# taz.de -- Mögliche Verfassungsänderung in Australien: Stimme für australis… | |
> Die Beziehung zwischen Nicht-Aboriginal und ersten Bewohnern könnte neu | |
> definiert werden. Letztere würden eine Stimme im Parlament erhalten. | |
Bild: Demonstranten tragen die Aboriginal-Flagge während einer Protestkundgebu… | |
CANBERRA taz | Begleitet von kritischen Zwischentönen hat Australien am | |
Donnerstag seinen Nationalfeiertag begangen. Am Australia Day wird an die | |
Ankunft der „ersten Flotte“, einer britischen Flotte mit elf Schiffen mit | |
Strafgefangenen, in Sydney Cove am 26. Januar 1788 erinnert. Erinnert wird | |
damit auch an die britische Kolonialisierung sowie die Verbrechen an der | |
indigenen Bevölkerung. | |
Zum 235. Jahrestag lag die nationale Aufmerksamkeit [1][auf der neuen | |
Regierung unter dem Labor-Premier Anthony Albanese] und der Frage, | |
inwieweit sie dafür Sorge tragen wird, dass die ersten Bewohner Australiens | |
in der Verfassung anerkannt werden. Es kommt in Australien selten vor, dass | |
Politiker und Politikerinnen wie Rockstars gefeiert werden. Albanese ist | |
eine Ausnahme. Bei einem Musikfestival wurden die Ausführungen des | |
Sozialdemokraten jüngst von tosendem Applaus unterbrochen. | |
In den kommenden 12 Monaten wird Australien darüber abstimmen, ob indigene | |
Menschen im Parlament eine beratende Stimme haben sollen, verkündete der | |
Ministerpräsident neulich. Damit löst der 59-Jährige ein Versprechen ein, | |
das er im vergangenen Mai vor seinem Sieg über die konservative Regierung | |
von Premierminister Scott Morrison gegeben hatte. Es ist allerdings | |
fraglich, ob die ganze Bevölkerung die Begeisterung der Musikliebhaber | |
teilen wird. Denn gegen die Vorlage formiert sich eine ernstzunehmende | |
Opposition. | |
Laut Regierung soll in Zukunft ein Gremium eminenter Indigener das | |
australische Parlament in Fragen beraten, welche für die ersten Bewohner | |
des Kontinents von besonderer Wichtigkeit sind, [2][etwa schlechte | |
Gesundheitsversorgung], dramatische Ausbildungsdefizite, Rassismus. Die | |
rund 900.000 Aboriginal und Bewohner der Torres-Meeres-straße zwischen | |
Australien und Papua-Neuguinea gehören unter den 25 Millionen Australiern | |
zu den am stärksten benachteiligten Gruppen. | |
## „Zum Aussterben verurteilte Rasse“ | |
Albanese und die für Aboriginal zuständige Ministerin Linda Burney haben | |
zwar klar gemacht, dass die „Stimme“ ausschließlich eine beratende Funktion | |
haben würde. Die Formulierung von Gesetzen und Verordnungen bliebe | |
weiterhin bei Parlament und Regierung. Trotzdem warnen konservative Gegner | |
wie der frühere Premierminister Tony Abbott vor der Schaffung eines | |
„parallelen Parlaments“. Da für die spezifisch auf die Bedürfnisse | |
Indigener ausgerichtete Körperschaft auch eine Änderung der Verfassung | |
notwendig sei, würden die Urbewohner im Grundgesetz erwähnt – zum ersten | |
Mal. | |
Die australische Verfassung war 1901 in Kraft getreten, 113 Jahre nach | |
Beginn der weißen Besiedlung oder „Invasion“ des Kontinents, wie die | |
Aktivisten es nennen. Rassistische Ideologie gegenüber den Ureinwohnern | |
dominierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Denken der Gründungsväter des | |
modernen Australiens. | |
Aboriginal wurden als eine „zum Aussterben verurteilte Rasse“ gesehen, | |
verfolgt, ausgegrenzt, versklavt und diskriminiert. Erst seit 1967 sind | |
Indigene überhaupt als Bürger anerkannt, auf einem Kontinent, den sie seit | |
mindestens 65.000 Jahren bewohnen. Bis in die siebziger Jahre wurden | |
Mischlingskinder ihren Eltern entrissen, um sie in der weißen Gesellschaft | |
zu „assimilieren“. Und erst 1992 beendete ein Gericht den Mythos, | |
Australien sei vor der Ankunft der Weißen „Terra Nullius“ gewesen – | |
unbewohntes Niemandsland. | |
Dabei hatte es vor Beginn der weißen Besiedelung 1788 auf dem Kontinent | |
über 500 indigene Völker oder Stämme gegeben, mit eigenen Kulturen, Riten | |
und Sprachen. Die Kolonialisierung führte [3][zum Aussterben unzähliger | |
solcher „Erster Nationen“]. Mit ihnen verlor das Land nicht nur Menschen | |
und deren Geschichte. Heute gibt es nur noch knapp 170 indigene Sprachen | |
und Dialekte. | |
## Gesetze werden besser und in der Ausführung erfolgreicher | |
Für Megan Davis, Verfassungsrechtsprofessorin in Sydney und selbst | |
