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# taz.de -- Wilde Möhre 2021: Weniger Problempogo!
> Menschen, die alles politisch sehen, feiern schlechtere Partys. Unser
> Autor hat dies am eigenen Leib erfahren.
Bild: „Der Schneekönig“ (Wolf Hogekamp) macht Party mit deutschen Texten. …
Das Wahltagebuch beleuchtet die Bundestagswahl aus Sicht des Wahlcamps der
taz Panter Stiftung.
„Wir spielen heute auf einem Festival“, sage ich zu Jonathan.
„Das weiß ich, Aron.“
Ich sage diesen Satz bereits zum dritten Mal und es klingt ja auch super –
nach Star und Tourleben. Dass wir als Spoken-Word-Band auf dem
Elektro-Festival “Wilde Möhre“ zwischen Berlin und Dresden Gedichte und
Musik verbinden sollen, schien die Veranstalter:innen nicht
abzuschrecken – im Gegenteil: Sie buchten uns für den „Wildschreck“ – …
Hauptbühne des Festivals.
Ein solcher Auftritt, soviel ist sicher, bedeutet Verantwortung. Hier darf
nichts anderes gespielt werden als der Soundtrack einer Generation, unserer
Generation. Doch wie klingt der? Auf jeden Fall politisch, gar kein
Zweifel.
Genau deswegen würden jedwede Feel-Good-Songs über Liebe, Party und das
Gute im Leben heute einmal Sendepause haben. Denn, falls es noch keiner
gemerkt hat, nichts ist gut!
## Es ist immer fünf vor Zwölf!
Im Gegenteil: Kurz vor der Bundestagswahl jagt eine dramatische Nachricht
die andere: Coronaleugner:innen, Wohnungsnot– und eine drohende
„Deutschlandkoalition.“ Es ist immer fünf vor Zwölf. Wer sich davon
distanziert, entscheidet sich für das gesellschaftliche Abseits. Und da
wollen wir sicher nicht stehen – sondern im Rampenlicht.
Wir haben jetzt die Chance – nein die Pflicht – unsere Stimme zu erheben.
Dafür sind wir hier. Das hat uns zwar keiner gesagt, aber ein Blick über
das Festivalgelände der “Möhre“ (Regenbogenflaggen, Taschenaschenbecher,
Second-Hand-Läden und vegane Streetfoodstände) formt den stummen Schrei
nach Aktivismus – jetzt und hier.
Alles andere wäre ein Verrat an unserer Generation, dachten wir. Und
vielleicht dachten das auch die drei Zuschauer:innen, ganz kurz zumindest,
während sie bei unserem Auftritt mehr entkräftet als freiwillig im Schatten
der Bühnengerüste sitzen und höflich in die Hände klatschen.
Sonst sieht niemand zu, niemand tanzt. Wohlwollend könnte man von
“fluktuierendem Publikum sprechen“, aber eigentlich passieren nur ein paar
Festivalgäste die Hauptbühne, halten mehr erschrocken als interessiert inne
und ziehen weiter ihre Wege.
## Auf Deutsch singen?
Ich sehe entschuldigend hinter die Bühne zu unserem Nachfolgeact – dem
Schneekönig.
Bis zu den 90ern schien es ihm überhaupt nicht wichtig zu sein, mit seinem
eigenen Namen in Erscheinung zu treten – dabei war er ständig auf der Bühne
oder im Rampenlicht.
Als Frontmann einer Italo-Band, deren einzige Bedingung an die Mitglieder
war, nicht italienisch sprechen zu können. Oder als Schauspieler in Wim
Wenders' Film „Himmel über Berlin“, der 1987 erschien. Zwei Jahre später
gewann er das berüchtigte „Kampftrinken 89“ – das wurde in der
gleichnamigen Filmdoku festgehalten, die wiederum auf YouTube durch die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kurzzeitig gesperrt wurde –
aber vermutlich nur, weil der Schneekönig im Film nach 41 Tequila Shots (40
hätten gereicht, um zu gewinnen, den letzten, sagte er, hätte er „zur Feier
des Sieges“ getrunken) zu unbeeindruckt und zu glücklich in die Kamera
lächelt. Er hatte immerhin 200 Mark gewonnen.
