| # taz.de -- Kolumne das Schlagloch: Formeln der Höflichkeit | |
| > Neuseeland geht mit seinen Ureinwohnern völlig anders um als Australien. | |
| Bild: Wohnwägen zur Isolation für Covid-Infizierte kamen erst spät | |
| Alle zwei Jahre sprudelt Neuseelands kleine, charmante Hauptstadt | |
| Wellington über vor Kultur. Auf Peter Brooks neues Theaterprojekt folgen | |
| der indische Sitar-Star Ravi Shankar und seine Tochter Anoushka, auf eine | |
| polnische Version von Pasolinis "Teorema" folgt die Dramatisierung des | |
| wunderbaren grafischen Romans von Shaun Tan "The Arrival". Die Qualität der | |
| Aufführungen ist wie bei jedem Festival so wechselhaft wie das Wetter in | |
| "windy Wellington", aber es gibt eine Konstante: Nach jeder Premiere | |
| versammeln sich die Organisatoren, Kulturbürokraten, Regisseure, | |
| Schauspieler und Ehrengäste zu einer kleinen Feier, die stets mit einer | |
| ausführlichen Begrüßung beginnt. Es handelt sich um ein uraltes | |
| Zeremoniell, das Powhiri. Es ist ein Ritual für besondere Anlässe, bei dem | |
| die Ahnen aller Anwesenden angerufen werden - um den Gästen Respekt zu | |
| bezeugen und, zum anderen, um die Vorfahren zu besänftigen. | |
| Traditionellerweise beginnt das Powhiri mit einem bedrohlich wirkenden | |
| Sich-gegenseitig-in-die-Augen-blicken, untermalt von kriegerischen Gesten | |
| und Schlachtrufen (um die Standfestigkeit des Gastes zu prüfen). In | |
| Theatern wird dieser Teil übersprungen und gleich zur Rhetorik friedlicher | |
| Absichten übergegangen, einem streng formalisierten Begrüßungselement (die | |
| Protokollbedürfnisse der Maori beschämen jeden Diplomaten), rhythmisch | |
| vorgetragen wie Rap, ein vehementes Ausrufen, das in seiner | |
| Unverständlichkeit besonders lange zu dauern scheint, aber trotzdem | |
| verzaubert. | |
| Keiner der Gäste zeigt irgendein Zeichen von Unruhe, keiner flüstert, | |
| keiner tritt von einem Fuß auf den anderen. Es ist eine Spannung im Saal | |
| spürbar, als sei das Zeremoniell nicht läppische Pflicht, sondern | |
| existenzielle Notwendigkeit. Offenbar hat man sich in Neuseeland darauf | |
| geeinigt, dass manche Aspekte der Maori-Kultur für alle von Bedeutung sind. | |
| Das wird einige Minuten später bestätigt, als zum Abschluss, nach einigen | |
| eher konventionellen Reden auf Englisch, die Schauspieler (darunter einige | |
| von Maori-Abstammung, die aber keineswegs in der Mehrheit sind) ein Lied | |
| auf Maori anstimmen, dessen Inhalt wiederum unverständlich bleibt. Die | |
| Melodie hingegen klingt seltsam vertraut, kein Wunder, handelt es sich doch | |
| um ein altes englisches Volkslied - die vor gut hundert Jahren | |
| mitgebrachten Lied- und Hymnensammlungen haben sich im ganzen Land | |
| durchgesetzt. Zum großen Erstaunen des ausländischen Besuchers vermögen | |
| viele der Anwesenden, selbst Damen im mittleren Alter, die so aussehen wie | |
| die Haushälterinnen in den Jane-Austen-Verfilmungen, dieses Lied wohl | |
| intoniert und sattsam laut mitzusingen. Und voller Stolz. Sie haben es in | |
| der Schule gelernt, wo Maori inzwischen von der Grundschule an gelehrt | |
| wird, sodass Abiturienten es zwar genauso wenig flüssig sprechen können wie | |
| bei uns Französisch, aber die wichtigsten Formeln der Höflichkeit | |
| beherrschen. | |
| In Australien dagegen, formell ebenso wie Neuseeland im Besitz des | |
| britischen Königshauses, werden weder die Sprache noch die Bräuche der | |