Aboriginal, ist eine beratende Stimme für Indigene im Parlament längst | |
überfällig. Die Erfahrung zeige, dass die Einbeziehung von Minderheiten am | |
politischen Prozess generell positiv sei. „Wenn indigene Völker an der | |
Formulierung und der Schaffung von Gesetzen beteiligt sind, werden diese | |
Gesetze nicht nur besser, sondern auch erfolgreicher in ihrer Ausführung“, | |
so die Akademikerin. | |
Australien steht in der Anerkennung, geschweige denn in der Frage der | |
Versöhnung mit seinen Urvölkern, ganz unten auf der Liste vergleichbarer | |
Länder. Der Nachbar Neuseeland etwa hatte mit den Maori-Ureinwohnern schon | |
1840 einen Vertrag ausgehandelt, der ihnen gewisse Rechte garantiert. Zudem | |
stehen ihnen vier spezielle Parlamentssitze zu. | |
## Uluru-Erklärung im Jahr 2018 als Vorlage | |
Hoffnung auf Änderung gab es in Australien vor fünf Jahren. Davis, selbst | |
eine Aboriginal-Älteste, verlas damals das sogenannte „Uluru-Statement aus | |
dem Herzen“. Die Erklärung war ein Apell der indigenen Stämme an die | |
gesamte Nation, die ersten Bewohner Australiens nach über einem Jahrhundert | |
des Wartens im Grundgesetz anzuerkennen. „Wir suchen Anerkennung in der | |
Verfassung, um unsere Menschen zu ermächtigen und ihren rechtmäßigen Platz | |
in unserem eigenen Land zu erhalten“, so Davis im Schatten des Uluru, des | |
früher als Ayers Rock bekannten Sandsteinmonolithen im roten Zentrum des | |
Kontinents. | |
Mit dem Dokument hatten die Ur-Australier Geschichte geschrieben. Denn nach | |
zwei Jahre dauernden, zähen Verhandlungen hatten sich Vertreter der meisten | |
überlebenden Urvölker des Kontinents auf eine spezifische Botschaft einigen | |
können – trotz der zum Teil signifikanten ethnischen, religiösen und | |
sozialen Unterschiede. Diese Differenzen werden oft als Gründe genannt, | |
weshalb die Ureinwohner Australiens bis heute keine gemeinsame Stimme | |
haben. [4][Im Gegensatz zu den Maori in Neuseeland] haben die Aboriginal | |
somit auch kaum politisches Gewicht. | |
Doch die Freude über den Konsens dauerte nicht lange. Zur Enttäuschung | |
aller Beteiligten wurde der Vorstoss von der damaligen konservativen | |
Regierung unter Premierminister Malcolm Turnbull abgelehnt. Man wolle keine | |
„Zweiklassengesellschaft“ schaffen, so das Argument der Gegner. | |
Kommentatoren in den mehrheitlich konservativen Medien warnten mit oftmals | |
rassistischem Unterton vor der Erwähnung Indigener in der Verfassung. | |
Die Uluru-Erklärung ist nun Vorlage für die geplante Volksabstimmung. Laut | |
Aboriginal-Ministerin Linda Burney solle das Volk einzig darüber abstimmen, | |
ob es eine „Stimme“ will. Die Einzelheiten würden vom Parlament | |
ausgearbeitet. Wann in diesem Jahr die Abstimmung abgehalten wird, steht | |
noch nicht fest. Doch die Gegner haben bereits Position bezogen. | |
So gab die vor allem in der Landwirtschaft verwurzelte Nationalpartei | |
bekannt, sie werden die Vorlage bekämpfen. Die konservative Liberale Partei | |
will mit einem Entscheid noch warten, bis der Abstimmungstext bekannt ist. | |
Beobachter glauben, Oppositionschef Peter Dutton plane eine konzertierte, | |
rassistisch untermalte Gegenkampagne. Der frühere Immigrations- und | |
Innenminister hat in der Vergangenheit mit seiner Rhetorik immer wieder an | |
die rassistische Ader der Australier appelliert. | |
Eine Gefahr, dass Politiker die kommende Debatte nutzen, um Zweifel über | |
die Macht und Funktion einer indigenen „Stimme“ zu streuen, besteht auf | |
jeden Fall. Die unabhängige Parlamentarierin Zali Steggall will deshalb die | |
Verabschiedung eines Gesetzes vorverschieben, mit dem das Verbreiten von | |
„Lügen und Fehlinformation in politischer Werbung“ illegal gemacht werden | |
soll. Einflussreiche Medienkommentatoren und Politiker polemisieren bereits | |
heftig und mit paternalistischem Unterton gegen vermeintliche „Sonderrechte | |
für Indigene“. Statt Symbolik wie die Anerkennung in der Verfassung wollten | |
Aboriginal praktische Hilfe. Dabei scheint genau dieser Zugang zur Lösung | |
der Probleme nicht zu funktionieren. 235 Jahre nach der europäischen | |
Besiedelung des Kontinents sterben Aboriginal im Durchschnitt noch immer | |
zehn Jahre früher als weiße Australierinnen und Australier. (mit ap) | |
26 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Urs Wälterlin | |
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