Zu dieser Zeit lebte er schon über ein Jahrzehnt in Berlin. Anfang der 70er
Jahre war er mit 16 unter seinem bürgerlichen Namen Wolf Hogekamp vor der
rheinländischen Spießigkeit aus Kleve nach Berlin geflohen, wo er später
zusammen mit drei weiteren Freunden das ziemlich legendäre Ex’N’Pop in
Schöneberg führte und dort 1994 den ersten Poetry Slam in Deutschland
veranstaltete. All das begründete sich wohl mehr oder weniger auf das Jahr
1977, „seinen Erweckungsmoment“ – Hip Hop, Punk und Disco entwickelten
sich, und auf einmal war es okay, auf Deutsch zu singen und zu dichten, was
er seither auch macht.
Vielleicht sind diese Zeiten einfach vorbei, denke ich, während ich wie ein
verzweifelter Animateur in einem All-Inclusive-Hotel mit den Armen fuchtele
und “Macht Applaus für den Schneekönig!“ schreie. Mensch, ist das traurig.
## Die richtigen Signale
Er geht langsam zum Mischpult, fährt sich durch die lockigen grauen Haare
und rückt seine Sonnenbrille zurecht. Klassischerweise trägt er einen
weißen Mantel, mit Kunstfell am Kragen, heute streift er ihn eilig ab und
hält seine Hand in die leere Menge.
Verhaltenes Klatschen. Für einen Augenblick sagt er gar nichts, es herrscht
Stille. Vielleicht bricht er auch einfach ab, denke ich weiter. Vielleicht
werde ich irgendein Zitat wie “Die ist gut, doch die Welt noch nicht
bereit“ sagen, wenn ich ihm nachher mit der Hand auf die Schulter klopfe
und wir über die Undankbarkeit des Publikums schimpfen werden. Oder besser
nicht, Tocotronic, das sagte er vorhin bei unserem Soundcheck, fände er
schließlich “scheiße.“
“WTF WTF!“, schreit er unvermittelt in die Stille. “ICH HÖRE EIN SIGNAL!…
## Der Beat macht Boom!
Mit einer überakzentuierten Bewegung drückt er auf den Sampler vor ihm –
wie in Zeichentrickserien, in denen der atomare Erstschlag ausgeführt wird.
Plötzlich fegt ein Bassteppich über den Tanzboden – der Schneekönig beginnt
mit seinem Text: “Hast du den Rhythmus? Ich hab' den Rhythmus. Und der
BEAT?…“ Er drückt auf einen weiteren Knopf.
“Macht Boom!“ schreit er und nickt mit dem Kopf zum Takt. Auch ich nicke
wie automatisiert. Die nächsten drei Stücke über.
Es geht um Partys im Club, Frühlingsgefühle im Hochsommer und dann wieder
um Partys, Leichtigkeit und Rausch. Er verbindet Gedichte mit Musik, wie
wir. Aber ohne Krisentexte, dafür mit Techno und guter Laune. Jemand stößt
ein “Wooh“ aus. Auch ich woohe unvermittelt, so auch Jonathan – eigentlich
wooht jede:r hier. Es fühlt sich einfach richtig an.
Aus allen Ecken der Tanzfläche nähern sich Menschen mit geschlossenen
Augen. Intuitiv formen sie sich zu einer halbnackten Gruppe, die Köpfe
vorausnickend wie Tauben auf einem Marktplatz. An den Körpern sind
Henna-Tattoos. In den Gesichtern klebt Glitzerstaub, vermutlich vom
Vorabend.
