenen Dorf Australiens, lehnt | |
Gemeindesprecherin Monica Kerwin jede Aufforderung zur Impfung ab. „Sicher | |
nicht“, sagt sie gegenüber der taz, „ich lasse mir doch nicht etwas | |
einspritzen, das nicht richtig getestet worden ist“. Sie habe kein | |
Vertrauen in den Impfstoff – und in die Regierung, die ihn verteilt. | |
Laut Kommentator:innen spielt in der Angst vor Vakzinen auch eine | |
Furcht vor einer Wiederholung der Geschichte mit. Mit der Invasion des | |
Kontinents im Jahr 1788 durch britische Sträflinge und ihre | |
Bewacher:innen begann nicht nur ein versuchter Genozid an den | |
Ureinwohner:innen durch Gewalt, Verfolgung und Kindesentführung. Mit | |
den Europäer:innen kamen Erreger ins Land, gegen die Aborigines nicht | |
resistent waren. Tausende starben an Pocken, Grippe, Masern, Tuberkulose | |
und sexuell übertragenen Krankheiten. | |
Die Regierung hat inzwischen begonnen, der Propaganda entgegenzuwirken. | |
Eine Einsatzgruppe hat landesweit 30 Regionen identifiziert, in denen das | |
nationale Impfprogramm beschleunigt werden soll. Begleitet werde die Aktion | |
von einem Team von „Impfstoff-Verbindungsbeamten“, die direkt mit | |
abgelegenen Gemeinden zusammenarbeiten sollen. Bekannte indigene | |
Aktivist:innen helfen in den Medien dabei, „kulturell sichere | |
Botschaften zu vermitteln, das Zögern bei der Impfung zu überwinden, die | |
Einwilligung zu erleichtern und Aktivitäten zur Gesundheitsförderung | |
durchzuführen“, so der Kommandant der Einsatzgruppe, John Frewen. | |
Für den Senator Pat Dodson können die Maßnahmen nicht schnell genug kommen. | |
Es sei schwierig genug für Menschen in abgelegenen Gemeinden, die | |
Grundlagen der Distanzierung, des Tragens von Masken, das Vermeiden von | |
Versammlungen und der Quarantäne zu verstehen, meint er. „Ganz zu schweigen | |
von jemandem, der daherkommt und sagt, dass dieses spezielle Virus das Werk | |
des weißen Mannes und des Teufels ist. Das ist einfach so absurd. Die Leute | |
sollten dafür angeklagt und ins Gefängnis gesteckt werden.“ | |
2 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/100071666940774/videos/888262028454914/ | |
[2] /Kolumne-das-Schlagloch/!5145899 | |
## AUTOREN | |
Urs Wälterlin | |
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