| Ureinwohner in irgendeiner Weise geachtet. In Adelaide verteilt das | |
| Tourismusbüro zwar kostenlos einen Stadtplan, auf dem die Aboriginesnamen | |
| der verschiedenen Örtlichkeiten vermerkt sind. Aber wer diese Karte nicht | |
| zu Rate zieht, wird keine Erinnerung an die Aborigines vorfinden, nur die | |
| traurige Gegenwart einiger dunkelhäutiger Obdachloser. | |
| Gebildete Australier schämen sich ob der eigenen Geschichte und verspüren | |
| Trauer angesichts des hoffnungslosen Schicksals der Aborigenes. Doch kaum | |
| einer käme auf die Idee, irgendein kulturelles Phänomen der Ureinwohner als | |
| gesamtaustralisch zu propagieren - in Sydney wird öffentlich weniger | |
| Didgeridoo gespielt als in Berlin. In dieser Hinsicht liegen zwischen | |
| Australien und Neuseeland nicht nur tausend Kilometer Ozean, sondern ganze | |
| Welten. | |
| Die Unterschiede liegen auf der Hand: Die Maori machen in Neuseeland etwa | |
| 15 Prozent der Bevölkerung aus, die Aborigines in Australien nur 1,5 | |
| Prozent. Die Maori haben sich den Kolonialisten widersetzt und nach | |
| brutalen Gemetzeln einen Friedensvertrag ausgehandelt. Die Aborigines | |
| hingegen wurden ohne große Gegenwehr entmündigt und umgebracht, nicht | |
| zuletzt, weil sie sich in viele, teils sehr unterschiedliche Gruppen, | |
| Sprachen und Bräuche unterteilten. Die Maori verteidigten ihr Land, die | |
| Aborigines hatten kein Konzept von Landeigentum. Sie waren Nomaden mit | |
| einer weitgehend hierarchiefreien Gesellschaftsordnung und ließen die | |
| Eroberung und Erbeutung meistens geschehen. Die Maori behielten ihre | |
| Sprache sowie viele ihrer Vorstellungen und Traditionen, die Aborigines | |
| wurden hingegen über Jahrzehnte hinweg oft zwangsweise assimiliert. | |
| Der größte Unterschied liegt aber in der grundsätzlichen geistigen Haltung. | |
| In Neuseeland hat man erkannt, dass auch eine Minderheit einen prägnanten, | |
| zentralen Beitrag zur "nationalen Identität" leisten kann und dass man von | |
| der Existenz des Anderen im eigenen Land nur profitieren kann. Wohl kaum | |
| etwas symbolisiert diese Erkenntnis eindrücklicher als der Maori-Kriegstanz | |
| namens haka, den die Rugbymannschaft des Landes vor jedem Spiel aufführt | |
| (wobei die europäischstämmigen Spieler sich in Verve und Überzeugungskraft | |
| nicht von ihren Maori-Mitspielern unterscheiden). Er hat die Gegner schon | |
| manches Mal dazu gebracht, sich mit der kommenden Niederlage abzufinden. | |
| Die Teilhabe aller (die es wünschen) an religiösen und kulturellen Ritualen | |
| schafft Gemeinsinn. In einer kulturell freien Gesellschaft (es wird immer | |
| wieder behauptet, dass Neuseeland das wohl egalitärste Land auf Erden sei) | |
| setzen sich Ausdrucksformen durch, denen eine besondere Eigenart innewohnt | |
| und mit denen sich die Einwohner identifizieren können - nicht, weil sie | |
| diese mit der Muttermilch aufgesogen haben, sondern weil sie kraft ihrer | |
| Schönheit überzeugen. | |
| In dem Theater in Wellington läuft bei jedem Powhiri den Besuchern aus der | |
| fernen Fremde ein kalter Schauder über den Rücken. Nicht nur, weil es sich | |
| um eine beeindruckende Begrüßungszeremonie handelt, sondern weil mit ihrer | |
| Darbietung ein vorbildliches Ideal verwirklicht wird. | |
| 17 Mar 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilija Trojanow | |
| Ilija Trojanow | |
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| Australien | |
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