## Die Gedanken fliegen raus!
„Kennt ihr das?“, kündigt der Schneekönig sein nächstes Stück an. „Ihr
müsst ständig so viel nachdenken, aber jetzt – fliegen die Gedanken raus!“
ruft er. Ekstatischer Jubel.
„Genau darum geht’s!“, raunt einer.
Unser Auftritt liegt gerade mal zwanzig Minuten zurück, und die bis dahin
leere Tanzfläche ist inzwischen brechend voll. Sogar der Techniker, der bei
unserem Auftritt noch “mal schnell was erledigen musste“ ist auf einmal
wiedergekehrt und reckt technopflichtbewusst eine Faust in die Höhe.
Was ist in der Zwischenzeit geschehen? Hat das Publikum unsere Texte
einfach nicht verstanden?
Nach dem Auftritt streckt eine Frau mit weit aufgerissenen Augen ihre Hand
durch das Gitter zwischen Bühne und Backstagebereich und greift nach dem
Schneekönig.
“Danke, das war eine richtig spirituelle Erfahrung“, sagt sie. Als sie mich
neben ihm stehen sieht, nickt sie mir schreckhaft zu und sucht das Weite.
## Der Zauber der Utopie
“Die Leute haben keinen Bock auf Politik, oder?“, frage ich den Schneekönig
bitter. Er runzelt die Stirn.
“Doch, aber die Leute wollen es sich gut gehen lassen. Dafür braucht es
manchmal eine gehörige Ladung Utopie. Und das macht ein Festival aus“, sagt
er.
“Der Dancefloor bleibt unpolitisch – und das ist ein Fortschritt. Als ich
in den 80ern angefangen habe, konnte es nicht politisch genug zugehen. Die
Leute hatten aber irgendwann die Nase voll von drei Gitarren, Schlagzeug
und dem ewigen “Problempogo“ dieser ganzen Punkbands, “Deutschland muss
sterben, damit wir leben können“ – das ging den Leuten auf den Sack. Viel
spannender scheint in so einer ungewöhnlichen Festivalsituation doch die
Frage: Was für ein Lebensentwurf wäre möglich?
Während der Schneekönig noch weiter von Utopie, Freiheit und Idealismus
spricht, streift mein Blick das erschöpfte Publikum. Niemand trägt ein
Handy bei sich, fast nirgendwo gibt es Handyempfang. Die Zuschauer:innen
liegen im Gras über- oder nebeneinander und starren im kurzen Moment der
Festivalstille in den Himmel.
## Junge Union und der ganze Alltagsscheiß
Natürlich hat das Publikum uns und unsere Texte verstanden, als wir über
die Junge Union und Verschwörungstheoretiker:innen gesprochen
haben. Aber genau das sind doch die Probleme der Realität, vor denen es
hier in das tiefste brandenburgische Walddickicht geflohen ist und in die
es nach dem langen Festivalwochenende auch wieder zurückkehren wird. Aber
eben jetzt noch nicht.
“Kann schon sein“, sagt der Schneekönig. “Aber vor allem geht es in dies…
zwei, drei Tagen nicht darum, sich nicht unbedingt politisch äußern zu
MÜSSEN. Das Politische ist, das Festival zu veranstalten, und in diesem
Selbstverständnis entsteht der ganze Zauber.
Man ist unausgesprochen unter Gleichgesinnten: mit besserem Austausch,
besseren Gespräche und besserem Sex. Das mag eine Illusion sein, aber wir
wären doch schön dumm, uns dieser Illusion berauben zu lassen.“
Ich beginne zu verstehen und frage den Schneekönig, ob er mit uns noch
etwas trinken gehen würde. Es ist zwar erst Mittag – aber hey, so what?
Wann, wenn nicht heute?
Er schüttelt den Kopf. Nach so einem Auftritt würde er am liebsten einfach
in Ruhe nach Hause fahren. Und die Tagesthemen im Stream anschauen.
8 Sep 2021
## AUTOREN
Aron Boks
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